Debatte um Hartz-IV-Sanktionen

Seite 3: Keine Erkenntnisse - kein Handlungsbedarf

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Auch was die Darstellung der "Spielregeln" betrifft, denen Hartz-IV-Empfänger sich unterwerfen müssen, gleichen Medienberichte oft bis aufs Wort den Verlautbarungen der dafür verantwortlichen Politiker. Die rhetorische Frage "Ist das etwa zu viel verlangt?" schwingt dabei stets mit. So etwa im Tagesspiegel, wo Cordula Eubel schrieb, ein ALG-II-Bezieher verpflichte sich, "an der Überwindung seiner Hilfebedürftigkeit mitzuwirken. Bewerbungen schreiben, Vorstellungsgespräche führen, als ‚zumutbar‘ eingestufte Arbeit annehmen, Termine mit dem Jobcenter einhalten - all das gehört dazu." Wer seine Informationen über Hartz IV ausschließlich aus Mainstreammedien bezieht, kann leicht übersehen, dass fast jeder Job als "zumutbar" gilt und dass erzwungene Bewerbungen auf, wahllos aus der Jobbörse der Arbeitsagentur herausgefischte, Stellenausschreibungen eher selten die "Hilfebedürftigkeit" zu überwinden helfen. Da zudem "Aktivierungsmaßnahmen" oft nur nützlich für die Arbeitslosenstatistik und die Kursanbieter sind, nicht aber für die Teilnehmer, wie der Tagesspiegel selbst vor gut einem Jahr herausfand, verwundert es nicht, dass wohl die meisten ALG-II-Empfänger einen Termin beim Jobcenter eher als Bedrohung denn als Chance auffassen.

Für Journalisten wie auch für Politiker wäre das alles nicht schwer herauszufinden. Nur wollen sie es wirklich wissen? Was mit den Menschen passiert, die auf null sanktioniert werden - 2017 waren es 34.000 - , weiß die Bundesregierung jedenfalls nicht, wie eine Anfrage der Linken-Chefin Katja Kipping ergab. Ebenso wenig ist der Regierung bekannt, wie viele davon Sachleistungen erhielten und wie viele ihren Krankenversicherungsschutz einbüßten. Klar, so lassen sich Berichte über Totalsanktionierte, die auf der Parkbank übernachten und sich von Müll und Blättern ernähren, auch leichter als bedauerliche Einzelfälle abtun.

Irgendwie erinnert das frappierend an das gewollte Nicht-Wissen der Bundesregierung über die Zahl der Wohnungslosen in Deutschland. Weder führt sie eine solche Statistik noch beabsichtigt sie dies für die Zukunft und verweist stattdessen auf die Schätzungen der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe. Auf eine Anfrage der Grünen-Bundestagsfraktion antwortete die Regierung im Oktober 2018, die Ursachen von Wohnungslosigkeit seien "sehr individuell". Handlungsbedarf sehe sie "aufgrund der aktuell unzureichenden und ungesicherten Erkenntnisse […] nur bedingt".

Sanktionen für die "harten Brocken", warme Worte für die "schweren Fälle"

Ebenso wenig wie es nach Auffassung der Marktgläubigen einen Zusammenhang zwischen Wohnungslosigkeit und Wohnungsmangel gibt, wollen sie einen solchen zwischen Arbeitslosigkeit und Arbeitsplatzmangel erkennen. Die wohl größte propagandistische Leistung der Hartz-"Reformer" bestand darin, die abstruse Idee, Arbeitslosigkeit sei allein auf individuelles Versagen zurückzuführen, in den Stand einer unhinterfragten Glaubensweisheit zu erheben. In einer Zeit, als auf 256.000 offene Stellen 4,9 Millionen offiziell registrierte Arbeitslose kamen, war dies nicht möglich, ohne die Betroffenen massiv abzuwerten und zu dämonisieren. Heute stehen 760.000 offenen Stellen geschätzt 6,5 Millionen Arbeitslose und Unterbeschäftigte (inklusive der stillen Reserve) gegenüber - in der Realität.

Die medial verbreiteten alternativen Fakten hingegen besagen, dass die Vollbeschäftigung vor der Tür steht und allerorten händeringend Fachkräfte und neuerdings sogar "Helfer" gesucht werden. Die verbliebenen ALG-II-Bezieher können nach der herrschenden Lehre daher nur besonders arbeitsscheu sein oder aber besonders "schwere Fälle" (Elisabeth Niejahr), die nur unter allergrößten Anstrengungen noch vermittelbar sind. So erklärt es sich denn auch, warum Hauptstadtpolitiker und -journalisten ihre Ressentiments gegen Arbeitslose und Aufstocker heutzutage meist in warme Worte kleiden.

Dass sie zugleich an Sanktionen grundsätzlich festhalten wollen, erklären sie meist mit dem "Lohnabstandsgebot". Wer für einen Hungerlohn schuftet, fühlt sich gleich viel besser, wenn der Arbeitslose nebenan noch schlechter dran ist. Und der ominöse "Steuerzahler" aus der Mittelschicht, dem eine sanktionsfreie Grundsicherung angeblich nicht zuzumuten ist, hat gleich viel weniger Abstiegsangst, wenn ihm medial immer wieder bestätigt wird, dass Arbeitslosigkeit rein individuelle Ursachen hat. Sanktionen sind also mitnichten förderlich oder gar notwendig für den gesellschaftlichen Zusammenhalt, wie ihre Befürworter nicht müde werden zu betonen. Ganz im Gegenteil dienen sie gerade dem Zweck, die Gesellschaft auseinanderzudividieren.