Demokratie wird zu einer exklusiven Veranstaltung
Sinkende Wahlbeteiligung wie bei der Wahl in Hamburg ist nach einer Studie Folge der sozialen Spaltung
Mit 45,7 Prozent fuhr die Hamburger SPD am vorletzten Sonntag einen auch in dieser Höhe erwarteten Wahlsieg ein. Olaf Scholz bleibt Erster Bürgermeister, doch von einem überzeugenden politischen Gestaltungsauftrag kann nach Lage der Dinge keine Rede sein. Am Urnengang in der Freien und Hansestadt beteiligten sich nur 56,9 Prozent aller Stimmberechtigten, die Wahlbeteiligung nahm damit zum sechsten Mal in Folge ab. In manchen Stadtteilen war die Entscheidung, ausdrücklich nicht an der Besetzung der neuen Bürgerschaft teilzunehmen, sogar mehrheitsfähig. Von den gut 87.000 Wahlberechtigten im Wahlkreis "Billstedt - Wilhelmsburg - Finkenwerder" wurden nur rund 37.000 Stimmenzettel abgegeben - die Beteiligung lag hier bei 42,2 Prozent.
Die Wahlbeteiligung im Spiegel sozialer Verhältnisse
Neben Parteien und Politikern, die jahrzehntelang die Berichterstattung dominierten, rückt die kontinuierlich wachsende Gruppe der Nichtwähler immer stärker in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses. Wenn knapp die Hälfte der Bürgerinnen und Bürger auf ihr Stimmrecht verzichtet, geht es womöglich um die Akzeptanz des gesamten parlamentarischen Systems, die Auftragslage der repräsentativen Demokratie und letztlich um den Zusammenhalt einer Gesellschaft, deren Mitglieder sich offenbar nur noch sehr begrenzt auf gemeinsame Werte, Verfahrens- und Verhaltensweisen einigen können.
Die Bertelsmann-Stiftung hat sich bereits nach der letzten Bundestagswahl ausführlich mit diesem Phänomen beschäftigt und nun, wenige Tage nach dem Urnengang in Hamburg, eine neue Analyse vorgelegt, die bundesweite Tendenzen mit Blick auf eine westdeutsche Großstadt und 103 Stadtteile akzentuiert.
Die Ergebnisse sind allemal bemerkenswert, denn die Entscheidung zur Nicht-Beteiligung an demokratischen Entscheidungsprozessen hat sich offenbar verfestigt und wird von immer größeren Bevölkerungsgruppen getragen. In den zehn Stadtteilen mit der höchsten Wahlbeteiligung gingen bei der Bürgerschaftswahl 2015 immerhin 74,7 Prozent der Stimmberechtigten an die Wahlurnen. In den zehn Stadtteilen mit der niedrigsten Wahlbeteiligung waren es nur 38,9 Prozent - und damit 36 Prozentpunkte weniger. Bei der Bundestagswahl vor zwei Jahren betrug der Abstand noch rund 30 Prozentpunkte.
Hinter diesen Zahlen verbergen sich unterschiedliche Lebensverhältnisse, die eindeutig identifizierbar sind und die Schlussfolgerung nahelegen, dass zwischen der Wahlbeteiligung und dem sozialen Status der Bürger ein unmittelbarer Zusammenhang besteht.
Laut Studie unterscheiden sich die Stadtviertel mit der niedrigsten Wahlbeteiligung von denen mit der höchsten unter anderem durch fast 36-mal so viele Haushalte, die einem sozial schwächeren Milieu angehören, eine fünfmal so hohe Arbeitslosigkeit, doppelt so viele Menschen ohne Schulabschluss, eine deutlich geringere Kaufkraft (42.000 Euro pro Haushalt und Jahr vs. 60.000) und eine Pro-Kopf-Wohnfläche, die mit 29 Quadratmetern nur knapp die Hälfte des durchschnittlichen Wohnraums in den Stadtteilen mit der höchsten Wahlbeteiligung ausmacht (54 Quadratmeter).
Demokratie als Exklusivveranstaltung
Aus den tiefgreifenden Differenzen der Lebensverhältnisse und des (Nicht)Wahlverhaltens folgert der Wirtschaftswissenschaftler und Demokratieforscher Robert Vehrkamp, dass in Hamburg kein Parlament gewählt wurde, das soziale Repräsentativität beanspruchen kann. Eine zehnteilige Milieu-Analyse zeigt noch detaillierter, dass sozio-ökonomisch schwächere Gruppen in der neuen Bürgerschaft nicht angemessen vertreten sind.
Je nach sozialer Lage ihrer Stadtviertel sind die dort lebenden Menschen in der neu gewählten Hamburger Bürgerschaft sehr unterschiedlich stark vertreten. (…) Die Bürgerschaft in Hamburg ist sozial gespalten und die Demokratie wird zu einer immer exklusiveren Veranstaltung der Menschen aus den mittleren und oberen Sozialmilieus der Stadtgesellschaft, während die sozial schwächeren Milieus deutlich unterrepräsentiert bleiben.
Bertelsmann-Stiftung: Prekäre Wahlen - Hamburg. Milieus und soziale Selektivität der Wahlbeteiligung bei der Hamburger Bürgerschaftswahl 2015
Zu diesen Gruppen zählt die Studie die sogenannten traditionellen, prekären und hedonistischen Milieus, die beispielsweise drei Viertel der Einwohner im Stadtteil Rothenburgsort bilden. Hier lag die Wahlbeteiligung bei nur 38,2 Prozent, und das obwohl die wirtschaftlichen Bedingungen, etwa die niedrige Arbeitslosenquote von 3,8 Prozent, eine breite Teilhabe an politischen Entscheidungen begünstigen könnten. Doch die Milieubindung wirkte offenbar stärker als Rahmendaten und persönliche Befindlichkeiten.
Die Wahlbeteiligung wird stark vom eigenen sozialen Umfeld bestimmt. Menschen in Nichtwählermilieus gehen auch dann weniger häufig zur Wahl, wenn andere soziale Indikatoren eher für eine Wahlteilnahme sprechen. Das jeweilige soziale Umfeld erweist sich damit als eigenständige Einflussgröße auf die Höhe der Wahlbeteiligung.
Bertelsmann-Stiftung: Prekäre Wahlen - Hamburg
Diese Feststellung gilt auch für den Stadtteil Wohldorf-Ohlstedt, in dem allerdings 76,7 Prozent ihre Stimme abgaben. Der Abstand zu Rothenburgsort betrug 38,5 Prozentpunkte - ein weiteres Indiz für den Einfluss der sozialen Rahmenbedingungen auf die Entscheidung, eine neue Bürgerschaft zu wählen. Oder eben nicht.
Mehr als die Hälfte der Bewohner gehören in Wohldorf-Ohlstedt dem konservativ-etablierten Milieu an. Gleichzeitig liegt die Kaufkraft der Haushalte mit 67.000 Euro weit über dem Hamburger Durchschnitt (45.000 Euro). Wohldorf-Ohlstedt zeichnet sich durch eine stark ausgeprägte soziale Homogenität aus, denn insgesamt gehören 90 Prozent aller Haushalte einem der drei sozio-ökonomisch starken Milieus an. Das Bild des Stadtviertels ist von Klein- und Einfamilienhäusern geprägt.
Bertelsmann-Stiftung: Prekäre Wahlen - Hamburg
Verluste auf vielen Ebenen
Das komplizierte Hamburger Wahlrecht, das seit 2011 für mehr Transparenz und Motivation sorgen soll, bisher aber eher das Gegenteil erreicht, hat die Entwicklung der letzten Jahre sicher nicht positiv beeinflusst. Doch eine Verschlankung des mit fünf Landes- und fünf Wahlkreisstimmen bestückten Kandidatenkarussells dürfte kaum ausreichen, um die Wahlbeteiligung wieder auf das Niveau der Nachkriegsjahrzehnte zu bringen. Zwischen 1946 und 1987 lag sie in Hamburg bei durchschnittlich 78 Prozent.
Das Beispiel der Freien und Hansestadt zeigt (nicht allein, aber besonders deutlich), dass die parlamentarische Demokratie zu einer Pflichtübung zu werden droht, der vorwiegend privilegierte Milieus nachkommen, weil nur sie mit einem politischen, gesellschaftlichen oder wirtschaftlichen Mehrwert rechnen können. Der Wahlkampf, der dem neuerlichen Sieg des farblosen Amtsinhabers vorausging, hat zweifellos kaum einen Beitrag geleistet, um diesem Eindruck entgegenzuwirken. Dabei entwickelte nicht nur die FDP, die ihren "Mann für Hamburg" mit allerlei PR-Aktionen in die Bürgerschaft hievte und ansonsten das Prinzip "Kleine Texte-Große Bilder" verfolgte, viele Ideen, um garantiert keine inhaltliche Auseinandersetzung führen zu müssen.
Die CDU, die in Hamburg nach 15,9 Prozent nun endgültig keinen Anspruch mehr auf das Prädikat Volkspartei anmelden kann, erregte sogar das Mitleid der örtlichen Pressevertreter. Ratlose Bürger hielten ein Bild des Spitzenkandidaten Dietrich Wersich in die Kamera, das von der Frage "Kennen Sie diesen Mann?" gekrönt wurde. Nicht einmal jeder dritte Hamburger konnte sie mit "Ja" beantworten.
Wer sich beruflich mit den spannungslos inszenierten Personen und Programmen auseinandersetzen musste, wurde schnell selbst ein Opfer hanseatischer Politikmüdigkeit. "Viele Köpfe, wenig Tiefgang", mehr gab es eigentlich nicht zu sagen. Außer vielleicht noch: "Der Wahlkampf war eine Enttäuschung." Und schließlich: "Aber vielleicht wollen es die Wähler ja gar nicht anders."
Folgerichtig beweist nicht nur die Analyse der Nichtwähler, dass die parlamentarische Demokratie - oder die aktuell praktizierte Form derselben - ein wachsendes Akzeptanzproblem hat und die Parteien ihre Wähler kaum noch langfristig binden können. Nicht einmal ihre Abkehr lässt sich mehr kanalisieren, wie ein Blick auf die Wählerwanderung der CDU zeigt. In Hamburg verlor die Union rund 9.000 Wähler an Rot-Grün, ebenso viele an die FDP und auch 8.000 an die AfD, die als einzige Partei im relevanten Umfang Nichtwähler aktivieren konnte (+8.000). Weitere 4.000 ehemalige CDU-Anhänger wurden Nichtwähler oder entschieden sich diesmal für "Andere". Die Verteilung der Verluste wirkt beliebig, ja fast zufällig.
Nach der Wahl meinte der hessische Ministerpräsident und CDU-Vize Volker Bouffier, man habe in Hamburg "kein Thema gefunden, das unsere Wähler wirklich auf die Beine gebracht hätte". Wohl wahr. Die Bertelsmann-Studie zeigt allerdings: Das gilt nicht nur für die Union. Und auch nicht nur für Hamburg.