Das lernende Bauhaus
- Das lernende Bauhaus
- Ein Stil aus Bruch und Kontinuität
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Indigene Kunst verhalf dem Bauhaus zur Entdeckung seiner Modernität
374 Jahre nach seiner Verspeisung war der portugiesische Erzbischof Sardinha immer noch nicht verdaut. Im Jahr 1554 hatten ihn die brasilianischen Tupi-Indianer sich einverleibt. Das war 1928 der Anlass zum Aufruf Oswald de Andrades, den Kannibalismus als freundlichen Akt zu Ende zu bringen. In seinem "Anthropophagischen Manifest" drehte er die moralischen Zuschreibungen um. Die Einverleibung ist Vernichtung, um etwas Eigenes daraus zu machen. Der Bischof musste daran glauben, weil er stellvertretend für die europäische Kultur stand, die Rohmaterial einer Erneuerung ist.
Andrades Parabel ruft zur Schaffung eines neuen Selbstbewusstseins der brasilianischen Kunstschaffenden, zu einer eigenständigen Moderne auf, um sich von den kolonialen Fesseln zu befreien, deren Einschnitte noch 100 Jahre nach der Unabhängigkeit sichtbar waren. Die brasilianische Kunst war bis dato überwiegend mimetisch, angepasst an den westlichen Kulturimperialismus und seine Ausbildungsnormen.
Wies die europäische Moderne, angeführt durch das Bauhaus, den Weg aus der Mimesis? Oder war das ein erneuter Kulturimperialismus, diesmal als Export aus Beton und Stahl? Wenn die Moderne den verschnörkelten Eklektizismus Europas hinwegzufegen suchte, wenn Adolf Loos Ornamente als Verbrechen abkanzelte, wie ging das Bauhaus dann mit den verschütteten oder versprengten Zeugnissen der vorkolonialen Zeiten um? Die internationalen Verflechtungen des Bauhauses umfassten, noch einmal beschleunigt durch die Emigration nach 1933, alle Kontinente, und die Frage drängt sich auf, wie diese exportierte Bauhaus-Kunst sich zum weltweiten Prozess der Dekolonialisierung stellte.
Der 1936 geborene marokkanische Künstler Mohamed Melehi, der an der Kunsthochschule von Casablanca lehrte, schreibt: Das Bauhaus hat "uns geholfen, ein Bewusstsein für unser eigenes ikonografisches Erbe zu erlangen."1 Die gründlichen Recherchen, die Marion von Osten und Grant Watson für die Ausstellung "bauhaus imaginista" betrieben haben, die noch bis zum 10. Juni diesen Jahres im Berliner "Haus der Kulturen der Welt"(HKW) läuft, heben ausgerechnet das Ornament als Bindeglied zwischen der strengen Geometrie der westlichen Moderne und den Zeugnissen indigener Handwerkskunst hervor.
Das lernende Bauhaus (8 Bilder)
Den "Aufhänger" bildet in der Ausstellung eine Tuschezeichnung des Bauhausmeisters Paul Klee, die das geometrische Muster eines maghrebinischen Teppichs aufgreift. Auf der Suche nach einer abstrakte Bildsprache, die universal gültig ist, wurde Klee bei vormodernen Artefakten fündig. In weiteren Zeichnungen überzieht er das ganze Blatt mit einer Struktur paralleler Linien, womit er die Nähe zu Textilentwürfen suggeriert. Das Liniensystem ist den Kettfäden des Webstuhls nachempfunden. Daraus lässt Klee ornamentelle Gebilde hervortreten.
Die Muster sind verspielt. Keines wiederholt sich; die Gliederung der Fläche wird ständig variiert und durch neue Elemente anders rhythmisiert. Die Muster verdichten sich gelegentlich, spontan sozusagen, zu figürlichen oder skulptural erscheinenden Gestalten, meist Miniaturen. Klees Zeichnungen stehen für die Anverwandlung von Webkunst und Architektur.
Diese "bildnerischen Webarchitekturen" sind einerseits geometrisch in der Fläche gebunden und andererseits höchst unregelmäßig, aufstrebend. Die Variationen des seriellen Musters stehen für Individualität. Der Dualismus aus Allgemeinem und Individuellem ist zugleich das Kredo des Neuen Bauens zumindest für den Siedlungsbau. Klee synthetisierte Stadtarchitektur und Bildarchitektur.2 "Umsteigestationen von Malerei zu Architektur" nannte der russische Konstruktivist El Lissitzky dieses Verfahren, das ebenso für die holländische Künstlergruppe De Stijl und für die Moskauer Kunsthochschule WchUTEMAS kennzeichnend war und am Bauhaus auch die Lehrinhalte bestimmte.
Neues Sehen
Das Ornament ist, seinen Ursprüngen enthoben und abstrahiert, in der Moderne angekommen, die ihm zunächst feindlich gesonnen war. Die überlieferte Herstellungsweise der ornamentellen Muster ist handwerklich. Auf solche Traditionen berief sich Walter Gropius ausdrücklich zur Gründung des Bauhauses 1919. "Kunst und Handwerk ist eine neue Einheit." Den "Werkbund"-Gedanken führte Gropius bis auf die Gotik und ihre Bauhütten zurück.
Diese konservative Einstellung, die vom Wunsch nach der Aufhebung der Entfremdung in der kapitalistischen Gesellschaft geprägt war, veranlasste das Bauhaus, in Kontakt mit Kunsthochschulen in aller Welt - vor allem in agrarischen, an der Schwelle zur Industrialisierung stehenden Ländern - zu treten, die gegen die traditionelle, westlich-akademische Ausbildung die Wiederbelebung des indigenen Kunsthandwerks betrieben. Bereits 1922 stellte das Bauhaus in Kalkutta aus.
Die Trennung zwischen bildender und angewandter Kunst sollte aufgehoben werden. Das Vorurteil des "Kunstgewerblichen" gegenüber jenen regionalen Kunstobjekten aus Hand- und Kopfarbeit wich einer genaueren Betrachtung ihrer Rezeptionsgeschichte. Kunstgewerblich erscheinen jene Gegenstände, insofern sie ihrem Kontext entrissen, nach Europa verschifft und kommerzialisiert oder musealisiert worden sind. "Provenienzforschung" erhält hier eine tiefergehende Bedeutung. Eine Moderne, die die regionalen Bezüge verkennt, wirkt anmaßend. Das Bauhaus, das in die Welt ausschwärmte, musste sich dieser Erkenntnis anbequemen und veränderte sich darüber. Es entdeckte seine eigene Vorgeschichte, wie sich noch zeigen wird.
Die expressionistische Emphase, mit der Gropius 1919 das Gesamtkunstwerk aus allen Gewerken eingefordert hatte, bremste er selbst 1923 aus. Nun sind es Kunst und Technik, die die neue Einheit bilden. Mit der Hinwendung zu Entwurfsgestaltungen für die Industrie und zu serieller Fertigung begann die realistische Phase des Bauhauses. Die Bauhausidee strahlte nicht nur in den Raum, sondern auch in die Zeit nach der Schließung 1933 in Berlin aus. Am bekanntesten ist das "New Bauhaus" bzw. die School of Design in Chicago, die von László Moholy-Nagy geleitet wurde. Gropius hatte das 1937 vermittelt. Die Nachfolge des Bauhauses in Deutschland reklamierte die Ulmer Hochschule für Gestaltung (1953-1968) für sich.
Die These von Marshall MacLuhan: "The medium ist the message" hielt nach dem Krieg auch in die Kunst Einzug, die sich auf und in alle audiovisuellen Medien ausbreitete, den musealen Raum sprengte und ins Offene trieb. Auch dafür gibt es einen Prototyp im Bauhaus, den die Ausstellung im HKW herausstellt: die Reflektorischen Farblichtspiele, die der Student Kurt Schwerdtfeger 1922 für das Laternenfest konstruierte.
Schwerdtfegers Apparatur war ein kinetisches Lichtkunstspiel, worin sich mittels wechselnder Schablonen abstrakte geometrische Formen von farbigem Licht zu musikalischer Begleitung auf einer Projektionsfläche bewegen. Es war eine Choreographie aus Farben und Formen. Die einander überlappenden und voneinander lösenden Farbsegmente schaffen eine Illusion von Tiefe. Der plastische Eindruck suggeriert auch hier den Umstieg in Architektur. Vom anderen Ende näherte sich Bruno Taut dem Spiel an, indem er die Wände seiner Häuser farbig gegeneinander absetzte. Es ist ein Wechselspiel von Bildfläche, Grundfläche (des Hauses), Wandfläche und Deckenfläche. Das war ein Motiv für die Bevorzugung von Flachdächern.
Einen ähnlichen Mechanismus hatte Moholy-Nagy mit seinem Licht-Raum-Modulator konstruiert. Der Titel seines letzten Buches, "Sehen in Bewegung", löst den Sinn des Apparates ein. Das in Bewegung gesetzte Sehen setzt seinerseits den Raum in Bewegung. Der Betrachter ist in die Bewegung einbezogen.
Die audiovisuellen Experimente, die keine lineare Geschichte mehr erzählen, wurden nach dem Zweiten Weltkrieg weitergeführt. Die Bilder wurden zu rasenden Sequenzen und die Töne elektronisch. Das Stroboskop zerhackte sowohl Gegenstände als auch Menschen. Videokunst, Performances und Pop-Art-Experimente wie die von Andy Warhol haben sich aus den kleinen Anfängen eines für das Laternenfest gebastelten Farblichtspiels entwickelt.
Die experimentellen Ton- und Lichtmaschinen wurden aber auch wieder kleiner. Die Bauhaus-Expertin Muriel Cooper vom MIT arbeitete in den Neunziger Jahren an der Datenvisualisierung. Sie sprach von "informationellen Landschaften", besser bekannt als Interface-Design. Die physischen Objekte werden aufgelöst. Moholy-Nagys "Sehen in Bewegung" ist ins digitale Zeitalter übersetzt. Die Gestaltungsansätze und Typographien der Moderne haben sich als empfänglich für kybernetische graphische Prinzipien erwiesen.