Demokratie als Standortnachteil
Die Debatte um das im Sinne der Kapitalverwertung "effizienteste" Regierungssystem ist offenbar erneut eröffnet
Wenige Tage, nachdem Bahnchef Grube den Demonstranten in Stuttgart ihr Widerstandsrecht abgesprochen und sein Demokratieverständnis dahingehend offengelegt hatte, dass er kundtat, die Bürger hätten gefälligst dem Willen der Parlamente zu folgen, nichts anderes sei schließlich "Kern einer Demokratie", erfreute sich Ministerpräsident Stefan Mappus (CDU) auf einer Reise durch Saudi-Arabien und Katar, zwei Diktaturen am Persischen Golf, an der dortigen Ruhe, von der Regierungshandeln begleitet wird. Nicht nur er, sondern auch andere bewerten derlei "Ruhe" dabei inzwischen als Standortvorteil im internationalen Wettbewerb. So wird von der deutschen Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt in gewissen Kreisen denn aktuell auch eine Debatte über "einen möglichen Nutzen diktatorischer Regierungsformen" geführt.
Als sich Stefan Mappus (CDU), Ministerpräsident des Landes Baden-Württemberg, unlängst einen Eindruck der boomenden Region am Golf verschaffen wollte, erntete bei seiner Reise durch Saudi-Arabien und Katar, wie die Pforzheimer Zeitung vom 12. Oktober 2010 titelt, nur "Lächeln über 'Stuttgart 21'" .
Auf Unverständnis stieß in dem Land, wie derlei "Fortschritt" denn von Bevölkerungsseite so verhindert werden dürfe. Kein Wunder auch, stellt doch eine Studie der Stiftung Wissenschaft und Politik, eine vor allem aus dem Haushalt des Bundeskanzleramts bezahlte Institution, zu Saudi-Arabien fest:
Wie der omanische Regent hat auch König Abdallah bislang keinen besonderen Eifer an den Tag gelegt, um politische Partizipation rechtlich zu ermöglichen und institutionell festzuschreiben: Parteien und die meisten anderen zivilgesellschaftlichen Vereinigungen sowie Gewerkschaften bleiben ebenso verboten wie Demonstrationen. Tatsächlich hat die Regierung im Jahr 2006 sogar einen Gesetzentwurf vorgelegt, der weitere Einschränkungen für die Zivilgesellschaft vorsieht.
SWP-Studie: Familienbetriebe mit Anpassungsschwierigkeiten. Perspektiven und Grenzen politischer Reform in den Golfmonarchien.
Der Amnesty Report 2009 zu Saudi-Arabien wird sogar noch deutlicher. Hier heißt es:
Tausende von Menschen waren auch im Jahr 2008 ohne Gerichtsverfahren unter Terrorismusverdacht inhaftiert, Hunderte weitere wurden festgenommen. Im Oktober teilte die Regierung mit, dass mehr als 900 Angeklagte vor Gericht gestellt werden sollen. Menschenrechtsverteidiger und Regierungskritiker, die sich friedlich für politische Reformen eingesetzt hatten, wurden inhaftiert oder befanden sich nach wie vor in Gewahrsam, darunter auch gewaltlose politische Gefangene. Die Rechte auf freie Meinungsäußerung, Religionsfreiheit, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit blieben stark eingeschränkt.
Frauen litten weiterhin unter schweren Diskriminierungen, sowohl vor dem Gesetz als auch im täglichen Leben. Arbeitsmigranten litten unter Ausbeutung und Missbrauch und hatten kaum Möglichkeiten, ihre Rechte einzuklagen. Flüchtlingen und Asylsuchenden wurde kein hinreichender Schutz gewährt. Das Strafrechtssystem war weiterhin von Geheimhaltung und Willkür geprägt. Systematische Folterungen und Misshandlungen von Gefangenen waren weit verbreitet, und die Täter gingen straffrei aus. Auspeitschungen wurden auch im Berichtsjahr häufig als Haupt- oder Zusatzstrafe verhängt. Die Todesstrafe wurde weiterhin sehr häufig angewandt und traf nach wie vor hauptsächlich Arme, darunter Arbeitsmigranten aus Asien und Afrika, sowie Frauen. Mindestens 102 Menschen wurden im Jahr 2008 hingerichtet.
Amnesty Report 2009 zu Saudi-Arabien
Kurzum: Saudi-Arabien ist eine Diktatur. Und Katar steht dem, wenn überhaupt, in nur wenig nach:
Katar gibt sich zwar politisch reformfreudig, gestattet seinen Bürgern zurzeit aber auch nicht mehr formale Partizipation als Saudi-Arabien.
SWP-Studie: Familienbetriebe mit Anpassungsschwierigkeiten
Diktatur als Standortvorteil
Bemerkenswert ist dann umso mehr, wie Mappus sich vor Ort verhält, denn, so die Pforzheimer Zeitung weiter:
"Wir bewundern, mit welcher Schnelligkeit sie Projekte angehen und realisieren", wiederholt er fortwährend.
Pforzheimer Zeitung vom 12. Oktober 2010
Um dann weiter zu berichten:
Saudi-Arabien und Katar wirke auf ihn schon ein klein wenig wie Tausend und eine Nacht, schildert Mappus seine Eindrücke. "Ich bewundere, wie sie es schaffen, mitten in der Wüste ein Land urbar zu machen und voranzubringen", sagt er. Die Länder seien in einem unheimlichen Tempo unterwegs und hätten dabei großes Interesse an einem Austausch mit Ländern wie Baden-Württemberg. "Und der lebt davon, dass wir beim Entwicklungstempo mithalten können, und da mache ich mir manchmal Sorgen auch unabhängig von 'Stuttgart 21'", resümiert Mappus.
Pforzheimer Zeitung vom 12. Oktober 2010
Was er damit - zumindest auch - zum Ausdruck bringt, ist die Tatsache, dass sich die Demokratie, beurteilt man Regierungsformen vor allem nach ihrem "Output", nach ihrer Flexibilität und Geschwindigkeit also, Projekte umzusetzen, Waren marktgerecht zu produzieren etc. pp., auch als Standortnachteil erweisen könnte: Andere Länder, in denen das Volk weniger oder auch nichts zu sagen hat, können schlicht schneller bauen, billiger produzieren etc. Sie sind als "nationale Wettbewerbsstaaten" besser aufgestellt im internationalen Wettbewerb.
Demokratie als Standortnachteil
Mit dieser 'Interpretation' von Gesellschaft steht Mappus dabei nicht alleine da, wie unlängst Herfried Münkler, Politikwissenschafts-Professor am Institut für Sozialwissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin, in einem Aufsatz für Zeitschrift "Internationale Politik" konstatiert.
Der Vorstellung, dass in Ostasien, zumal in China, vieles besser laufe als bei uns, weil alles schneller gehe, liegt die Idee eines Verfahrens zugrunde, bei dem politische Fragen als Verwaltungsfragen behandelt werden und so der Arena öffentlicher Diskurse und rechtlicher Einsprüche entzogen sind. Die Diktatur kommt hier nicht auf demokratischen, sondern auf verfahrenstechnischen Füßen daher, und ihr Motto lautet, dass entschieden ist, was die Verwaltung entschieden hat.
Diese Vorstellung sachorientierten, entpolitisierten Verwaltungshandelns ist der Wunschtraum derer, die davon ausgehen, dass sie selbst Einfluss auf die Verwaltung haben oder deren Entscheidungen sich mit ihren Interessen decken. Auch hier bestätigt sich, was im Allgemeinen gilt: Die Anhängerschaft diktatorischer Vollmachten rekrutiert sich aus denen, die sich davon Vorteile versprechen. Wenn Manager und Industrielle mit leuchtenden Augen von China sprechen, tun sie dies nicht, weil sie Kommunisten geworden wären oder die Klugheit einer Monopolpartei bei der Führung des Staates bewundern, sondern weil sie meinen, so schneller zum Zuge zu kommen.
Herfried Münkler: Lahme Dame Demokratie. Kann der Verfassungsstaat im Systemwettbewerb noch bestehen?
Beängstigend ist dabei weniger, dass Münkler dies vermeintlich sachlich festzustellen vermag, sondern, dass seine Analyse implizit sehr deutlich macht, dass "Manager und Industrielle", zumindest einige von ihnen, hinter verschlossenen Türen bereits die Debatte darüber führen, dass die "Lahme Dame Demokratie", wo sie den Standort vermeintlich benachteiligt, auch in Frage gestellt und durch etwas anderes ersetzt werden kann:
Das Unbehagen an der Demokratie erwächst aus der Langsamkeit der Verfahren, der Schwerfälligkeit der Entscheidungsprozesse, der Mängel in der Auswahl des politischen Personals, der verbreiteten Neigung von Politikern, um die Dinge herumzureden, weil sie fürchten, für das Aussprechen von Wahrheiten politisch abgestraft zu werden, schließlich dem Einfluss von Parteien und Interessengruppen. Kommt es schlimm, schlägt dieses Unbehagen in die Hoffnung auf einen überragenden Einzelnen um, der schnelle und klare Entscheidungen treffen und anschließend das Beschlossene zügig durchsetzen soll. Der Wunsch nach "ein klein wenig Diktatur" kommt auf demokratischen Füßen daher und verzichtet auf lautstarke antidemokratische Deklamationen.
Herfried Münkler: Lahme Dame Demokratie.
Für Münkler, der diese Debatte treffend wiedergibt, stellt sich schließlich die Frage: Wie aber geht man nun vor, um der "lahmen Dame Demokratie" auf die Sprünge zu helfen, ohne sie - das wäre ja hässlich – dabei gleich ganz umzubringen? Wie kann man sozusagen die Demokratie im Lande modernisieren, um beispielsweise bei "Stuttgart 21" und anderen Projekten, aber auch bei einer Verlängerung der Atomlaufzeiten oder dem Durchsetzen so genannter "Sparpakete", sich nicht immer aufwendig und zeitraubend mit der eigenen Bevölkerung, die davon in Teilen ja so überhaupt nichts wissen will, auseinandersetzen zu müssen?
Die Schlüsselfrage lautet: Gibt es jenseits der Legalordnung Legitimitätsreserven, die angezapft und in Anspruch genommen werden können, um eine in die Jahre gekommene Ordnung zu verjüngen?
Herfried Münkler: Lahme Dame Demokratie.
Münklers Frage nutzt dabei Begriffe, die einst der NS-Kronjurist Carl Schmitt anwandte, um die Außerkraftsetzung einer demokratischen Verfassung zu begründen. Schmitt unterschied die Legitimität (Befolgung einer dem positiven Recht übergeordneten Norm) von der Legalität (Befolgung des positiven Rechts). Er vertrat in den letzten Jahren der Weimarer Republik die Ansicht, Legalität und Legitimität stimmten nicht mehr überein, und bereitete mit seiner These, zum Schutze der Legitimität könne eine Diktatur nötig werden, schließlich der NS-Herrschaft den Weg.
Auch wenn Münkler selbst schließlich doch keinen Zweifel daran lässt, dass er nach reiflicher Abwägung diktatorische Mittel ablehnt, bleibt doch die Frage, ob seine Ablehnung auch diejenigen überzeugt, die nach seiner Auskunft "heute verschiedentlich von diktatorischen Befugnissen und Maßnahmen" sprechen, offen im Raum. Und mit dieser auch jene nach einer alternativen Beseitigung des Standortnachteils, den die Demokratie der deutschen Wirtschaft ja offenkundig beschert:
Damit bleiben natürlich das Problem der Revitalisierungserfordernis von Demokratien und der Umgang mit außergewöhnlichen Herausforderungen.
Herfried Münkler: Lahme Dame Demokratie.
Demokratur als Mittelweg?
Wenn man sich jedoch die Entwicklungen der letzten Jahre in der BRD anschaut, bleibt getrost zu hoffen, dass zwischen Demokratie und Diktatur demnächst noch eine Regierungsform gefunden werden kann, die "uns" im Standortwettbewerb weniger Nachteile beschert und dennoch nicht so offen totalitär daherkommt, wie bspw. der Faschismus dies täte.
Im Gespräch befinden sich diesbezüglich aktuell unter anderem die sanfte Diktatur, der Bonapartismus, "sanfter" bzw. weicher Faschismus sowie die Postdemokratie (hierzu auch Strategien gegen Reformwiderstände). Wobei auch die faschistische Bedrohung selbst, unweich und -sanft, in Europa noch längst nicht endgültig überwunden zu sein scheint.
Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang sicherlich, dass Johannes Groß, dem einstigem Chefredakteur von "Capital", zugeschrieben wird, Mitte der 1990er Jahre geäußert zu haben:
Nach dem Scheitern des Kommunismus und der anscheinend wachsenden Funktionsschwäche der traditionellen Demokratien bleibt der Faschismus eine der Möglichkeiten der Politik.
Zitiert nach: Gerhard Feldbauer: Schon im August 1945
Ob man allein die Debatte um "neue Regierungsformen" in Deutschland vor der Folie des seit Jahren zu konstatierenden Staatsumbaus oder die Entwicklungen in Italien gleich als "Notstand der Demokratie 2.0" verstehen oder, wie die amtierende Bundesjustizministerin dies vor kurzem noch tat, als den "Weg in den autoritären Staat" bezeichnen muss, bleibt dabei sicher eine Frage des Standpunktes. Vor allem wohl dessen, ob man von derlei Notstand oder Weg schließlich profitieren können würde – oder nicht.