Den Haag wirft dem Kosovo-Präsidenten fast 100 Morde vor

Hashim Thaçi. Foto: Estonian Foreign Ministry. Lizenz: CC BY 2.0

Hashim Thaçi vor dem Sondergericht für Kriegsverbrechen während des Kosovokriegs erscheinen

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Im niederländischen Den Haag gibt es nicht nur ein Ständiges Schiedsgericht, einen Internationalen Gerichtshof und einen Internationaler Strafgerichtshof, sondern auch ein Sondergericht für Kriegsverbrechen während des Kosovokriegs. Es existiert seit fünf Jahren und präsentierte gestern seine erste Anklageschrift. In ihr wirft man dem amtierenden kosovarischen Staatspräsidenten Hashim Thaçi unter anderem Mord in fast hundert Fällen vor.

Bevor der 52-jährige Angeklagte 2016 Staatspräsident wurde, war er lange Ministerpräsident. Dieses Amt wurde ihm erstmals 1999 übertragen. Damals geschah das nicht durch eine Wahl, sondern durch die UÇK, die nach dem NATO-Einsatz im Kosovo die Macht ergreifen konnte. Für diese UÇK, deren Chef er seit 1998 war, hatte Thaçi seit 1993 aus seinem damaligen schweizerischen Exil heraus in großem Maßstab Geld und Waffen beschafft, mit denen diese Organisation Anschläge auf Polizisten verübte.

"Dominanz des clanbasierten […] Herrschaftssystems"

In dieser Zeit knüpfte der Kosovare einer für das deutsche Verteidigungsministerium angefertigten Studie des Instituts für Europäische Politik (IEP) "auf internationaler Ebene […] weiter reichende kriminelle Netzwerke" als sein politischer Konkurrent Ramush Haradinaj. Die als "Verschlusssache" eingestufte Studie des IEP kam Anfang 2007 außerdem zu dem Schluss, dass der Kosovo "fest in der Hand der Organisierten Kriminalität" ist, die dort "weitgehende Kontrolle über den Regierungsapparat" hat.

Der Bericht führt aus, wie "parallel zum öffentlichen Ordnungswesen" die "Dominanz des clanbasierten […] Herrschaftssystems" wuchs, während der NATO-Angriffe einen "exponentiellen Machtzuwachs erfuhr und nach dem Zusammenbruch der jugoslawischen Ordnung zur alleinigen gesellschaftlichen Autorität im Kosovo avancierte." Anschließend kam es zur:

Herausbildung von clangesteuerten politkriminellen Netzwerken, die seither maßgeblich die ökonomischen Geschicke des Kosovo kontrollieren und konkurrierende legal aufwachsende Strukturen notfalls mit Waffengewalt eliminieren [...] Unter dem Deckmantel der Etablierung politischer Parteien verfestigten rivalisierende Clans [ihre] Machtstrukturen und konnten in Folge mehrerer Wahlen sowie aufgrund der politischen Anerkennung seitens internationaler Institutionen wie UNMIK und KFOR eine bislang unübertroffene Machtfülle erlangen. (IEP-Verschlussache)

Menschenhandel, Zwangsprostitution, Organmetzgerei

Daneben kontrollieren die albanischen Akteure auch Menschenhandel und Zwangsprostitution, die vor allem durch die Truppenstationierung auch im Kosovo selbst ein lukratives Geschäft waren. Laut einer für das US-Repräsentantenhaus gefertigten Studie wurden sie auch dazu genutzt, um die stationierten Truppen zu "neutralisieren" (vgl. Klares Votum für ein unabhängiges Mafiastan).

Einem 2010 erschienenen und auf die Vernehmung von Zeugen und Einsichtnahmen in Geheimdienstunterlagen mehrerer europäischer Ländern gestützten Bericht des Europarats-Sonderbeauftragten Dick Marty war Thaçi außerdem der Kopf hinter Entführungen und Organentnahmen, die Carla Del Ponte, die frühere Chefanklägerin des Internationalen Gerichtshofs, in den Nullerjahren untersuchte. Sie hatte Informationen darüber erhalten, dass nach dem NATO-Einmarsch junge und gesunde Serben entführt und in die Nähe der albanischen Kleinstadt Burrel verschleppt wurden, wo man ihnen die verkäuflichen Organe entnahm. In dem Haus, in dem das geschehen sein soll, entdeckten die Ermittler trotz mangelnder Kooperation der albanischen Behörden nicht nur die komplette medizinische Ausrüstung für solche Organentnahmen, sondern mittels Luminol und Infrarotlicht auch massenhaft Blutspuren.

Später verschwanden diese Beweismittel allerdings und mögliche Zeugen wurden ermordet. Damit erging es ihnen ähnlich wie neun von zehn potentiellen Belastungszeugen, die gegen den ehemaligen Kosovo-Regierungschef Ramush Haradinaj aussagen sollten. Haradinaj wurde schließlich aus Mangel an Beweisen freigesprochen, nachdem der zehnte und letzte lebende Zeuge gegen ihn knapp einem Attentat entging und seine Aussage zurückzog (vgl. IS-Vorbild UÇK?).

Dass auch Zeugen gegen Thaçi etwas zustößt, scheint nicht ganz ausgeschlossen, wäre aber möglicherweise nur bedingt dazu geeignet, außergerichtliche Zweifel an der Unschuld des ehemaligen UÇK-Chefs zu zerstreuen. Denn je mehr jemand tatsächlich im Organisierten Verbrechen zu sagen hat, desto besser sind seine Möglichkeiten, so etwas zu veranlassen. Nicht nur im Kosovo, sondern in allen Ländern, in denen Gruppen, auf die er Einfluss hat, eine Rolle spielen.

In Westeuropa ging der Einfluss albanischer Banden in den letzten beiden Jahrzehnten allerdings eher zurück. Nicht deshalb, weil dort Polizei und Justiz so erfolgreich gewesen wären, sondern weil sie von noch gewaltbereiteren Gruppen teilweise verdrängt wurden: tschetschenischen Banden.