Das sogenannte Schöne
Max Bense, Informationsästhetik und naturwissenschaftliche Erklärung der Kunst
Es ist schon lange her: Im denkwürdigen Jahr 1968 veranstaltete die Technische Universität Berlin gemeinsam mit dem MIT, dem weltberühmten Massachusetts Institute of Technology, einen Kongreß zum Thema "Der Computer in der Universität". Als ich mich an einen der amerikanischen Informatiker wandte, um ihn auf einen interessanten Vortrag über Kunsttheorie aufmerksam zu machen, zeigte er kein besonderes Interesse und sagte sinngemäß: "Wir haben auch Künstler am MIT, und wir erwarten, daß sie viele verrückte Ideen umsetzen. Die Kunst soll ein Gegensatz zu unserer ernsthaften wissenschaftlichen und technischen Arbeit sein - warum müßt ihr Deutschen nur gleich eine Theorie nachschieben!"
Ich fand seine Worte bedenkenswert, und es hat sich später bestätigt, daß in den USA wenig Interesse für eine informationstheoretisch untermauerte Ästhetik bestand, wie sie damals von Max Bense und seinen Schülern betrieben wurde. Im übrigen aber bin ich sowieso der Meinung, daß es keiner Theorie bedarf - weder um Kunst zu erzeugen, noch um sich an Kunst zu erfreuen. In der Tat: Viel Aufwand für etwas, was niemand braucht?
Andererseits aber wird die Frage "Was ist Kunst?" nicht erst seit den seligen Zeiten von Bense leidenschaftlich diskutiert, und vielleicht liegt es wirklich an der Wesensart des Deutschen, daß er dabei gleich ins Prinzipielle geht. Offenbar besteht bei vielen Intellektuellen der Wunsch nach einer Erklärung für etwas, was in unserer Kultur immerhin eine beachtliche Rolle spielt und dem einzelnen viel bedeuten kann. Man kann also auch behaupten: Ob eine Kunsttheorie Vorteile mit sich bringt, ist fraglich, aber es steht einem gut an, zu dieser Frage etwas Geistreiches oder sogar Sinnvolles beitragen zu können. Genau genommen gehört dieser Fragenkomplex in die Philosophie, und dort gibt es einen klassischen Zweig, die Ästhetik, der sich damit auseinandersetzt.
Naturwissenschaft und Ästhetik
Mein Interesse an der Problematik geht auf eine besondere, eher persönlich geprägte Situation zurück. Als Physiker hatte ich die Beobachtung gemacht, daß manche der Naturwissenschaft entspringenden Bilder auch einen ästhetischen Aspekt haben - etwa im Sinn der "Kunstformen der Natur" von Ernst Haeckel. Aber das gilt nicht nur für die Biologie, sondern auch für Physik und Chemie, und in einem weniger bekannten Buch, das Haeckel zusammen mit W. Breitenbach 1913 publizierte, "Die Natur als Künstlerin", sind als Beispiele auch Eisblumen, Flüssigkristalle und Diffusionsbilder aufgenommen
. Ich selbst hatte in meiner Dissertation mit Elektronenoptik zu tun, und da legt man zum Testen der Wiedergabequalität des Elektronenmikroskops winzige Metallgitter in den Strahlengang. Aus den Verzerrungen der Bilder ergeben sich Verbesserungsmöglichkeiten der Systeme. Natürlich strebt man möglichst genaue Abbildungen an, aber es geht auch anders: Man kann die fokussierenden elektrischen und magnetischen Felder willkürlich verändern, und dann entstehen überraschenderweise höchst interessante Figurationen, wie man sie bisher noch nie zu sehen bekam. Bemerkenswert daran, daß sie keineswegs symmetrisch sein müssen. Es liegt also nicht am ornamentalen Charakter - der Grund für ihre Schönheit kann nur in irgendwelchen anderen Eigenschaften liegen.
Daraus ergab sich für mich die Frage: Wieso wirken Gebilde aus ganz anderen Bereichen manchmal wie Kunstwerke? Erhalten sie den Kunstcharakter durch den mehr oder weniger gezielten Eingriff, also durch einen Gestaltungsakt? Kann man physikalische Apparaturen zu künstlerischen Instrumenten umfunktionieren? Wann geht das physikalische Bild in das Kunstwerk über? Oder etwas anschaulicher gefragt: Fänden wir auf der Rückseite des Monds Gebilde bisher nie gesehener Formen von offensichtlichem ästhetischen Interesse ... dürfen wir sie als Kunstwerke ansehen, bevor wir wissen, wie sie zustandegekommen sind? Verlieren sie ihren ästhetischen Wert wie durch einen Zauberakt, wenn sich herausstellt, daß sie natürlichen Ursprungs sind?
Ich stöberte damals in unzähligen Büchern über Ästhetik, aber auf meine Fragen fand ich keine Antwort. Das war auch nicht weiter erstaunlich, denn alle Ausführungen, die sich auf die Umsetzung innerer Erkenntnisse, auf den Ausdruck von Gefühlserlebnissen und dergleichen stützen, sind bei meinem Problem nicht relevant. Unnütz zu sagen, daß auch historisch oder psychologisch gestützte Theorien keine Antwort brachten. Ganz im Gegenteil: Die Fülle an Material warf neue Fragen auf. Eine bezog sich auf den Begriff der Kunst selbst: Wenn es Sinn hat, dieses Wort zu gebrauchen, dann doch nur, wenn alles das, was man darunter versteht - Bilder, Tonwerke, Dramen und so weiter - eine gemeinsame Basis hat, einen einheitlichen Aspekt, aus dem heraus man sie vergleichend betrachten kann.
Informationstheoretische Ästhetik
Diese Forderung zwingt dazu, einiges auszuschließen, woran sich vielleicht hätte eine Hoffnung knüpfen können, also beispielsweise die Harmoniebeziehung in der Musik, die Abstimmung der Farben in der Malerei, der Rhythmus der Sprache in der Dichtung. Oder doch nicht? Wäre es vielleicht möglich, alle diese Beziehungen unter einem gemeinsamen Begriff zu subsummieren, der dann, wie man erwarten darf, auf einer höheren Ebene der Abstraktion stehen sollte? Diesen Begriff gibt es, und gerade in den davorliegenden Jahren war es gelungen, ihn exakt zu fassen und mit Zahlen zu beschreiben: Gemeint ist der Begriff der Ordnung; durch die neuen Erkenntnisse ist sie zu einer graduellen Größe geworden, die zwischen den Extremwerten absoluter Ordnung und völliger Unordnung liegt.
Auch in der Geschichte der Wissenschaft spielen historische Fakten eine Rolle, und zwar weniger in den Erkenntnissen, als in der Art und Weise der Näherung. In den siebziger Jahren kamen die Computer auf, und gleichzeitig erlebte die Informationstheorie die Blütezeit ihres Aufstiegs - zwei Entwicklungen, die natürlich eng aufeinander bezogen sind. Das sollte auch für das Verständnis der Kunst Konsequenzen haben. Auf der einen Seite entstand im Computer mit seiner Möglichkeit, jede Art von Regelhaftigkeit zu erfassen, speziell auch solche künstlerischer Natur, ein neues Gestaltungsinstrument, das sicher eine Wende in der Entwicklung der Kunst bedeutet. Mit diesem Werkzeug - keine energetische, sondern eine informationelle Maschine, ein Automat - wurde es möglich, Grafiken auszugeben, Musikinstrumente zu steuern und, wenn bisher auch nur ansatzweise, Texte zu konstruieren.
Zu den wichtigsten Innovationen, die dieses Instrument mit sich brachte, gehört die Tatsache, daß jemand, der ein Kunstwerk programmiert, die Regeln für dessen Programmierung kennen oder zumindest soweit erahnen muß, um mit Experimenten zu beginnen. Auf diese Weise ändert sich aber auch die Rolle der Theorie ganz erheblich: Sie wird nun als Basis praktischer Gestaltung gebraucht. Weiter ermöglicht es der Computer, mit ein und demselben Programm Bilder, Töne und noch manches andere auszugeben, so daß die Klüfte zwischen den einzelnen "Schönen Künsten" verschwimmen; das wieder unterstreicht die Notwendigkeit eines Blickwinkels, der sich nicht nur auf einzelne Sparten bezieht, sondern eine generelle Übersicht über das Phänomen der Kunst gibt.
Auf der anderen Seite erkannten Naturwissenschaftler und Techniker, daß für das Verständnis unserer Welt nicht nur der Umsatz der Energie, sondern auch der Umsatz der Information wesentlich ist. Insbesondere die charakteristischen biologischen Aktivitäten sind vorwiegend durch Daten bestimmt, und dazu gehören Wahrnehmen, Denken und Empfinden. Und daraus ergibt sich die Erklärung, warum Versuche, Kunst im Sinn einer rationalen Ästhetik auf Physik zurückzuführen - beispielsweise durch ganzzahlige Frequenzverhältnisse in der Musik - notwendigerweise scheitern mußten. Offenbar ist Kunst kein physikalischer, sondern ein informationeller Prozeß.
Es lag also nahe, war aber trotzdem ein mutiger Schritt, als der Philosoph und Mathematiker Max Bense, damals Lehrstuhlinhaber in Stuttgart, mit seiner "Informationsästhetik" an die Öffentlichkeit trat. Eine Basis seiner Überlegungen war die schon hervorgehobene Tatsache, daß man mit der mathematisch definierten Information (nach einer Formel von Claude Shannon) zwischen Ordnung und ihrem Gegenteil, dem Chaos, unterscheiden kann und damit einer These näherkommt, die von vielen Wissenschaftlern unabhängig gefunden wurde: daß Kunstwerke, aus dem Aspekt der in ihnen auftretenden Ordnungsbeziehungen heraus, irgendwo in der Mitte zwischen Banalität und Chaos liegen müssen. Bense versuchte, diese Ordnungen zu messen und aufgrund der Ergebnisse Kunstwerke zu bewerten - aber was dabei herauskam, war alles andere als befriedigend.
Max Bense
Auch die darauffolgende Entwicklung der Informationsästhetik war stark von einer Situation geprägt, die weniger in der Wissenschaft, als im persönlichen Bereich lag. Die meisten, die sich damals mit diesem Fragenkomplex auseinandersetzten, waren Schüler von Max Bense, und das erschwerte es gewaltig, die von diesem gewiesenen Weg zu verlassen und dort, wo er sich in einer Sackgasse verrannt hatte, in anderen Richtungen zu suchen. Einigen seiner Schüler war durchaus klar, wo die Lösung des Problems zu suchen war, man muß aber die seinerzeit erschienenen Arbeiten aus dem Gesichtswinkel des Lehrer-Schüler-Verhältnisses heraus lesen, um zu merken, wie schwer sie es hatten, sich mit ihren Ideen durchzusetzen.
Der Fehler von Max Bense liegt wohl darin, daß er im Sinn der Philosophie an objektive Ordnungen glaubte, und als Mathematiker hoffte, sie in einer Formel zu finden. Um den Ordnungsgrad zu messen, legte er beispielsweise ein Raster über das zur Diskussion stehende Bild und wertete die Anteile von Hell- und Dunkelwerten statistisch aus. Diese Methode ist mathematisch einwandfrei, aber der resultierende Wert kann sich nicht auf jene Ordnung beziehen, die für die Aufnahme von visuellen Reizmustern durch das menschliche Auge maßgebend ist. Darin - nicht etwa im prinzipiellen Ansatz - liegt die Ursache für die irritierenden Resultate.
Und das gilt ganz allgemein: Den an sich fruchtbaren Gedanken der Informationsästhetik kann man nur dann erfolgreich weiterführen, wenn man den Menschen als Empfänger der von außen eintreffenden Information auffaßt, und das bedeutet speziell, daß man die Regeln und Beschränkungen berücksichtigen muß, die im menschlichen Gehirn bei der Wahrnehmung, speziell bei der Datenverarbeitung auf dem Weg der Information von den Sensoren bis zum Bewußtsein, maßgebend sind. Die grundlegenden Schritte zu einer informationspsychologisch fundierten ästhetischen Theorie machte der Bense-Schüler Helmar Frank, der heute ein Institut für Kybernetik an der Universität Paderborn leitet. In dem Wort "Kybernetik" spiegelt sich auch die Art und Weise des Umdenkens - also nicht mehr eine à priori einsichtige Philosophie, sondern eine auf Realitäten und speziell auf den Menschen bezogene Wissenschaft, bei der der Umsatz von Information im Vordergrund steht.
Ich selbst war damals durchaus interessiert, mich mit Bense über diese Problematik zu unterhalten, und da ich kein Bense-Schüler war, hoffte ich, ein wenig deutlicher sprechen zu können als seine Mitarbeiter. Ein Besuch im Stuttgarter Institut, der mir schließlich gewährt wurde, fand dann allerdings unter höchst merkwürdigen Umständen statt. Ich saß im Zimmer der Sekretärin, während Bense bei geschlossener Tür in seinem Arbeitszimmer blieb. Ich mußte meine Fragen der freundlichen Dame stellen, die sie dann an Bense weiterleitete und mir daraufhin seine Antwort brachte. Es bedarf wohl keiner weiteren Begründung, daß dieses Gespräch wenig fruchtbar war. Es konnte oder wollte mir auch niemand Auskunft darüber geben, wie sich Bense den neuen Ideen gegenüber stellte, und erst in einem seiner letzten Bücher fand ich zu meinem Erstaunen den Ausdruck "Apperzeptem". Unter Apperzeption versteht man die der Rezeption nachfolgende Aufnahme von Information in Bewußtsein, und dementsprechend ist ein Apperzeptem das kleinste Element einer auf diesem Weg eintreffenden Nachricht, das einem bewußt wird. Daraus könnte man folgern, daß sich Bense in den letzten Jahren doch etwas mit der kybernetischen Ästhetik angefreundet hat.
Zieht man über die damaligen, von Stuttgart ausgehenden Aktivitäten ein Resümee, dann stellt man fest, daß die bekanntesten Publikationen, insbesondere die Bücher von Max Bense selbst, ganz auf seiner philosophisch begründeten Informationsästhetik beruhen, dagegen ist das kybernetisch orientierte Schrifttum zu diesem Thema wenig bekannt und in allen möglichen kaum zugänglichen Publikationen verstreut. Inzwischen allerdings gibt es doch zwei oder drei in guten Verlagen erschienene Bücher, und wer sich für dieses Problemfeld interessiert, kann sich dazu den Zugriff verschaffen.
Die Naturgesetze der Ästhetik
Diese Situation ist natürlich keine günstige Ausgangsbasis zur Etablierung eines neuen Wissenschaftszweiges. Inzwischen ist auch in den USA an einer rationalen Kunsttheorie ein gewisses Interesse erwacht, aber - was ja auch für andere Bereich gilt - was nicht in englisch erschienen ist, ist für den angelsächsischen Wissenschaftler so gut wie nicht existent.
Das sieht man beispielsweise sehr gut am Buch "Der kosmische Schnitt. Die Naturgesetze des Ästhetischen". Der Autor John D. Barrow ist Astronom, und somit braucht man sich nicht weiter zu wundern, daß er bei der Entwicklung seiner Ästhetik sehr weit zurückgreift. Sein Beitrag ist aber gerade deshalb wichtig, weil er im Sinn der sogenannten "evolutionären Erkenntnistheorie" steht. Vereinfacht ausgedrückt stützt sich dieser Denkansatz auf die Forderung, daß alles, was man in der lebenden Welt und nicht zuletzt beim Menschen konstatieren kann, auch unter dem Aspekt der Evolution betrachtet werden kann, oder, andersherum ausgedrückt, daß nur dann eine wissenschaftlich aktzeptable Erklärung vorliegt, wenn sie auch mit den Regeln der Evolution vereinbar ist.
In seinem Buch führt Barrow aus, wie wichtig es für den Frühmenschen war, aus Reizmustern der Umgebung relevante Daten herauszusuchen, diese zu beurteilen und zu bewerten. Diese Fähigkeit bewährt sich in allen möglichen Bereichen, zunächst bei der Beurteilung von visuellen und auditiven Reizen, später auch bei der Suche nach Bedeutungen und Werte in der sprachlichen Verständigung. Daraus haben sich bestimmte Sympathien und Antipathien entwickelt, die heute noch wirksam werden, wenn wir mit Kunstwerken konfrontiert sind. Damit hat es bei Barrow sein Bewenden, und die Weiterführung des Gedankens in Bezug auf die Datenverarbeitung im Gehirn bleibt unberücksichtigt. Dabei hätte dieser Aspekt der Wahrnehmungsprozesse gut zu Barrows Thesen gepaßt und gerade dort einige Erklärungen geliefert, wo dieser an Grenzen stößt. Bezieht man sich nämlich auf die Art und Weise, wie sich der Mensch bei der Verarbeitung von Information verhält, dann läßt sich das ästhetische Vergnügen beim Betrachten, Hören usw. von Kunst auch in jenen Fällen erklären, wo keine semantischen Assoziationen ausgelöst werden, sondern es nur um die Suche und das Erkennen von Gestalten und Ordnungsbeziehungen geht.
Auch deutschsprachige Autoren aus dem Bereich der exakten Wissenschaften beschäftigen sich immer wieder mit der rationalen Erklärung ästhetischer Prozesse. Manfred Eigen zusammen mit Ruthhild Winkler gehen in einem Kapitel ihres Buches "Das Spiel. Naturgesetze steuern den Zufall" auf die Kunst ein, die dann konsequenterweise als eine Art Spiel gesehen wird, der Neuropsychologe Ernst Pöppel stützt sich bei seiner Erklärung vor allem auf das psychologische Zeitquant, das die Informationsaufnahme beim Menschen bestimmt, und der Physiker Friedrich Cramer, zusammen mit Wolfgang Kaempfer, legt eine breit angelegte Theorie der Schönheit vor, in der die Position der Kunst zwischen Ordnung und Chaos eine grundlegende Rolle spielt. Alle diese Autoren sind Naturwissenschaftler, und wenn solche etwas publizieren, dann ist es so gut wie selbstverständlich, daß sie sich zunächst über den Wissensstand der Forschungsfront informieren und bemüht sind, die wichtigste und neueste Literatur zu berücksichtigen. Nur wenn sie über Kunst schreiben, scheint diese Maxime nicht zu gelten. Max Bense wird nirgends erwähnt - vielleicht weil er keine naturwissenschaftlich relevanten Ergebnisse vorzuweisen hatte -, aber auch die später erschienenen Publikationen zur kybernetischen Ästhetik bleiben unberücksichtigt.
Vielleicht hat dieser Umstand sogar etwas Gutes - weil nämlich jeder Autor, unbeeinflußt von seinen Vordenkern, ein eigenes Denkgebäude errichten konnte, und auf diese Weise Wissenswertes entdeckt, das sonst vielleicht unbeachtet geblieben wäre. Auf der anderen Seite aber sind alle diese Publikationen fragmentarisch, was sich durch besseres Studium der Quellen vermeiden lassen hätte.
Erfreulich ist aber noch etwas anderes, nämlich die Tatsache, daß alle diese Autoren, wenn sie auch als Einzelkämpfer auftreten, doch Erkenntnisse vorzuweisen haben, die von ganz anderer Potenz sind als jenes ermüdende Kunstgeschwätz, das man bei vielen Diskussionen hört. Worin liegt der Unterschied? Vor kurzer Zeit sagte mir ein befreundeter Künstler, auf wissenschaftlich fundierte ästhetische Erkenntnisse angesprochen, daß die Mode der "visuellen Forschung" aus der Zeit der Op-Art und der aufkommenden Computerkunst doch längst antiquiert sei und sich speziell die bildenden Künstler anderen Problemen zuwenden würden.
Ich glaube, daß diese Antwort das Mißverständnis zeigt, das zwischen Geisteswissenschaftlern und Naturwissenschaftlern besteht, wenn sie dem Phänomen Kunst näherzukommen trachten. John D. Barrow hat es recht gut beschrieben. Er meint, die Naturwissenschaftler sind dabei zu lernen, daß es nicht nur allgemeingültige Gesetze gibt, sondern daß auch das Einzelne, das Unabhängige und Individuelle Bedeutung hat und als Aspekt unserer Welt zu begreifen ist. Und daß umgekehrt die Geisteswissenschaftler erkennen müssen, daß nicht nur das Besondere und Einzigartige für ihre Phänomene wesentlich sind, sondern daß es auch übergreifende, allgemeine Regeln gibt, die zum Verständnis des Phänomens unabdingbar sind.
Man hat lange daran gezweifelt, daß es für die Kunst solche Gemeinsamkeiten überhaupt gibt, und das ist auch verständlich, denn sie ist eine außerordentlich komplexe Erscheinung mit vielen an die Individualität des Künstlers gebundenen Facetten, der man sich von vielen verschiedenen Seiten nähern kann. Im Gegensatz aber zu Erörterungen, die sich auf vorübergehende Interessen, Betrachtungsweisen und Moden richten, wird man nach und nach auch auf dahinterstehende Gesetze aufmerksam. Dabei handelt es sich um mitteilbares, überprüfbares und teilweise sogar formalisierbares Wissen, ganz im Sinn der Naturwissenschaft, und somit wird als Kriterium der Gültigkeit auch die Verträglichkeit mit allgemeineren naturwissenschaftlichen Erkenntnissen wichtig, beispielsweise mit denen der Verhaltenspsychologie, der Psychophysik und der Evolutionslehre. Das ändert nichts daran, daß der Künstler für seine Gestaltungsarbeit keine rationale Ästhetik braucht, und daß diese für den Adressaten, der ein Kunstwerk auf sich wirken läßt, eher störend als nützlich ist. Andererseits aber ist es jedem freigestellt, Auskunft auf die Frage zu verlangen, wieso der Mensch befähigt ist, Kunst hervorzubringen und Kunst aufzunehmen. Die Antworten darauf, sofern sie gefunden sind, sollten zeitlos und allgemeingültig sein. Wenn es noch Sinn hat, über den Menschen und seine Kultur nachzudenken, dann gehört auch die Kunst dazu.