Illusion des fairen Lohns: Leistung allein reicht nicht aus
Von Bankern bis Müllmännern: Was bestimmt den wahren Wert unserer Arbeit? Wie unser Lohnsystem bewertet. Welche Gesellschaft wollen wir?
"Arbeit muss sich lohnen", ist ein politisches Mantra, das man diese Tage immer wieder hören kann und das gleichsam den Anspruch eines gerechtigkeitspolitischen Leitsatzes erfüllen soll.
Im Hinblick auf Bezahlung und Gerechtigkeit wird jedoch ein Aspekt oft vergessen: die Frage nach einem fairen Einkommen. Häufig wird ein faires Einkommen danach beurteilt, inwiefern für die gleiche Arbeit bei einem anderen Arbeitgeber vergleichbar bezahlt wird.
Perspektiven auf fair verdientes Einkommen
Mindestens ebenso wichtig für die Frage nach einem fairen Einkommen ist jedoch der Vergleich der Berufe untereinander. Es ist naheliegend, dass das Gefühl im Vergleich zu anderen Berufen (nicht nur im Vergleich zum Geschäftsführer) ungerecht bezahlt zu werden, zu einem sozialen Unruheherd führen kann, der gesamtgesellschaftliche Konsequenzen haben kann.
Insbesondere in Zeiten einer größeren Ungleichheit.
Leistung vs. Marktwert
"Was ist ein fairer Lohn" sei, fragt der Sozialwissenschaftler Meinhard Miegel und reflektiert über ein mögliches Entscheidungsmerkmal:
"Leistung. Wer viel leistet, soll mehr haben als einer, der wenig leistet."
Aber dieser Ansatz stößt sofort an seine Grenzen:
Wie aber misst man Leistung? Beim Akkordarbeiter oder bei einfachen Diensten mag dieses Kriterium noch sinnvoll sein. Aber dann? Was hätte der Rat der Stadt Leipzig seinem Thomaskantor Bach zahlen müssen, um seine Leistung fair zu entlohnen? Der Mann war unbezahlbar!
Oder wie soll die Leistung eines Unternehmensvorstands gemessen werden, dessen Erfolg oder Misserfolg zu großen Teilen von Umständen abhängt, auf die er nicht den geringsten Einfluss hat?
Meinhard Miegel
Miegels Antwort fällt eindeutig aus:
"Nein, der faire, weil leistungsgerechte Lohn war schon immer eine Fiktion."
Der Markt als gerechter Schiedsrichter?
Die Frage, was ein gerechtes Einkommen für eine bestimmte Tätigkeit ist, meinen einige Wirtschaftswissenschaftler leicht beantworten zu können.
Denn, weil "das Einkommen den Wert dessen widerspiegelt, was jemand zur Produktion von Waren und Dienstleistungen in der Gesellschaft beigetragen hat, erhält jeder das, was ihm verdientermaßen zusteht," ist sich zum Beispiel der Harvard-Ökonom N. Gregory Mankiw sicher, der eines der zentralen Lehrbücher der Volkswirtschaft geschrieben hat.
Der Markt regelt die Frage nach einem gerechten Einkommen, denn Angebot und Nachfrage bestimmen es. Entsprechend riet auch Friedrich Hayek "die Entlohnung, die durch den freien Markt zustande kommt, als gerecht an(zu)sehen".
Lehren aus der Geschichte: Augenöffnende Streiks
Aber ist diese grundlegende gesellschaftliche Frage tatsächlich mit einem achselzuckenden Verweis auf den Markt zu beantworten?
Ein Blick in die Geschichte eröffnet eine aufschlussreiche Perspektive, die ein anderes Licht auf die Bedeutung und Wichtigkeit der Berufe wirft und damit der Frage nach einem gerechten Einkommen.
Am 4. Mai 1970 begann in Irland nach gescheiterten Verhandlungen ein Streik. Das Besondere: Es streikten die Bankangestellten. Damit waren 85 Prozent der Finanzreserven des Landes mit von heute auf morgen blockiert.
Experten prophezeiten einen raschen Zusammenbruch der Wirtschaft und eine Explosion der Arbeitslosigkeit. Irland schien am Abgrund zu stehen. Aber es geschah nichts dergleichen.
Die Wirtschaft funktionierte weiter und wuchs sogar. Nach sechs Monaten beendeten die Bankangestellten still und leise ihren Streik. Ein irischer Journalist erklärte Jahre später: "Dass ich mich nicht an den Bankenstreik erinnern kann, liegt vor allem daran, dass er das Alltagsleben kaum beeinträchtigte."
Der Ökonom Umair Haque betont:
"Wer weiß, vielleicht brauchen die Banken ihre Kunden sehr viel mehr als umgekehrt."
Zwei Jahre zuvor hatte es in New York einen anderen Streik mit einem gänzlich anderen Resultat gegeben. Als die Verhandlungen mit dem Bürgermeister scheiterten, begannen die Müllmänner zu streiken.
Überall in der Stadt blieb der Müll liegen. Nach nur wenigen Tagen sahen sich die Behörden gezwungen, den Notstand auszurufen. Nach neun Tagen endete der Streik erfolgreich und die Stadt willigte ein, die Forderungen der Müllabfuhr zu erfüllen.
Der Wert für die Gesellschaft
Die Frage drängt sich auf: Welche Berufe haben und schaffen eigentlich wirklich Wert? Rutger Bregman, der in "Utopien für Realisten" ausführlich hierüber geschrieben hat, betont:
Die Entscheidung darüber, was wirklich Wert hat, liegt letzten Endes nicht beim Markt oder bei der Technologie, sondern bei der Gesellschaft.
Rutger Bregman
Tatsächlich ist es naheliegend und sinnvoll, bei der Beurteilung eines gerechten Einkommens weniger die Leistung zu betrachten und auch weniger den Markt bestimmen zu lassen, sondern vielmehr den geschaffenen Wert für die Gesellschaft zu berücksichtigen.
Und sollte eigentlich nicht dies genau das sein, was Mankiw mit seiner Definition meint, wenn er betont, dass "das Einkommen den Wert dessen widerspiegelt, was jemand zur Produktion von Waren und Dienstleistungen in der Gesellschaft beigetragen hat"?
Augenöffnende Studien: Wissenschaftliche Perspektiven
Die Wissenschaft hat sich tatsächlich daran gemacht, diese hochkomplexe Frage, welchen Wert ein Beruf für die Gesellschaft schöpft, zu beantworten. Dabei wird ein kritischer Blick auf die Produktivität verschiedener Berufe geworfen und untersucht, wie viel ein Arbeitender im Schnitt erhält und wie viel gesellschaftlicher Wert durch die Arbeit geschaffen beziehungsweise vernichtet wird.
Selbstverständlich sind solche hochkomplexen Studien zwangsläufig in ihrer Objektivität begrenzt und weitere Studien notwendig, die Ergebnisse sollten aber dennoch nachdenklich stimmen.
Banker in London schneiden extrem schlecht ab. Bei einem Jahresgehalt zwischen 566.000 und 11 Millionen Euro vernichten sie schätzungsweise sieben Euro an gesellschaftlichem Wert je verdientem Euro. Werbemanager haben eine noch desaströsere Bilanz. Bei einem Jahresgehalt zwischen 56.600 und 13,6 Millionen Euro zerstören sie geschätzte elf Euro an gesellschaftlichem Wert je verdientem Euro (hierunter fallen beispielsweise: Stress, Umweltverschmutzung, Überkonsum und Schulden).
Auf der unteren Stufe der Einkommensleiter sieht es anders aus. Reinigungskräfte im Krankenhaus erschaffen mehr als zehn Euro an gesellschaftlichem Wert je verdientem Euro. Ein Recycling-Arbeiter erzeugt schätzungsweise zwischen sieben und 9,50 Euro an gesellschaftlichem Wert je verdientem Euro.
Eine andere Studie kommt zu vergleichbaren, aber weniger extremen Ergebnissen. David Graeber fasste diese zusammen:
Die meisten der gesellschaftlich wertvollsten Arbeitskräfte, deren Beiträge man berechnen kann, sind Medizinwissenschaftler, die für jeden Dollar, den man ihnen bezahlt, einen Gesamtwert von neun Dollar zur Gesellschaft beitragen. Am wenigsten wertvoll waren die Arbeitskräfte im Finanzsektor: Sie entziehen der Gesellschaft für jeden Dollar ihrer Bezahlung unter dem Strich einen Wert von 1,80 US-Dollar.
David Graeber
Augenöffnende Lehre aus dem Lockdown
Aber man braucht nicht einmal komplexe Studien zu wälzen, um die Frage nach einem gerechten Einkommen genauer beantworten zu können.
Der Lockdown dürfte ein Lehrbeispiel gewesen sein, wie schnell eine Gesellschaft zusammenbrechen kann, wenn Menschen wichtige, sogenannte systemrelevante Berufe nicht mehr ausführen.
Täglich standen die Menschen um 20 Uhr am Fenster, um "Helden und Heldinnen des Alltags" (Hubertus Heil) zu ehren. Der SWR kommentierte:
Die Forderung nach gerechter Bezahlung fand auf einmal breite Unterstützung. Denn während die Pandemie die Wirtschaft größtenteils lahm legte, waren es gerade die schlecht bezahlten Beschäftigten, die das System weiter am Laufen hielten: Supermarkt-Kassiererinnen, Pflegekräfte, Paket-Zusteller.
Doch mit der Rückkehr in den Alltag ist die Unterstützung für eine bessere Bezahlung schnell wieder abgeebbt. Die Frage, warum gerade soziale Berufe so wenig finanzielle Anerkennung bekommen, bleibt hingegen.
SWR
Ein weiteres gravierendes Beispiel für einen zweifelsfrei für die Gesellschaft besonders wichtigen Bereich: der soziale Sektor. Die meisten Beschäftigten hier arbeiten in der Kinderbetreuung und -erziehung, Altenpflege, Gesundheits- und Krankenpflege und Sozialarbeit sowie Sozialpädagogik und Sonderpädagogik.
Laut einer Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) und des Deutschen Roten Kreuzes verdienen Beschäftigte im sozialen Sektor aber 17 Prozent weniger als in vergleichbaren Sektoren. Die Studienautoren kommentieren:
"Plakativ formuliert werden Vollzeittätigkeiten im sozialen Sektor monetär geringer wertgeschätzt als in anderen Branchen."
Welche Gesellschaft wollen wir?
Klaus Schwab, Gründer und geschäftsführender Vorsitzender des Weltwirtschaftsforums, dem man eigentlich kaum kapitalismuskritische Ansichten vorwerfen kann, schreibt während der Corona-Krise kritisch:
Wird die Gesellschaft in Zukunft akzeptieren, dass ein Star-Hedgefonds-Manager, der sich auf Leerverkäufe spezialisiert hat (dessen Beitrag zum wirtschaftlichen und sozialen Wohlergehen bestenfalls zweifelhaft ist), ein Einkommen in Millionenhöhe pro Jahr erhalten kann, während eine Krankenschwester (deren Beitrag zum sozialen Wohlergehen unbestreitbar ist) einen verschwindend geringen Bruchteil dieses Betrags verdient?
In einem derart optimistischen Szenario, in dem wir zunehmend erkennen, dass viele Arbeitnehmer in schlecht bezahlten und unsicheren Arbeitsverhältnissen eine wesentliche Rolle für unser kollektives Wohlergehen spielen, würde sich die Politik anpassen, um sowohl ihre Arbeitsbedingungen als auch ihre Entlohnung zu verbessern.
Bessere Löhne würden folgen, auch wenn sie mit geringeren Gewinnen für die Unternehmen oder höheren Preisen einhergehen; es wird einen starken sozialen und politischen Druck geben, unsichere Verträge und ausbeuterische Schlupflöcher durch feste Stellen und bessere Ausbildung zu ersetzen. Die Ungleichheiten könnten also abnehmen.
Klaus Schwab
Untersuchungen im sozialen Sektor kommen zu dem Ergebnis, dass eine bessere Bezahlung der wichtigste Hebel sei.
Tatsächlich empfinden die Befragten im sozialen Sektor die Bezahlung als nicht angemessen, als unfair.
Ob indes Klaus Schwab mit seiner abschließenden Einschätzung recht behalten soll, wird die Zukunft zeigen:
Aber, wenn man sich an der Geschichte orientiert, wird sich dieses optimistische Szenario ohne massive soziale Unruhen wahrscheinlich nicht durchsetzen.
Joß Steinke, DRK-Bereichsleiter und Mitautor der bereits zitierten Studie, mahnt: "Die zentrale Frage ist: Wie viel ist der soziale Sektor der Gesellschaft wert? Oder anders gefragt: Was darf er kosten?"
Quellen:
Rutger Bregman: Utopien für Realisten
David Graeber: Bullshit-Jobs
Klaus Schwab: Covid-19: Der große Umbruch