Defizitstrafen: Kurz versus Salvini
Der österreichische Bundeskanzler hält den Vertrag von Lissabon für "dringend erneuerungsbedürftig"
Der österreichische Bundeskanzler Sebastian Kurz hat in der italienischen Tageszeitung La Stampa eine Erneuerung des Vertrages von Lissabon gefordert. Dieser (nach seiner Ablehnung durch Volksabstimmungen leicht modifizierte) EU-Verfassungsvertrag ist seinen Worten nach "nicht geeignet, mit neuen Herausforderungen umzugehen", weil sich die "grundsätzlichen Wirtschaftsbedingungen in Europa" in den letzten zehn Jahren grundlegend geändert hätten.
"Zweites Griechenland" verhindern
Eine Neufassung sollte Kurz' Ansicht nach die Möglichkeit härterer Strafen für EU-Mitgliedsländer beinhalten, die Defizitgrenzen überschreiten. So könne man verhindern, dass aus Italien durch eine "verantwortungslose Schuldenpolitik" ein "zweites Griechenland" wird, das "den gesamten Euroraum gefährdet". Nach dieser Äußerung stieg der Zins-Spread zwischen zehnjährigen italienischen und deutschen Staatsanleihen von 253 auf 260 Punkte.
Sprecher der italienischen Regierungsparteien reagierten auf die Forderung des österreichischen Bundeskanzlers erwartungsgemäß negativ: Innenminister und Lega-Chef Matteo Salvini antwortete Kurz in der Stampa, die EU-Mitgliedsländer müssten "die Freiheit haben, ihre Fiskal- und Haushaltspolitik autonom zu gestalten". Er wies darauf hin, dass Italien ein Nettozahler ist, der seit dem Inkrafttreten des Lissabon-Vertrages 50 Milliarden Euro mehr nach Brüssel überwies, als von dort nach Italien zurückfloss. Damit, so Salvini, seien auch deutsche und französische Banken "gerettet" worden.
Regierungs- und Oppositionsparteien schieben sich gegenseitig den "schwarzen Kurz" zu
Laura Agea, die Europaparlamentssprecherin der anderen italienischen Koalitionspartei M5S, erinnerte in einer Pressemitteilung daran, dass Kurz' Österreichische Volkspartei (ÖVP) auf Europaebene zur christdemokratischen EVP gehört, deren wichtigstes italienisches Mitglied die oppositionelle Forza Italia ist. Ihre Schlussfolgerung daraus: "Wer für diese Partei stimmt, wählt gegen Italien."
Der von dieser Schlussfolgerung betroffene Forza-Italia-Abgeordnete Renato Brunetta versuchte, den Ball in das gegnerische Feld zurückzubefördern, indem er Matteo Salvini wegen Kurz' Wiener Regierungszusammenarbeit mit der FPÖ als "potenziellen Verbündeten" des österreichischen Kanzlers bezeichnete. Die FPÖ ist nämlich, ebenso wie die Lega, auf europäischer Ebene Mitglied der Fraktion Europa der Nationen und der Freiheit (ENF). Außerdem kritisierte Brunetta die Position des katholischen ÖVP-Politikers als "typisch für die deutschsprachige Welt und ihre protestantische Ethik".
Abgeordnete der sozialdemokratischen Oppositionspartei PD bezogen sich außer auf die Wiener Koalition auch auf Salvinis Selfie mit dem ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán, als sie der Partei des italienischen Innenminister vorwarfen, diese sei mit Politikern verbündet, welche "Italiens öffentliche Ausgaben reduzieren und dafür sorgen wollen, dass Italien alle eingetroffenen Migranten behält".
Auch österreichische Koalitionsparteien uneins
Kurz hatte in seinem Gespräch mit der Stampa nämlich nicht nur Strafen für Länder gefordert, die Defizitgrenzen überschreiten, sondern auch für solche, die illegal eingereiste Migranten nach Mitteleuropa weiterziehen lassen. "Wer illegal in die EU reist" und nicht aus einem Kriegsgebiet kommt, so der österreichische Bundeskanzler, "soll nicht nach Mitteleuropa gelangen": "Er soll gerettet, gestoppt und zurückgeführt werden." Dabei müsse Brüssel Ländern wie Italien und Griechenland helfen.
Weitere Vorschläge für neue EU-Verträge, die Kurz am Donnerstag beim EU-"Zukunftsgipfel" im rumänischen Hermannstadt offiziell vorstellen will, betreffen unter anderem eine Streichung des EU-Parlamentsstandorts in Straßburg und eine Verringerung der Zahl der EU-Kommissare.
Harald Vilimsky, der Europawahl-Spitzenkandidat der FPÖ, äußerte die Befürchtung, dass Kurz bei der Änderung der EU-Verträge auch eine weitgehende Streichung der Einstimmigkeitserfordernis vorschwebt (vgl. Merkel will Einstimmigkeitsanforderung mit "EU-Sicherheitsrat" aushebeln). Der österreichische Bundeskanzler selbst reagierte darauf bislang nicht direkt, sondern über seine Staatssekretärin Karoline Edtstadler. Sie dementierte Vilimskys Befürchtung nicht, sondern warf dem freiheitlichen Konkurrenten "Retropolitik" vor.
Kurz' Parteifreund und Kanzleramtsminister Gernot Blümel (vgl. "Digitales Vermummungsverbot") bezeichnete Vilimskys Äußerungen als "Wahlkampfgetöse, das man von der gemeinsamen Linie der Bundesregierung unterscheiden muss". Deren Vizekanzler Heinz-Christian Strache von der FPÖ äußerte sich heute im Ö1-Morgenjournal deutlich weniger skeptisch als der Europawahl-Spitzenkandidat seiner Partei und sprach von einem "freiheitlichen Vorschlag", den Kurz "aufgegriffen" habe. Entscheidend sei nur, wie die Verträge geändert würden. Er befürworte da - anders als der ÖVP-Europawahlspitzenkandidat Othmar Karas - nicht mehr "Entscheidungen abseits der Nationalstaaten […] bei Asylfragen oder Steuerfragen", sondern mehr Subsidiarität.
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