Den Corona-Virus stoppen oder mit ihm leben?
Warum die Forderungen der Linksparteivorsitzenden Katja Kipping nach einem virusfreien Deutschland weder realistisch noch emanzipatorisch sind
"Schwedischer Sonderweg offenbar gescheitert". Solche Meldungen über das angebliche Fiasko eines Umgangs mit dem Virus ohne Shutdown und mit mehr Verantwortung für den einzelnen Bürger waren in den letzten Wochen viel zu lesen. Sogar vom Ende des schwedischen Sonderwegs war zu hören.
Einige der Berichte kommen vom in Schweden für verschiedene deutschsprachige Medien arbeitenden Journalisten Carsten Stichler, der in Stockholm wegen seiner hartnäckigen und kritischen Nachfragen zum schwedischen Sonderweg zu Corona einige Berühmtheit erlangte. Stichler hat an drei Tagen aufeinander kritische Fragen zu den schwedischen Maßnahmen gestellt.
Wo bleiben die Stichlers in den deutschen Medien?
In einem Deutschlandfunk-Interview berichtet er, dass der schwedische Weg in der Coronaepidemie weder am Ende noch gescheitert ist. Zudem habe er viel Rückhalt in der schwedischen Bevölkerung. Stichler betont auch, er sei nicht der einsame Streiter gegen den schwedischen Sonderweg, als der er vor allem in deutschen Medien gefeiert wurde. Stichler zitiert aus dem Kommentar einer schwedischen Zeitung, in dem es heißt, es wären mehr von solchen Stichlers notwendig, die kritisch auch die Regierungsmaßnahmen hinterfragen.
Dabei wird ein Aspekt in dem Interview ausgeblendet. In der erklärtermaßen konsensorientierten schwedischen Gesellschaft wird ein Carsten Stichler als kritische Stimme gewürdigt. In Deutschland wird er gegen seinen Willen als Streiter gegen einen Sonderweg verkauft, der er gar nicht sein will. Doch wo bleiben in Deutschland die Stichlers, die bei den Pressekonferenzen von Regierung und Virologen ebenso kritisch nachfragen?
Die Linke und der Corona-Shutdown
Die Linkspartei könnte natürlich solche Ungereimtheiten und Widersprüche aufgreifen und auch so verhindern, dass sie von rechts instrumentalisiert werden. Doch die Linken-Covorsitzende wendet sich in einer Erklärung, die einige vernünftige sozialpolitische Forderungen wie eine Vermögensabgabe enthalten, vor allem gegen eine Lockerungslobby und wirft Merkel vor, dieser nicht konsequent genug gegenzuhalten
Auch wenn Merkel reflektierter wirkt als Laschet, Lindner und Co., zielt ihr Kurs letztlich nicht darauf, das Virus zu stoppen, sondern lediglich darauf, die Infektionskurve abzuflachen. In den sozialen Medien wurde diese Strategie unter dem Hashtag #flattenthecurve bekannt. Dieser Kurs erfordert Reproduktionszahlen um die Eins. Soll heißen, ein Infizierter steckt im Schnitt maximal einen weiteren an. Dieser Kurs hat den Vorteil, dass die Intensivstationen nicht überfordert werden, aber den Nachteil, dass die teilweisen Einschränkungen sich über einen langen Zeitraum strecken werden. Um es zuzuspitzen: Auch Angela Merkel setzt auf eine Durchseuchung, wenn auch eine abgebremste. Doch ist die Durchseuchung wirklich der richtige Weg?
Katja Kipping
Sie verneint die Frage und schlägt eine andere Zero-Corona-Strategie vor:
Heißt das nun, dass wir bis dahin im Lockdown verharren sollen? Nein, es gäbe einen Ausweg aus der Coronakrise: Und zwar den Virus zu stoppen. Ist das denn überhaupt noch realistisch? Es ist auf jeden Fall realistischer und wirtschaftlich vernünftiger als der Kurs der Lockerungslobby und als die abgebremste Durchseuchung. Dieses Land muss sich eine Stop-the-virus-Politik leisten, um eine langandauernde Kombination aus verstetigter Pandemie und ökonomischer Dauerkrise zu vermeiden. Dafür muss die Reproduktionszahl auf unter 0,5 gedrückt werden, um die 1 wird nicht ausreichen, um das Virus mittelfristig zu stoppen.
Katja Kipping
Erstaunlich ist, dass Kipping, die sich immer als Realpolitikerin präsentiert, plötzlich mit einer Forderung an die Öffentlichkeit geht, die genauso realitätsfern wie die Einführung des Kommunismus als Fünfjahresplan ist. Nur mit dem Unterschied, dass hier Zwischenschritte dahin möglich wären, während der Plan eines Corona-freien Deutschlands rein abstrakt bleiben muss und zudem noch Nebenwirkungen hat, die Kipping gar nicht gefallen dürften. Auf einige hat die Journalistin Anna Lehmann in der Taz hingewiesen:
Was Kipping nicht weiter ausführt, aber eine Konsequenz ihrer vorgeschlagenen Radikalkur wäre: Wenn das Virus einmal gestoppt und ganz Deutschland coronafreie Zone wäre, müssten eigentlich noch strengere Grenzkontrollen mit strikten Quarantänevorschriften her, die sicherstellen, dass das Virus nicht von außen wieder eingeschleppt wird. "Offene Grenzen für alle", eine Forderung, die die Parteivorsitzenden nach zähem innerparteilichen Ringen im Bundestagswahlprogramm 2017 durchsetzten, wären erst mal passé, solange Corona weltweit grassiert. Oder?
Anna Lehmann
Darauf antwortete Kipping, dass im Gegenteil die totale Bekämpfung des Virus die Voraussetzung für die Wiederherstellung der völligen Bewegungsfreiheit sei. Naiv scheint auch diese Hoffnung der Politikerin:
Wenn sich der deutsche Weg als erfolgreich erweist, werden andere Länder diesem Beispiel folgen - und Corona wird bald europaweit ausgerottet sein.
Katja Kipping
Mit dem Virus leben, heißt medizinische Versorgung für Alle
Davon abgesehen, dass sich dann Europa - wobei bei Kipping nicht klar ist, ob die EU oder der Kontinent gemeint ist - vom Rest der Welt abschotten müsste, ist die Vorstellung von einer Welt ohne den Coronavirus eine irreale Dystopie. Virologen werden bestätigen, dass Viren, die in der Welt sind, nicht mehr vollständig verschwinden. Auch in der Vergangenheit gab es schon Vorstellungen von einer aseptischen, klinisch reinen Welt, die aber eher im rechten politischen Lager angesiedelt waren.
Nur ist diese aseptische Welt nicht machbar und auch nicht erstrebenswert. Daher geht es darum, mit dem Virus zu leben. Das bedeutet vor allem, dass die Forschung so intensiviert werden muss, dass möglichst schnell Medikamente und Impfstoffe gegen das Virus und natürlich alle anderen krankmachenden Viren und Bakterien bereitgestellt werden sollten. Ganz wichtig dabei ist, dass die Ergebnisse dieser Forschung allen Menschen überall auf der Welt kostenfrei zur Verfügung gestellt werden müssen. Hier muss das Verwertungsprinzip des Kapitalismus zugunsten der bedarfsorientierten Produktion ausgeschaltet werden. Die Medikamente müssen die Menschen bekommen, die sie brauchen, unabhängig von ihren Wohnort, ihrer Herkunft und ihrer sozialen Lage.
Im Fall des Corona-Virus könnten das sogar überzeugte Wirtschaftsliberale akzeptieren, weil sie eben wissen, dass es in einer globalisierten Welt keine Rettungsinsel gegen Corona gibt. Daher könnte eine Forderung afrikanischer Politiker, dass die Ergebnisse der medizinischen Forschung zu Corona allen Menschen zu Gute kommen sollen, tatsächlich Realität werden. Dann wäre es an einer transnationalen sozialen Bewegung, die Forderung nach der bestmöglichen medizinischen Versorgung für alle Menschen auf sämtliche behandelbaren Krankheiten auszuweiten, nicht nur auf die, die auch die Menschen im globalen Norden tangieren.
Der Kampf für eine solche Forderung könnte auch dazu beitragen, dass eine heute weitgehend zersplitterte und in ideologischen Kleinkriegen verstrickte Linke wieder zu einem politischen Faktor wird. Kippings Dystopie eines Deutschland oder Europa ohne Corona ist da erst recht kontraproduktiv. Denn damit würde eine coronafreie Festung Europa imaginiert, während der globale Süden mit Corona allein fertig werden müsste. Auch wenn ein corona-freies Europa nicht realistisch ist, allein solche Vorstellungen sorgen für weitere Abschottung und tragen gerade nicht zu einer transnationalen Bewegung bei, die für die Bekämpfung von Krankheiten eintritt.
Der Autor ist Mitherausgeber des Buches Corona und die Demokratie - eine linke Kritik, das heute erschienen ist.