Das "neue digitale Proletariat" und ein altes Machtverhältnis
DGB-Chef Reiner Hoffmann warnt zum "Tag der Arbeit" vor Risiken der Digitalisierung. Ver.di will in diesem "Superwahljahr" verstärkt mit Fridays for Future und dem Unteilbar-Bündnis kooperieren
Der morgige 1. Mai ist schon der zweite "Tag der Arbeit", der unter den Vorzeichen der Corona-Pandemie begangen wird. Unter dem Motto "Solidarität ist Zukunft" und nach Angaben des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) "digital, kreativ aber mit Abstand". Das Programm kann via Facebook und Youtube im Livestream verfolgt werden.
Der DGB-Vorsitzende Reiner Hoffmann hat zu diesem Anlass vor den Risiken der Digitalisierung im aktuellen Kräfteverhältnis gewarnt und auf ungesicherte Arbeitsverhältnisse im boomenden Online-Versandhandel hingewiesen. Insgesamt habe die Pandemie zu einer Beschleunigung der Digitalisierung beigetragen. "Da droht möglicherweise ein neues digitales Proletariat", sagte er an diesem Freitag im Gespräch mit dem Deutschlandfunk.
Orhan Akman, Fachgruppenleiter der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di für den Einzel- und Versandhandel, kennt diese Arbeitsverhältnisse aus nächster Nähe. "Es ist gut, dass der DGB-Vorsitzende den Begriff Proletariat aufgreift, allerdings kann ich seine Warnung vor einem 'digitalen Proletariat' nicht nachvollziehen", sagte Akman am Freitag gegenüber Telepolis. "Er legt nahe, dass es heute kein Proletariat, keine Arbeiterklasse, mehr gäbe. Dabei ist der Widerspruch zwischen Arbeit und Kapital die zentrale Auseinandersetzung im Kapitalismus, unter anderem im Onlinehandel deutlich sichtbar", so Akman.
"Das 'digitale Proletariat' ist längst eine Realität, relativ neu sind die sich verändernden Anforderungen und Tätigkeiten, mit denen sich die lohnabhängig Beschäftigten konfrontiert sehen."
Die Systemfrage steht im Raum
Gerade der Online-Handelsgigant Amazon ist dafür berüchtigt für krank machende Arbeitsbedingungen und Kontrollen - die robotergestützten Abläufe in den Lager- und Verteilzentren machen den Alltag der Beschäftigten nicht leichter, sondern schwerer, berichten aktuell oder ehemals Betroffene sowie Gewerkschaften. Ob neue technische Möglichkeiten für oder gegen die arbeitende Bevölkerung genutzt werden, hängt aber laut Akman entscheidend vom Wirtschaftssystem ab - um Technikfeindlichkeit geht es dabei nicht.
"Als Gewerkschaft treten wir dafür ein, dass neue Technologien, Künstliche Intelligenz, digitale Prozesse etc. die Arbeit besser, leichter und gesünder machen. Digitalisierung darf nicht zur verschärften Ausbeutung der Beschäftigten, zur fortschreitenden Entfremdung der Arbeit und zur Zunahme von Stress und Hetze führen", betont er. "Wenn Beschäftigte nicht einmal mehr im Schlaf richtig abschalten können, weil Arbeitsprozesse bei Amazon und Co. immer enger getaktet werden und keine Zeit für Verschnaufpausen und den Austausch mit Kolleginnen und Kollegen bleibt, ist das nicht hinnehmbar."
Gerade bei Amazon gehe es nicht nur um die Frage der Entlohnung, sondern auch um gute und gesunde Arbeitsbedingungen und den sozialen Charakter der Arbeit im Kontext digitaler Prozesse - um die Autonomie und "im weitesten Sinne die Freiräume für die Beschäftigten am Arbeitsplatz", so Akman.
Um Zukunftsfragen wie Digitalisierung und Wege aus der Umweltkrise gemeinsam anzugehen, will ver.di im laufenden "Superwahljahr" will ver.di verstärkt mit der Jugendbewegung Fridays for Future und dem Bündnis #Unteilbar kooperieren. "Die Corona-Pandemie hat gezeigt, wie verletzlich die Strukturen unseres Zusammenlebens sind und wie sehr wir inzwischen über alle Grenzen hinweg voneinander abhängen", heißt es in einem gemeinsamen Dialogpapier.
Darin ist die Rede von einer "auf Effizienz und Profite getrimmten Wirtschaft", deren Mängel durch die Pandemie offengelegt worden seien. Ohne das Wort Kapitalismus zu verwenden, wird auch hier die Systemfrage aufgeworfen - oder zumindest angerissen. "Wir treten zusammen ein für einen sozial-ökologischen Umbau und lassen uns dabei weder gegeneinander ausspielen, noch spalten", so die Beteiligten. Ziel sei eine "solidarische und nachhaltig lebenswerte Gesellschaft", in der alle selbstbestimmt und frei von Angst leben könnten.