Das große Tauen
Wissenschaftler haben die Eisschmelze auf der Erde untersucht und schlagen Alarm: Die Verlustrate hat sich in den letzten 25 Jahren verdoppelt
Es ist die umfassendste Massebilanz, die Wissenschaftler bislang vorgelegt haben: Forscher der University of Leeds haben Vor-Ort-Messreihen von mehr als 215.0000 Berggletschern, den polaren Eiskappen und den antarktischen Schelfeisen der Jahre 1994 bis 2017 ausgewertet und zudem mit Satellitendaten kombiniert.
Das Ergebnis veröffentlichten sie in der aktuellen Ausgabe des Fachblatts The Cryosphere Demnach gingen auf der Erde zwischen den Jahren 1994 bis 2017 insgesamt 28 Billionen Tonnen Eis verloren. Studienleiter Thomas Slater: "Der Eisverlust folgt den schlimmsten Szenarien, die der Weltklimarat IPCC aufgezeigt hat."
Zum Beispiel auf Grönland: "Jüngste Studien schätzen, dass die jährliche Eisschmelze im Jahr 2019 allein hier rund 550 Kubikkilometer betrug", erklärt Boris Koch, chemischer Ozeanograph am Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung in Bremerhaven. Koch zeigt mit einem anschaulichen Vergleich, wie gigantisch diese Menge verlorenen Eises ist: "Wenn sie von Hamburg nach Stuttgart fahren – Luftlinie rund 550 Kilometer – und sich einen Eisblock vorstellen, der auf dieser Strecke 100 Meter breit ist - so lang wie ein Fußballfeld - dann wäre dieser Block zehn Kilometer hoch." So hoch, wie Flugzeuge fliegen.
Das grönländische Gletschereis gilt als Kippelement, also als ein sich selbst verstärkender Mechanismus: Vielerorts ist der Eispanzer 3.100 Meter hoch, in den Höhenlagen ist es deutlich kühler als weiter unten. "Wenn die globale Temperatur über einen kritischen Punkt hinaus steigt, beginnen die obersten Schichten zu schmelzen", erläutert Boris Koch. Die Oberkante sinkt dann in immer wärmere Luftschichten ab, was das Tauen beschleunigt.
Die Eisschmelze sehen, hören, riechen
Koch hat als einer von wenigen Experten einen exklusiven Einblick in das große Schmelzen. 2016 reiste er mit dem Expeditionsschiff Maria S. Merian an die Ostküste Grönlands. Um das Tauen zu bemerken, waren keine sensiblen Messgeräte, keine aufwändigen Experimente notwendig.
"Wir konnten die Gletscherschmelze sehen, hören, ja sogar riechen", sagt Koch. Über die Fjordwände seien Flüsse voller Schmelzwasser ins Tal gerauscht, die tauenden Eisberge knackten, und an manchen Stellen im Fjord war der typische Meeresgeruch verschwunden. Schmelzwasser ist Süßwasser.
550 Kubikkilometer Eisverlust binnen eines Jahres: Eine Studie der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich ETH hilft, ein Gefühl dafür zu bekommen, wie gigantisch diese Menge ist. Die Forscher untersuchten 4.000 Gletscher in den Alpen: Im Jahr 2017 summierten sich deren Eismasse auf ein Volumen von rund 100 Kubikkilometern - nicht mal ein Sechstel von dem, was allein 2019 auf Grönland wegschmolz.
Und dieses Schmelzen wiederholt sich Jahr für Jahr. Was auf Grönland verschwindet, schwappt irgendwann auch an unsere Küsten. Prof. Boris Koch: "Taut der grönländische Eispanzer komplett ab, steigt allein dadurch der Meeresspiegel um sieben Meter an."
Natürlich bleiben auch die Gebirgsgletscher nicht vom großen Schmelzen verschont: Weil sie mit Verzögerungen auf die Klimaveränderungen reagieren, ist bereits heute klar, dass die Alpengletscher bis 2050 rund die Hälfte ihres Volumens einbüßen werden.
"Nach 2050 wird ihre weitere Entwicklung stark davon abhängen, wie sich das Klima verändert", sagt Harry Zekollari, Professor für Glaziologie an der ETH. Würde die Welt jetzt starken Klimaschutz betreiben, blieben Ende des Jahrhunderts immerhin noch 37 Kubikkilometer Gletschereis übrig. Läuft alles so weiter wie derzeit, ist im Jahr 2100 praktisch kein Gletscher in den Alpen mehr übrig.
Ozeane nehmen Energie von Milliarden Hiroshima-Bomben auf
Anden, Rocky Mountains, Altai, Pamir oder Himalaya - zuletzt gingen in den Hochgebirgen jährlich rund 335 Gigatonnen Eis verloren. Um noch einmal das Bild von Polarforscher Koch zu nutzen: 335 Milliarden Tonnen - das entspricht einem Eisblock der Strecke Düsseldorf Karlsruhe, hundert Meter breit und zehn Kilometer hoch. Und zwar jedes Jahr.
Dazu kommt die Antarktis. "Der wesentliche Unterschied zum Schmelzen auf Grönland ist der Rückgang von Schelfeis", sagt Ingo Sasgen, Glaziologe am Alfred-Wegener-Institut. Schelfeis schwimmt auf dem Meer und schützt so die Gletscher der Antarktis, in Grönland gibt es diesen Schutz nicht. "In der Antarktis sind nicht die Lufttemperaturen Ursprung des Schmelzens, sondern die Wassertemperaturen", so Sasgen.
Der Ozean hat große Teile jener Energie aufgenommen, die der menschgemachte Treibhauseffekt auf der Erde hält. Nach Berechnungen des Atmosphärenphysikers Lijing Cheng nahmen die Weltmeere in den letzte 25 Jahren die unvorstellbare Menge von 228 Zettajoule auf – die Energie von 3,6 Milliarden Hiroshima-Atombomben. Das entspricht etwa vier Hiroshima-Bomben pro Sekunde. In der Westantarktis haben Winde vergleichsweise warmes Tiefenwasser an den Eisrand gebracht.
"Das wärmere Wasser setzt dem Schelfeis zu", erläutert Sasgen. Wird dieser Schelfeisgürtel zerstört, fehlen Rückhaltekräfte und das Eis der antarktischen Inlandsgletscher fließt immer schneller nach und die Gletscher ziehen sich zurück. Der Prozess hat in der Westantarktis bereits begonnen, auch dies ist ein Kippelement, sagt der Glaziologe: "Einmal in Gang gesetzt, lässt sich der Masseverlust nicht mehr stoppen".
Selbst die lange als stabil geltende Ostantarktis verliert mittlerweile Eis. Würde allein der Denman-Gletscher tauen, stiege der weltweite Meeresspiegel um weitere anderthalb Meter.
Dramatisch ist, dass das Schmelzen immer schneller wird: Gegenüber den 1990er Jahren – das zeigt die nun vorgelegte Eisbilanz der Forscher aus Leeds – hat sich der jährliche Eisverlust um 57 Prozent erhöht. Dabei geht das meiste Eis durch Tauen in der wärmeren Atmosphäre zurück – 68 Prozent des Schmelzens. Aber bereits 32 Prozent des Eisverlustes werden bereits durch ein Abschmelzen von unten verursacht.
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