Demokratie als Elitenverschwörung?

Seite 2: Die Klaviatur der Massengesellschaft bespielen

Bernays sah früh ein, dass moderne Kommunikationsmittel (bereits die von 1928!) eine revolutionäre Wirkung auf politische und Geschäftsprozesse gleichermaßen haben. Dieses Potenzial zu verstehen findet er entscheidend für erfolgreiche Propaganda.

"Die Gruppen und Verbände der Gesellschaft sind heute nicht mehr lokalen und sektoralen Einschränkungen unterworfen" (40). Der Hausfrauenverband ist von Illinois bis Texas über Radio, Zeitungen, "Broschürenwesen" und Kinofilme ideologisch als ein Verband organisierbar, in dem alle Mitglieder gleiche Impulse von Information, Meinungs- und Wertorientierung erhalten können.

Das war ohne Massenkommunikationsmittel, die Raum und Zeit überwinden, undenkbar; lokale, persönliche Kontaktmöglichkeiten und Loyalitäten beschränkten die Einflussnahme.

Neben geographischen Grenzen von Gruppen und Verbänden nennt Bernays hier auch das Wegfallen "sektoraler" Grenzen. Das ist entscheidend.

Die ganze Macht moderner Kommunikationsmittel für Zwecke der Propaganda kommt für ihn erst zum Tragen, wenn sie genutzt werden, um auf "der unsichtbaren, in sich verflochtenen Struktur von Gruppierungen und Verbänden" (44) wie auf einer Klaviatur zu spielen - und etwa Armentafel und Handelskammer in derselben Absicht miteinander zu verschalten.

Moderne Kommunikationsmittel machen die Gruppierungen einer Gesellschaft zu einem Netzwerk potenzieller Informations- und auch Emotionalitätskanäle zu wohldefinierten Kollektiven; und diese Kanäle können in Kombination bespielt werden. Das bedeutet es, den "Gruppenverstand" und das "Denken der Masse" zu beeinflussen.

Dem finanzkräftigen "Manipulator" bieten sich so unabsehbare Möglichkeiten, sozialwirksame Handlungen zu organisieren, oder eher noch: zu orchestrieren.

Der Einzug von Internet und Digitaltechnologie hat die Mechanik nicht verändert, sondern sie nur in weiteren Dimensionen auf einem größeren Spielfeld nutzbar gemacht.

Ein berühmt gewordenes Beispiel aus dem "Schaffen" Bernays‘ war die Popularisierung von Zigaretten auch für Frauen: Auf einer Parade in New York gewann er eine Reihe "society ladies" dafür, sich als Suffragetten zu verkleiden und sich vor versammelter Presse demonstrativ Zigaretten anzuzünden, die sie auf Nachfrage als "torches of freedom" ("Freiheitsfackeln") titulierten.

Dem folgte eine Kampagne in alle relevanten Gruppen der Gesellschaft hinein, die diese Botschaft popularisierte. Bernays erkannte später seinen Irrtum und arbeitete in den 1960ern für die Anti-Rauch-Kampagne.

Der Verschwörungspraktiker

Bernays darf man sich als den Vertreter der gesamten PR-Industrie bis heute vorstellen. Er möchte - zugespitzt gesagt - die Bevölkerung zu Schafen mächtiger Schäfer machen, denen er bestens bezahlt die Schäferei organisiert.

Die normale Bevölkerung soll nach seinem Willen glauben, dass sie sich als Gesellschaft freier Bürger selbst nach ihren Interessen regiert, während tatsächlich eine Einflusselite (wie er selbst es nennt) "die Fäden zieht".

Diese Einflusselite (oder "unsichtbare Regierung") zeichnet sich vor allem durch dreierlei aus: Beziehungen, überdurchschnittlich viel Geld - und den entschiedenen Willen, Wahrnehmung und Begriffe der Bevölkerung themenweise so zu manipulieren, dass die Mehrheitsgesellschaft ihrer Übervorteilung durch die Elite, wenn auch nicht zustimmen, so doch wenigstens passiv zusehen wird.

In Propaganda erweist sich Bernays als Verschwörungspraktiker. Er zeigt auf, wie erfolgreiche Verschwörungen im Zeitalter medialer Kommunikation zu organisieren sind.

Dass sie ein zentrales Element moderner Politik ist, setzt er als selbstverständlich voraus und formuliert es als Tatsache. Themenbezogene Verschwörungen zur Steuerung der öffentlichen Meinung sind für ihn das Kerngeschehen repräsentativer Regierung.

Wer wollte dem widersprechen? Sicherlich viele derer, die selbst in privilegierter Position Absprachen mit anderen Privilegierten treffen, von denen die Öffentlichkeit nichts erfährt als ihre realen Auswirkungen.

Aber auch mancher, den dank Propaganda die schmerzliche Ahnung beschleicht, dass sein gewohntes Autoritätsvertrauen in einer medialisierten Industriegesellschaft fehl am Platz sein könnte.

Bernays‘ demokratie-zynische Überlegungen kurzerhand zu verdammen greift zu kurz. Sie waren und sind wirksam, weil sie wichtige Aspekte der modernen, medial vermittelten Industriegesellschaft richtig erfassen.

Jeder Marketingmanager weiß, dass Bernays tatsächlich effektive Wege aufzeigt, mit diesen Gegebenheiten erfolgsorientiert umzugehen.

Dies geschieht in Wirtschaft, Verwaltung und Lobbyismus meist einfach, um effektives und effizientes Marketing des eigenen Image, der eigenen Prioritäten und der eigenen Produkte zu betreiben. Das ist in einer marktwirtschaftlichen Gesellschaft weder verdammungs- noch strafwürdig, vielleicht unsympathisch - meist aber einfach professionell.

Am Ende mag es sogar unserer Versorgung mit innovativen Produkten und Dienstleistungen dienlich sein, dass jemand sie uns zielgruppengerecht "unter die Nase" bringt und mit geschickter Vorbereitung des kommunikativen Feldes unsere Aufmerksamkeit bindet.

In der Politik jedoch muss es nach demokratischen Maßstäben entweder transparent und teilnahmeorientiert ums Gemeinwohl gehen oder in staatliches Unrecht ausarten. Hier angewandt offenbart die von Bernays‘ gelehrte Theorie und Praxis der Elitenverschwörung gegen die Bevölkerung tief undemokratischen Geist. Propaganda wirft jeder Generation die quälende Frage auf, inwieweit Bernays‘ Lehren Grundlage und Muster aktueller Regierungspraxis sind.

Jeder Demokrat wird aus Propaganda einen guten Schluck Machtskepsis und Hinterfragungslust trinken und dabei, natürlich nur nolens volens, seine Manipulationskünste fortbilden. Aber – so würde Bernays vielleicht sagen – warum sollte diese Regierungskunst allein den "scharfsinnigen Personen hinter den Kulissen" und ihren Auftraggebern überlassen bleiben?

Michael Andrick ist promovierter Philosoph und seit 2006 in der Wirtschaft tätig. Nebenberuflich schreibt er eine Kolumne in der Berliner Zeitung und hält Vorträge. Seine philosophische Diagnose der Industriegesellschaft heißt Erfolgsleere - Philosophie für die Arbeitswelt (2020).

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