Deliberieren hinter geschlossener Tür

Eine "normative Theorie des Privaten": Beate Rösslers Datenschutz-Philosophie

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Es geht um Grundsätzliches: Warum wollen, warum sollen wir Privatheit schätzen? Und was ist das überhaupt: "Privatheit"? Was haben die Abtreibungsdebatte, die Aufregung um die Kameraüberwachung von Kindermädchen in den USA, die Clinton-Lewinsky-Affäre und Big-Brother-TV-Formate gemeinsam?

Fragen dieser Art sind es, die die in Amsterdam lehrende Philosophin Beate Rössler in ihrer knapp vierhundert Seiten langen Studie über den "Wert des Privaten" zu beantworten versucht. Rössler selbst versteht ihr Werk als einen "Beitrag zur Innenarchitektur der liberalen Demokratie". Das hört sich ziemlich staatstragend und langweilig an - und ist es auch, in einem gewissen Sinne. Denn Rösslers Buch versprüht den spröden Charme der Begriffsanalyse.

Der Traktat besticht vor allem durch seine Nüchternheit und Gründlichkeit - durch die systematische Auseinanderlegung der verschiedenen Bereiche des Privaten, durch die Sorgfalt, mit der die verschiedenen Positionen der zumeist US-amerikanischen philosophischen Literatur in Sachen "privacy" gegeneinander abgewogen werden, und nicht zuletzt durch argumentative Schärfe.

In der Hauptsache unterscheidet Rössler zwischen drei Bereichen des Privaten: der dezisionalen oder der Entscheidungsprivatheit, der informationellen und der lokalen Privatheit. Erstere, die dezisionale Privatheit, hat vor allem etwas mit der Interpretationshoheit über das eigene Leben zu tun. Diese Art von Privatheit, meint Rössler, werde bereits verletzt, wenn jemandes Verhalten in der Öffentlichkeit bloß kommentiert wird - und sei es durch Pfiffe. Denn dezisionale Privatheit besteht in der Möglichkeit, sich im sozialen Raum unbehelligt so zu verhalten, wie man es möchte.

Auch was die anderen Bereiche des Privaten betrifft, so hat Rössler den Standard, den sie verteidigen will, vergleichsweise hoch angesetzt. In dem Abschnitt über die lokale Privatheit versucht sie beispielsweise dafür zu argumentieren, dass die Privatheit eines eigenen Zimmers - eines Raumes, wo man in Ruhe darüber nachdenken oder darüber "deliberieren" kann, wer man ist und wer man sein will - eine notwendige Voraussetzung für ein gelungenes, autonomes Leben ist. Als "autonom", das erklärt Rössler in einem eigenen, längeren Kapitel, gilt eine Person dann, wenn sie sich die "praktische Frage" stellen kann: die Frage, welche Person sie sein will, wie sie leben will - und wenn sie dann so leben kann.

Man mag darüber streiten, wie viel eigener Raum, wie viel Privatheit wirklich vonnöten ist, um wahrhaft autonom zu leben. Aber um einen solchen Streit- und das gilt für das ganze Buch - geht es hier nicht. Die leitende Frage ist nämlich, wie der Titel schon sagt, die nach dem Wert des Privaten. Wie hoch dieser Wert in einer bestimmten Situation angesetzt werden soll, welches Gewicht er im Vergleich zu anderen Dingen hat - darüber enthält sich die Philosophin des Urteils, auch wenn sie im Prinzipiellen engagiert die Sache der Privacy-Aktivisten vertritt.

Am interessantesten vielleicht ist der Abschnitt über die informationalle Privatheit, die Rössler zufolge im Schutz vor Beobachtung besteht - sei es durch Voyeure, durch Kameras im öffentlichen Raum oder durch Datensammler, kurz: durch bestimmte oder durch unbestimmte Dritte. Auf den ersten Blick wird jemand, der unter Beobachtung steht, nicht in seiner Freiheit eingeschränkt: Er kann immer noch tun und lassen, was er will. Trotzdem ist er nicht mehr autonom. Insofern er sich nämlich beobachtet weiß und fühlt, wird ihm auch eine bestimmte Selbstsicht aufgezwungen: Als Beobachteter betrachtet er sich quasi selbst von Außen, mit den Augen eines Dritten - ob ihm das nun behagt oder nicht. Rössler greift diesen Einwand auf, geht aber noch einen Schritt weiter.

Eine signifikante Verletzung informationeller Privatheit ist nach Rössler auch dann gegeben, "wenn eine Person ... nie davon erfährt, dass sie beobachtet oder gefilmt wurde: denn ihr Verhalten war ein Verhalten 'unter falschen Bedingungen'".

Auch wer unbemerkt beobachtet wird, so lautet die These, hat keine wirkliche Kontrolle über seine Selbstdarstellung - und ist insofern in der Ausübung seiner Autonomie gehindert.

Auch wenn diese Überlegungen direkte Relevanz für die Diskussion etwa über die Video-Überwachung des öffentlichen Raumes, über die Rechtmäßigkeit des Konsumenten-Profiling oder andere Belange des Datenschutzes haben, bleibt die Empirie in diesem Buch doch insgesamt außen vor. Auch wenn Rössler eingesteht, dass mit den neuen Technologien kategorial neue Formen von Beobachtung, Kontrolle und Durchsichtigkeit der Gesellschaft möglich geworden seien, will sie nicht auf die einzelnen Fälle und die Bandbreite der technischen Möglichkeiten samt deren Gefahren eingehen.

"Mir geht es um ein bescheidenes Ziel, nämlich darum, noch einmal einen Schritt zurückzutreten und zu fragen, warum diese unterschiedlichen Formen der Beobachtung und der Übermittlung von Daten eigentlich problematisch sind und warum sie, wenn, als gefährlich betrachtet werden können. Mir geht es also vor allem um eine genauere begriffliche Klärung der Problematik und um die Frage, was genau auf dem Spiel steht mit dem vermeintlichen 'Ende der Privatheit'".

Wer so spricht, sichert sich seine Distanz gegenüber eben jenen Schreckensmeldungen vom "Ende der Privatheit", die vor nicht langer Zeit die Runde machten - erst im "Economist" (1.5.1999), dann im "Spiegel" (5.7.1999) und in der "Zeit" (22.7.1999). Doch trotz aller Nüchternheit ist es nicht wenig, was Rössler erreicht: Wenn sie vor den Gefahren auch des freiwilligen Verzichtes auf informationelle Privatheit warnt, dann möchte man gerade solche Passagen etwa dem Bundesdatenschutzbeauftragten Jacob unter die Nase halten. Jacob machte - als treuer und waschechter FDPler - in der jüngsten Debatte um den Medikamentenpass die Notwendigkeit des Datenschutzes allein daran fest (und missverstand die Sache dahingehend), dass die Patienten sich auf individueller Basis und freiwillig für einen solchen Pass entscheiden können sollten. In diesem Fall, sagte er, hätte er keine Bedenken gegen einen Arzneimittelpass, auf dem die Gesundheitsgeschichte des Patienten dokumentiert und Apothekern, behandelnden Ärzten und wem eine solche Karte sonst noch in die Hände fallen mag, einsichtig gemacht würde.

Aber Freiwilligkeit ist nicht allein der Punkt. Denn wenn zu Viele ihren Anspruch auf informationelle Selbstbestimmung aufgeben, wenn die Duldung von Überwachung zur Gewohnheit wird, dann, so sagt Rössler, ist das schlecht für die Demokratie:

"Liberale Demokratien müssen nämlich ... ein massives Interesse daran haben, dass ihre Rechtssubjekte ihrerseits ein massives Interesse an Selbstbestimmung haben, da sie anders in ihrer Funktion gefährdet wären."

Beate Rössler: Der Wert des Privaten. Suhrkamp, 379 Seiten, DM 27,90