Strategien gegen Reformwiderstände

Eine vom Finanzministerium in Auftrag gegebene Studie geht der Frage nach, warum von Experten empfohlene wirtschafts- und finanzpolitische Reformen beim Volk nicht richtig ankommen

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Nicht nur private Think Tanks wie die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM) oder die „gemeinnützige“ Bertelsmann-Stiftung treten mit Vorschlägen und Konzepten zum Abbau des Sozialstaats durch mehr "Eigenverantwortung" der Bürger auf. Die Regierungen selbst verfolgen seit Jahren im Zuge der angeblich notwendigen Reformen zur Anpassung an die Globalisierung einen Umbau des Sozialstaats, der dessen Abbau durch Privatisierung zum Ziel hat. Da die Bürger den propagierten Verheißungen der Reformen jedoch zunehmend skeptisch gegenüberstehen, verliert insbesondere die SPD momentan mehr und mehr an Rückhalt in der Bevölkerung.

Um dem zu begegnen, hatte das von SPD-Minister Steinbrück geleitete Finanzministerium eine Studie über das „Vermittlungsproblem“ der „Reformpolitik“ in Auftrag gegeben, die in Auszügen unter dem Titel Psychologie, Wachstum und Reformfähigkeit vorliegt. Zu sehr geht – auch bei ihm – inzwischen die Sorge vor alsbaldiger Abwahl aus der Regierungsverantwortung um. Mit der Studie beauftragt war das Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) in Mannheim, das den neoliberalen Kurs der Reformen befürwortet.

Ideologische Grundannahmen in der Wissenschaft

Selbst das Handelsblatt konnte sich ob dieser Tatsache sowie der Ergebnisse der Studie eines zynischen Kommentares nicht mehr enthalten, denn:

Die Ökonomen nehmen das (ihre Studie sowie die gewünschten Reflexionen also) aber nicht als Anlass, einen Blick auf die Qualität des eigenen Expertenrats zu werfen, sondern führen es („Reformprobleme“ also) auf die Halsstarrigkeit des Publikums zurück. […] Bei der Beurteilung dessen, was eine gute Reform ist, belassen die Forscher es beim Zerrbild des materialistischen, individualistischen Homo oeconomicus, für den nur das Geld und nur der eigene Vorteil zählt. Das ist nicht konsistent und nicht zielführend.

Das ist es auch deshalb nicht, weil das wirtschaftswissenschaftliche Theorem vom Menschen als „homo oeconomicus“, der, stets nur auf den eigenen Vorteil bedacht, zweckrational handelt, seit Jahren und momentan zunehmend starker Kritik ausgesetzt und wissenschaftlich eigentlich kaum länger haltbar ist. Der Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph Stiglitz formulierte dies in einem Interview vor ein paar Jahren so:

Die Nobelpreisträger Daniel Kahneman und Vernon L. Smith haben zum Glück herausgefunden, dass viele ökonomische Theorien realitätsfremd sind.
Wieso?
Weil die Menschen offenbar systematisch unsystematisch handeln. Die beiden haben bewiesen, dass die meisten Menschen weit weniger egoistisch sind, als die Ökonomen annahmen.
Dann sind die momentanen Wirtschaftsmodelle also allesamt falsch?
Man muss leider annehmen, dass sie die Wahrheit verfehlen.

Dessen ungeachtet folgt die Studie des ZWE unbeirrt der Prämisse, dass die Regierungsreformen zum einen in einer Gesellschaft voller zweckrationalen Egoisten vollzogen würden, sowie zum anderen daher das einzig Sinnvolle und Mögliche seien, weil sie in einer solchen zu mehr „Wohlstand für alle“ führen müssten und würden.

Da die Menschen die Rationalität der Reformen, die ja zu ihrem eigenen Besten seien, nun aber nicht begriffen, verhielten diese sich „irrational“, was, so das ZWE, zwar tatsächlich eine „Abweichung von den Annahmen strenger Rationalität des Homo Oeconomicus“ darstellt, deswegen aber die Frage aufwerfe, wie selbige den Bürgerinnen und Bürgern wieder beizubringen sei.

Eine besondere Bedeutung für die Schwierigkeiten in der Durchsetzung von Reformen, die in der Expertensicht empfehlenswert sind, haben Informationsdefizite. Die allgemeine Öffentlichkeit kann nicht über den Informationsstand der Experten verfügen und lehnt daher möglicherweise Reformen aufgrund von falschen Einschätzungen über deren Konsequenzen ab.

Wenn ein Wissenschaftler die These aufstellt, alle Menschen seien rational, dann aber feststellen muss, dass diese dies gar nicht sind, müsste er eigentlich seine Theorie als falsifiziert verwerfen und eine neue aufstelle. Im Falle dieser Studie verhält es sich anders herum. Ihre Devise lautet sinngemäß: Unsere wirtschaftswissenschaftliche Gesellschaftsperspektive ist richtig; wenn die Gesellschaft sich hierzu nicht entsprechend verhält, macht die Gesellschaft etwas falsch:

Schließlich produziere die Entfesselung der Marktwirtschaft zumindest nach einer Anpassungszeit (doch nachweislich) »Wohlstand für Alle« und insbesondere neue Arbeitsplätze. Warum begreift dies die große Masse der Bevölkerung nicht? Die Antwort (des ZWE) artet (schließlich) in eine antidemokratische Schelte aus: Die größte Reformbarriere sei die mangelnde Intelligenz, die die Einsicht in diesen Umbau versperrt.

Prof. Rudolph Hickel, Direktor des Instituts für Arbeit und Wirtschaft (IAW) der Universität Bremen, in einem Kommentar

„Urteilsweisen unmittelbarer Akzeptanzrelevanz“

Da diesem Mangel an Intelligenz nun aber begegnet werden soll und muss, untersuchten die Wissenschaftler des ZEW Merkmale menschlicher Urteilsweisen von unmittelbarer Relevanz für die Reformakzeptanz wie z.B. die psychologischen Phänomene des „Status quo Bias“, der „Verlustaversion“ sowie auch „Framing-Effekte“.

Mit ersterem ist gemeint, dass Menschen nur deshalb einer Option unter vielen anderen den Vorzug geben, weil diese aus einer historischen Zufälligkeit heraus zum Status quo geworden ist. Die Verlustaversion bezeichnet das Muster, dass Menschen typischerweise deutlich stärkere negative Empfindungen beim Verlust als beim Gewinn von beispielsweise 100 Euro erleben. Framing-Effekte schließlich bezeichnen die Beobachtung, dass die umformulierte Darstellung ein und desselben Sachverhalts zu unterschiedlichen Entscheidungen führen kann: Üblicherweise wird in der Medizin eine Therapie mit „90-prozentiger Überlebenswahrscheinlichkeit“ häufiger als eine Therapie mit „10-prozentiger Sterbewahrscheinlichkeit“ gewählt, obwohl beides doch ein und dieselbe Sache beschreibt.

Für alle genannten sowie andere psychologische Phänomene zeigen sowohl die theoretischen wie auch empirischen Resultate der Studie, dass sie unmittelbar für den Reformkontext relevant sind:

Der Status quo Bias etwa erklärt, warum viele Menschen hierzulande an einem Gesundheitssystem hängen, das das Produkt einer historischen Entwicklung ist, aber angesichts seiner Unzulänglichkeiten niemals in dieser Form heute am Reißbrett neu konstruiert würde. Die Verlustaversion kann dazu führen, dass Reformen mit einem positiven Erwartungswert im Hinblick auf Einkommens- und Beschäftigungswachstum auf Ablehnung stoßen, weil die Verlierer der Reformen diese Verluste wesentlich intensiver wahrnehmen als dies umgekehrt in Bezug auf die Vorteile der Gewinner gilt. Die Framing-Effekte schließlich bieten hilfreiche Einsichten im Hinblick auf eine reformbegleitende Kommunikationspolitik: Eine Beitragsverringerung für Eltern in der Pflegeversicherung hat deutlich mehr Aussicht auf eine allgemeine Zustimmung als ein Zusatzbeitrag für Kinderlose, obwohl beide Konzepte auf eine identische Lastenverteilung hinauslaufen.

ZEWNews

Aus diesen Erkenntnissen leiten die Studienautoren dann unter anderem diese – ja nur folgelogischen – „Tipps“ für zukünftige Reformen ab:

  1. Die Anomalien, die in den „Behavioural Economics“ in Bezug auf intertemporale Kalküle offengelegt worden sind, lassen sich in Bezug auf die zeitliche Abfolge von Reformentscheidungen und -umsetzungen nutzen. So kann es hilfreich bei der Überwindung des Status-quo-Bias sein, Reformbeschlüsse heute über eine (viel) später in Kraft tretende Reform zu treffen. Eine solche Strategie setzt aber voraus, dass Beschlüsse, die sich auf Reformen in der Zukunft beziehen, als glaubwürdig und unumkehrbar vermittelt werden können. Dies dürfte am ehesten dann der Fall sein, wenn sie von einer breiten parlamentarischen Mehrheit getragen ist.
  2. In einem Experiment zur Mehrwertsteuererhöhung (die teilweise zur Umfinanzierung der Sozialbeiträge dient) wurde untersucht, ob die wahrgenommene Unvermeidbarkeit einer Reform Personen dazu bewegt, Reformpläne zu akzeptieren. Die Ergebnisse zeigen, dass standhaft vertretene Reformpläne und eine damit einhergehende Wahrnehmung der Bürger, dass die Reform unvermeidbar ist, zu höherer Akzeptanz führen. Personen beurteilen „sichere“ Reformen positiver als „unsichere“ Reformen, um kognitive Dissonanzen zu vermeiden.

Ganz allgemein raten die Gutachter reformwilligen Regierungen überdies, auf Krisen zu warten, dürfte die Akzeptanz für Reformen dann doch höher sein. In Krisen sei klar, dass mit dem Status Quo etwas faul sein müsse – wodurch dieser seine reformfeindliche Attraktivität verliere.

Privatisierung als Ziel

Ob dieser Veröffentlichung und ihrem Zustandekommen kommt man wohl nicht umhin, zu meinen, dass die Regierung womöglich eher auf Spin Doctors für eine verbesserte Kommunikationspolitik setzt, um das Gegenteil einer „Rückbesinnung“ auf die Meinung des Volkes zu vollführen, nämlich diesem die eigene Meinung bzw. Politik schmackhaft machen.

Das ist insbesondere deswegen notwendig, weil bislang vom prognostizierten und bejubelten „Aufschwung“ tatsächlich eben nur die ohnehin bereits Vermögenden profitieren, wodurch sich der praktizierte Sozialabbau hierzulande eher als Verarmungsprogramm entpuppt. Für Hartz-IV-Empfänger hat die bisher einzig „spürbare“ Auswirkung gezeitigt, dass mit der Anhebung des Regelsatzes ab 1. Juli 2007 um 2 Euro der im Regelsatz von Schulkindern bis 14 Jahren enthaltene Anteil für die Ernährung von 2,27 auf 2,28 Euro pro Tag stieg – und somit in der Regel nach wie vor nicht einmal für den Kauf der notwendigen Nahrung der Kinder in so genannten „Bedarfsgemeinschaften“ reicht.

Dabei ist das Schmackhaftmachen sowie -müssen einschneidender Reformen weder neu noch kommt es system- oder ziellos daher. Viel deutlicher als die aktuelle Studie dies zeigt, offenbart dies ein bereits 1996 von der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) publiziertes Strategiepapier. In diesem wird allen Mitgliedsstaaten der OECD als Strategie – in diesem Fall für den Bildungsbereich – nahegelegt:

"Um das Haushaltsdefizit zu reduzieren, sind sehr substanzielle Einschnitte im Bereich der öffentlichen Investitionen oder die Kürzung der Mittel für laufende Kosten ohne jedes politische Risiko. Wenn Mittel für laufende Kosten gekürzt werden, dann sollte die Quantität der Dienstleistung nicht reduziert werden, auch wenn die Qualität darunter leidet.

Beispielsweise lassen sich Haushaltsmittel für Schulen und Universitäten kürzen, aber es wäre gefährlich, die Zahl der Studierenden zu beschränken. Familien reagieren gewaltsam, wenn ihren Kindern der Zugang verweigert wird, aber nicht auf eine allmähliche Absenkung der Qualität der dargebotenen Bildung, und so kann die Schule immer mehr dazu übergehen, für bestimmte Zwecke von den Familien Eigenbeiträge zu verlangen, oder bestimmte Tätigkeiten ganz einstellen. Dabei sollte nur nach und nach so vorgegangen werden, z.B. in einer Schule, aber nicht in der benachbarten Einrichtung, um jede allgemeine Unzufriedenheit der Bevölkerung zu vermeiden."