"Dem deutschen Volke"
Seite 2: Die Enthüllung der Demokratie
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In der Weimarer Zeit kam Kritik an der Architektur des Hauses auf. Der historistische Stil erregte Unbehagen bei Vertretern des Neuen Bauens, die gern etwas Neues für den Reichstag gebaut hätten. - Im Zweiten Weltkrieg wurde das angeschlagene Reichstagsgebäude unter anderem als Luftschutzbunker, als gynäkologische Außenstelle und für die Röhrenfabrikation genutzt.
In der Zeit des Kalten Krieges verharrte der Reichstagsbau als düsterer, weil stark gedunkelter Klotz im Niemandsland. Er grenzte an die Mauer. Er war plötzlich vom Zentrum an die Peripherie gerückt. Die Einschusslöcher in den Steinquadern ließen die Zeit 1945 stehen. Versuche, ihn wiederzubeleben, wurden durch das alliierte Verbot ausgebremst, den Bundestag nach Berlin zu verlegen.
1989 schlug das Pendel zurück in Richtung Einheit, und der gelungenste Moment des Bauwerks kam. Am 24. Juni 1995 war der Reichstag verhüllt. Nur die Konturen waren noch zu erahnen. Das Publikum rieb sich verwundert die Augen und flanierte zu Füßen des Bauwerks in festlicher Stimmung zwischen Brandenburger Tor und Tiergarten. Die Künstler, Christo und Jeanne-Claude, hatten sich einen Budenrummel verbeten.
Die Verhüllung war eine Metamorphose. Die deutsche Geschichte und mit ihr die deutsche Hybris waren weggepackt, und ein Geschenk kam zurück, von dem die Spaziergänger sich wünschten, dass es eine friedvollere Zukunft sein möge.
Der Theologe Friedrich Schorlemmer kommentierte: "Da versammelt sich ein friedliches Volk vor dem eher monströsen Gebäude unserer gebrochenen deutschen Geschichte und steht davor wie vor einem Geheimnis."3
Auf die temporäre Intervention folgte die steinerne Installation. Das Gebäude musste auf den Zuzug des Bundestages vorbereitet werden Zu den Gewinnern des Realisierungswettbewerbs für den Ausbau gehörte Norman Foster. Er hatte ein freistehendes transparentes Dach über dem Altbau vorgeschlagen, eine Art Baldachin.
Aber sehr schnell wurde eine alte Debatte losgetreten: Kuppel oder nicht? Es war schließlich keine mehr vorhanden. Foster war dagegen. War nicht Berlin ausreichend versorgt mit übergewichtigen Kuppeln wie am Dom? Und jüngst wurde nach ebenfalls kontroverser Debatte dem Stadtschloss eine Kuppel wieder aufgesetzt. Diese "Pickelhauben-Architektur" weckt Reminiszenzen an alte preußisch-militaristische Zeiten.
Foster ließ sich nach langem Hin und Her schließlich die Kuppel aufdrücken und machte das Beste daraus. Die über die Dachterrasse erreichbare Kuppel wirkt trotz ihrer Dimensionen filigran. Die Konstruktion aus Stahlskelett und Glas macht sie transparent. Sie kann über zwei gegenläufige Wendelrampen in Form einer Doppelhelix erklommen werden, ein beschwingtes Erlebnis.
Das Reichstagsgebäude ist das Symbol einer vordemokratischen Staatsform, einer schwachen Demokratie und einer brutalen Diktatur. Das Ensemble aus Altbau und Glaskuppel spiegelt den Konflikt zwischen Moderne und Vormoderne wider, der in der deutschen Geschichte selten glimpflich ausging. Gefährlich wurde es, wenn die Vormoderne wieder als "Anti-Moderne" auftauchte.
Der Bau allein kann diesen Konflikt nicht lösen. Aber er kann die Menschen mit seiner Symbolkraft anregen, im Ringen um eine Lösung nicht aufzugeben. Ohne Demokraten funktioniert eine Demokratie nicht.
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