Das große Übel
"Anarchisten", "Brandstifter", "Schikanierer": Obama will sich nicht erpressen lassen, aber die Republikaner sehen die drohende US-Schuldengrenze erneut als Chance, "Obamacare" trockenzulegen.
Im Wahlkampf auf Bundesstaaten-Ebene brüsten sich konservative Kandidaten, die Reform des Gesundheitssystems auf den "Müllhaufen der Geschichte" zu verbannen. Und außerhalb der politischen Arena läuft eine "creepy" Videokampagne gegen das Gesetz. Sie wird von den Koch-Brüdern finanziert.
Jedes Jahr aufs Neue: Kaum erreichen die USA die Schuldenobergrenze, rüsten die Republikaner auf: Konfrontation statt Kompromisse mit den Demokraten. Diesmal allerdings legt die Partei die Latte besonders hoch. Sie stellen das Verhindern des Staatsbankrotts am 1. Oktober in direkten Zusammenhang mit der Abschaffung von "Obamacare". Man werde "alles unternehmen, um das missglückte Gesundheitsführsorgegesetz des Präsidenten zu widerrufen", versicherte der republikanische Vorsitzende des Repräsentantenhauses John Boehner vergangene Woche. Man müsse amerikanische Familien vor diesem Gesetz schützen.
Der "Patient Protection and Affordable Care Act" ist den Republikaner seit Einführung ein Dorn im Auge. Obamas legislative Großreform des Gesundheitssystems regelt den Zugang zur Krankenversicherung, indem jeder US-Bürger dazu verpflichtet wird, eine Police abzuschließen. Es weitet es Hilfsprogramme für einkommensschwache Personen aus und belegt Arbeitgeber mit Strafzahlungen, falls sie ihre Arbeiter nicht versichern. Aus Sicht der Republikaner eine zu teure und wirtschaftsfeindliche Reform und überhaupt staatliche Bevormundung.
Bisher sind all ihre Bemühungen, darunter eine Klage vor dem Supreme Court, erfolglos geblieben für das seit 2010 langsam in Kraft tretende Gesetz. Und ab 1. Oktober kommt ein weiteres Kernstück dazu: Wer bisher ohne Versicherung war, wenig verdient oder unter der Armutsgrenze liegt, kann dann bezuschusste Tarife kaufen. Die dafür eingerichtete Regierungs-Webseite healthcare.gov bietet verschiedene Angebote privater Anbieter an. Die GOP sieht die Schuldenkrise als letztes Druckmittel das schleichende Voranschreiten zu verhindern.
Ihren dazugehörigen Plan verabschiedete das von den Republikanern geführte Repräsentantenhaus am Sonntag mit einer Mehrheit von 230 zu 189 Stimmen. Der "Defund Obamacare Act, H.R. 26822" erlaubt auf der einen Seite eine weitere Finanzierung des Staatsapparates bis zum 15. Dezember dieses Jahres. Gleichzeitig aber schließt er die permanente De-Finanzierung von "Obamacare" ein. Die Demokraten im Senat haben angekündigt, dagegen vor zu gehen. Etwas anderes bleibt freilich auch nicht übrig bei den Entscheidungsmöglichkeiten: Weiter Schulden machen, aber kein weiteres Geld für den Affordable Care Act - oder überhaupt kein Geld mehr.
Erpressung
Während Harry Reid, demokratischer Vorsitzender des Senats, den Vorschlag schlicht als "absurd" abtat und seine politischen Konkurrenten kurzerhand zu "Anarchisten" herabstufte, meldete sich Barack Obama zu Wort und nannte den Zustand beim Namen: Er beschuldigte die Republikaner der Erpressung:
Niemals zuvor in der Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika wurde die Schuldenobergrenze oder die Gefahr, die Schuldengrenze nicht anzuheben, benutzt, um den Präsidenten zu erpressen . . . und Probleme zu erzwingen, die nichts mit dem Haushalt und nichts mit den Schulden zu tun haben.
Den Republikanern gehe es nicht um die Menschen in diesem Land, beanstandete Obama auf einer weiteren Veranstaltung, sondern lediglich um ihre politische Ideologie und darum, "mich zu schikanieren". Das Land hätte Rechnungen zu bezahlen und er würde daher nicht um die Glaubwürdigkeit der USA schachern: "Das ist keine Bananen-Republik." Man solle doch endlich die Schuldengrenze anheben und weiterarbeiten.
Wie tief die Abneigung der Republikaner gegen die Gesundheitsreform sitzt, wird deutlich bei einem Blick auf die gegenwärtigen Wahlen im US-Bundesstaat Alabama. Dort kämpfen neun GOP-Kandidaten um einen Sitz im US-Kongress. Im Fokus ihrer Kampagnen stehen nicht etwa Fragen und Lösungen zu im Bundesstaat umstrittenen Einwanderungsgesetzen, es ist "Obamacare". Ein Kandidat verleiht seiner Abscheu über das Gesetz Nachdruck, indem er in einem Werbespot eine Ausgabe kurzerhand in die Mülltonne schmeißt: "Weil wir nicht wieder anfangen, mehr Arbeitsplätze zu schaffen, bis diese tausende Seiten umfassende wirtschaftliche Vernichtung auf den Müllhaufen der Geschichte verbannt wird." Das Motto des Videos: "Fighting for our Values".
Es ist im Einklang der anderen acht Kandidaten. Nur in der Schärfe der Forderung unterscheidet man sich. Ob sie durch die Abschaffung der Reform die Menschen vor "Missbrauch" schützen wollen oder das "verfassungswidrige" Gesetz am liebsten "geköpft" sehen würden. Auch wer gegenwärtig nicht in Alabama wohnt und anderes im Kopf hat als Politik, ist nicht gefeit gegen die Anti-Obamacare-Propaganda.
"Creepy Uncle Sam"
Aktuelles Beispiel auf Grassroots-Ebene ist die Werbe-Kampagne der libertären Generation Opportunity ("GenOpp"). Die Jugend-Organisation mit dem Beisatz "Free Thinking, Liberty-loving" ist laut Politico zum Teil von den Koch-Brüdern finanziert (Koch World reboots). Ihr Ziel ist, Jugendliche zwischen 18 und 29 Jahren darauf aufmerksam machen, dass es Alternativen zur "teuren" Obamacare gäbe, nämlich gegen eine niedrige Strafzahlung aus ihr auszusteigen ("OptOut of Obamacare").
Mit einer 750.000 US-Dollar Kriegskasse will die Organisation an Universitäten durch Videos, Football-Events und Musik-Festivals ihre Botschaft verbreiten, zitiert die New York Times den Präsident von GenOpp, Evan Feinberg.
Vor allem die Videos der Organisation ziehen Aufmerksamkeit auf sich. Sie sind auf Männer und Frauen abgestimmt die sich bereits für Obamacare eingeschrieben haben. Die L.A. Times beschreibt, die Clips als "dynamite ads" - wenn es einem um Schockwirkung und digitale "Viralität" gehe. In den Clips stellen sich Studenten einer gynäkologischen Untersuchung bzw. einer Prostatauntersuchung. "Dann lass uns mal nachschauen", sagt die behandelnde Ärztin, und verlässt darauf das Behandlungszimmer. Kaum ist sie draußen, ertönt gruselige Musik, dann taucht eine groteske "Uncle Sam"-Puppe zwischen den Beinen oder hinter den Patienten auf ("Opt Out - The Exam"; für Männer: "The Glove"). Beide schließen mit der Warnung: "Lass die Regierung nicht Doktor spielen." Man solle sich lieber für die Opt-Out-Variante entscheiden.
"Die Videos sind der Höhepunkt der Scheinheiligkeit", sagte ein Vertreter der Organisation "Planned Parenthood Federation of America" gegenüber MSNBC. Sie zielten einzig darauf ab, "Fehlinformationen zu verbreiten und Menschen vom Zugang hochwertiger und bezahlbarer Gesundheitsvorsorge abzuhalten". Eine Journalistin des Wochenmagazins National Journal empfand die Videos via Twitter gar als "outrageously rapey", ungeheuer vergewaltigend. Feinberg ließ derweil verlauten, dass er sich "sehr beleidigt" fühle von allen, die behaupten würden, das die "creepy Uncle Sam videos" seiner Organisation etwas anderes aussagten, als dass die Regierung Doktor spiele. Er hätte bereits eine Menge Feedback zu den Videos bekommen, so Feinberg in der New York Times, und man stelle sich vor: "Eine Menge Leute planen, sich zu Halloween als Creepy Uncle Sam zu kostümieren."
Mängel der Gesundheitsreform
Die Antwort beleuchtet, wie tief im Ringen um die politische Linie des Landes einige bereits im Nebel ideologischer Grundsätze irrlichtern. Obama auf der anderen Seite will sich anders als vor zwei Jahren diesmal zwar keine Zugeständnisse im Budgetgezanke abringen lassen, was nicht bedeutet, dass er grundsätzlich auf der richtigen Seite steht. Seine Gesundheitsreform weist nach wie vor schwerwiegende Mängel auf. So ist ein Resultat der erwähnten drohenden Strafzahlung für Arbeitnehmer, dass diese ihren Teilzeitarbeitern einfach weniger Stunden anbieten, um die neue Versicherungspflicht zu umgehen.
Betroffen sind jene, die sowieso schon auf keinem dicken finanziellen Polster sitzen wie Studenten und ältere Menschen. Das "Employer Mandate" könnte außerdem dazu führen, schreibt die Washington Post, dass Arbeitgeber weniger Menschen der unteren und mittleren Einkommensschichten einstellen, weil sie für die Versicherungs-Bezuschussung zahlen müssten - anders als bei Personen, die bereits einigermaßen gut verdienen.
Obamacare wäre "ein nobles Ziel", analysiert Josh Kraushaar vom National Journal. Doch um die nötige Unterstützung für das Projekt zu bekommen, sei eben einiges unvollkommen geblieben. Auch Obama trifft der Fluch der Politik: besser halbgar als gar nichts auftischen. Kritik wäre demnach durchaus berechtigt.
Leider erinnert der "Vorschlag" der Republikaner mehr an das Verhaltensmuster eines machtbesessenen Zynikers, für den ein Kompromiss gleichbedeutend mit Niederlage ist, als an verantwortungsbewusste Politik. Dass es Vertreter dieser Natur nach wie vor gibt und sie irgendwann wieder die Oberhand gewinnen, darauf muss man hoffen. Gegenwärtig freilich sieht es nicht so aus.
"This place is a mess", sagte die demokratische Minderheitsführerin Nancy Pelosi treffend. Sie sagte es in einer Rede vor dem Repräsentantenhaus und in Bezug auf die De-Finanzierungspläne der Republikaner von Obamacare. Die Beschreibung würde aber auch der allgemeinen politischen Situation in Washington D.C. gut zu Gesicht stehen.