"Dein Schmerz ist besser als meiner"
Ein Zensurfall im polnischen öffentlich-rechtlichen Radio bewegt die Öffentlichkeit weit mehr als mancher Skandal der autoritär regierenden "Recht und Gerechtigkeit" (PiS)
Es hat sich ausgerockt: Deep Purple und Marillion dürfen auf Veranlassung von "Mystic Productions" nicht mehr im öffentlich-rechtlichen "Polskie Radio" gespielt werden. Grund ist eine Zensurfall in dem polnischen Sender, der neben der Öffentlichkeit auch die nationalkonservative Regierungspartei "Recht und Gerechtigkeit" (PiS) aufwühlt, schließlich geht es um keinen geringeren als den einflussreichen Parteichef Jaroslaw Kaczynski - und es geht um die Sprengkraft einer konservativen Kritik gegen einen Konservativen.
Am Freitag wählten die Hörer des Kultsenders "Das Dritte" (Trójka) einen Bänkelsong mit dem Titel "Dein Schmerz ist besser als meiner" des Musikers "Kazik" zur Nummer eins. Daraufhin ließ die Radioleitung die Wahl wegen einem nicht weiter erklärten "Regelverstoß" und der "Manipulation der Stimmen" annullieren und aus dem Internet nehmen.
Der Titel von "Kazik", dem 57-jährigen Gründer der in Polen bekannten Punkrockband "Kult", beschreibt den Friedhofsgang von Jaroslaw Kaczynski am 10. April mit zwei Limousinen und Personenschutz, während es allen Polen aufgrund der Pandemie verboten war, Parks und Friedhöfe zu betreten. Kaczynski wird zwar namentlich nicht genannt, doch ist es klar, wer gemeint wird. Am 10. April kamen Staatspräsident Lech Kaczynski, der Zwillingsbruder sowie weitere 96 Personen bei dem Flugzeugabsturz in Smolensk ums Leben. Das Datum gilt als Trauertag in Polen.
Aufgrund dieser Zensur erklärten immer mehr Redakteure ihren Abschied, derzeit sind es fünf, darunter der Musikdirektor, welcher vom Chef des Dritten per SMS die Anweisung bekam, den Song herauszunehmen, sowie Marek Niedwiecki, der die Hitliste seit 1982 moderierte und selbst eine Radiolegende ist. In den achtziger Jahren bediente er mit amerikanischen und britischen Popsongs die Sehnsucht der jungen Polen nach dem Westen. Das "Dritte" im polnischen Radio hatte und hat weiterhin eine treue Hörerschaft.
Darum ist die nationalkonservative Partei mit dem Radio lange behutsamer umgegangen als mit dem Fernsehsender TVP, der kurz nach Regierungsbeginn im Herbst 2015 einen radikalen Personalwechsel erfuhr und seit Anfang 2016 strikt und aggressiv auf Regierungslinie sendet.
Die PiS holt die Vergangenheit ein
Der Song von Kazik, bürgerlich Kazimierz Staszewski, der bereits mit seiner Band "Kult" in den Achtzigern Ärger mit der politischen Führung hatte, lässt sich heute nicht mehr so unterdrücken wie damals, er ist längst zu einem YouTube-Hit mit mehr als 7,5 Millionen Aufrufen geraten.
Und er hat Sprengkraft. Denn Kaczynski, formal nur ein einfacher Abgeordneter und eigentlich Repräsentant der kleinen Leute, besitzt längst viele Privilegien wie ein Präsident, etwa besonderen Polizeischutz. Gleichzeitig sieht sich die PiS in der Rolle der unterdrückten Opposition durch die Kommunistische Führung während der Ostblockzeit. Doch während viele Polen aufgrund der harschen Abriegelungsverordnungen eingesperrt wurden (knapp drei Wochen im April), galt dies alles für Jaroslaw Kaczynski nicht, wie in einem klassischen Unrechtsstaat mit einer "Elite". Ein Vorwurf der PiS an die Vorgängerregierung unter der liberaleren "Bürgerplattform" (PO).
Solche Vorhaltungen machten die regierungskritischen Medien zwar Nonstop, doch diese werden von den im Lagerdenken gefangenen Polen wie den PiS-Anhängern und den eher unpolitischen Staatsbürgern nicht wahr-, beziehungsweise ernst genommen.
Doch mit dem Kazik-Lied, bei dem auch ein Josef und eine Maria vom Friedhofsbesuch ausgeschlossen werden, kommt die Kritik aus einer anderen Ecke. Auch wenn es seltsam anmutet, dass ein Punksänger als Befürworter einer rechten Partei tituliert werden kann, in Polen geht dies. Grund ist die gemeinsame Vergangenheit im Kampf gegen die kommunistische Führung von General Wojciech Jaruzelski. Auch soll Kazik, der sich erst zur Vorstellung seiner neuen CD am 22. Mai zu seinem Lied äußern will, lange den Slogan der PiS vom Kampf gegen die Eliten und für die kleinen Leute übernommen haben.
Ein konservativer Publizist der Zeitung Rzeczpospolita hält darum Radio-Skandal als schwerwiegender für die PiS als den Bauskandal, bei dem Jaroslaw Kaczynski einen österreichischen Investor um Millionen prellte (Skandal ohne Widerhall). Zudem ist die Zensur definitiv mit den Praktiken in der Ostblockzeit verbunden.
"In einem freien Land hat der Künstler das Recht zu seiner (manchmal unklugen) Interpretation der Ereignisse", twitterte der Kulturminister und stellvertretende Ministerpräsident Piotr Glinski, der sonst dafür bekannt war, eine patriotische Kulturauffassung durchsetzen zu wollen.
Doch Ministerpräsident Mateusz Morawiecki will das Lied nicht als Lied gelten lassen, sondern spricht von "Manipulation" und verweist darauf, dass sich die Öffentlichkeit lieber mit dem hundertsten Geburtstag des verstorbenen polnischen Papst Johannes Paul II. beschäftigen solle.
Die Führung des Radios hat nun Kaziks Song am Montag wieder ins Programm genommen, allerdings auf Platz vier. Doch sie hat ein Problem - niemand will die Hitlisten aktuell moderieren.
Kazik hat nun dazu aufgefordert, seinen Song wieder aus dem "Polskie Radio" zu nehmen. Dem Protest in der Popkultur wird dies keinen Abbruch tun. Beobachter rechnen mit einer Renaissance der politischen Musik - wie in den Achtzigern in der Volksrepublik.
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