Der Amri-Komplex: Anatomie eines Terroranschlages

Seite 3: Die Medien und die Öffentlichkeit

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An den Schauplätzen, auf denen der Anschlag vom 19. Dezember 2016 heute verhandelt wird, den Untersuchungsausschüssen der drei genannten Parlamente, ist das Interesse von Öffentlichkeit und Medien unterschiedlich. In Düsseldorf gibt es so gut wie keine Publikums- und Medienpräsenz. Im Berliner Abgeordnetenhaus dagegen beobachtet eine Handvoll lokaler und regionaler Medien beständig die Sitzungen, Publikum findet sich aber nur noch selten ein. Im Bundestag ist es umgekehrt. Wenn die Sitzungen beginnen, verfolgen nicht selten 20, 30 oder mehr Zuschauer die Zeugenvernehmungen. Presse ist allerdings kaum noch vertreten. Die sogenannten Leitmedien glänzen durch Abwesenheit.

Der Rechercheverbund von Süddeutscher Zeitung, WDR und NDR hat beispielsweise die Abschiebung Ben Ammars im Februar 2017 begrüßt. Rückhaltlose und schonungslose Recherchen sind da nur schwer zu erwarten. Wenn es um Fragen der nationalen Sicherheit geht, scheinen manche Journalisten zu vergessen, welchen Beruf sie haben. Und vielleicht ist das ja die Lektion, die sie aus der NSU-Affäre gelernt haben: Erst gar nicht mehr in Richtung des Sicherheitsapparates zu schauen, weil sonst die Gefahr droht, dass dessen Verstrickung in den Terror besichtigt werden könnte.

Von Telepolis abgesehen berichtet eigentlich nur noch die junge Welt einigermaßen regelmäßig über den U-Ausschuss des Bundestages sowie ein freier Journalist und eine freie Zeichnerin, die nach jeder Sitzung einen Podcast herstellen. Dennoch sorgen selbst diese wenigen offensichtlich noch für zu viel Öffentlichkeit. Das Bundesinnenministerium sah sich ab Mai 2019 veranlasst, dem Ausschuss keine Klarnamen der Zeugen des BKA, sondern nur noch deren Initialen mitzuteilen. Begründung: Die Namen fänden sich in der Presseberichterstattung und vor allem in sozialen Medien wieder. Damit sei die "Arbeitsfähigkeit des BKA sowie letztlich das Staatswohl der Bundesrepublik Deutschland gefährdet".

Man muss an dieser Stelle erwähnen, dass alle Zeugen des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV) nicht unter ihrem bürgerlichen Namen, sondern nur unter Aliasnamen im Ausschuss auftraten. Einige waren zusätzlich optisch verändert, zum Beispiel durch Perücken.

Die Opfer

Zwölf Menschen unterschiedlicher Nationalität starben am 19. Dezember 2016, mehrere Dutzend wurden zum Teil schwer verletzt. Ein Mann liegt noch immer im Koma, andere sind nach wie vor in medizinischer Behandlung, viele brauchen psychologische und psychotherapeutische Hilfe. Auch Betroffene, die nicht körperlich verletzt wurden, sondern das Ereignis nur miterlebten, sind arbeitsunfähig. Jeden Tag überkommen sie Heulanfälle.

Die staatliche Opferhilfe war für Terrorfälle bisher nicht ausgelegt. Selbst die NSU-Mordserie hat die Parlamente nicht veranlasst, entsprechende Opferhilfegesetze zu verabschieden. Das soll sich erst jetzt ändern, und ist vor allem ein Ergebnis der Initiative der Betroffenen des Anschlages vom Breitscheidplatz. Vom neuen Opferentschädigungsgesetz werden die Opfer und Hinterbliebenen selber aber nichts mehr haben.

Die Auseinandersetzung um Hilfen und Entschädigungen hat dazu geführt, dass sich die Betroffenen vernetzt haben und den traditionellen Weg der Vereinzelung verlassen haben. Mit den aufkommenden Widersprüchen, Ungereimtheiten und gar Manipulationen im Umgang mit der Tat und dem oder den Tätern haben die Betroffenen dann begonnen, sich regelrecht zu politisieren. Einige von ihnen besuchen die Untersuchungsausschüsse, wo sie nicht nur die Konflikte der Parlamente mit den Sicherheitsbehörden erleben, sondern sich obendrein in der Materie qualifizieren. Dennoch sind gerade diese Sitzungen mit den fortwährenden Enttäuschungen darüber, dass staatliche Stellen nicht alles tun, um für Aufklärung zu sorgen, für sie emotional und psychisch besonders anstrengend. Die längst nicht geschlossenen Wunden reißen immer wieder auf.

Jedenfalls sind "die Opfer" auf ihrem Weg von Objekten zu Subjekten geworden, die in ihrem eigenen Namen sprechen und so verunmöglichen, dass verschiedene politische Interessen, wie sonst üblich, im "Namen der Opfer" sprechen. Sie kritisieren die ungenügende und langsame Aufklärung und formulieren Forderungen, wie die, in den Untersuchungsausschüssen Fragerecht zu bekommen.

Unbequeme Opfer, die derart zu einem politischen Faktor geworden sind, dass sich die Regierung bemüßigt sah, sich ihnen zu stellen. Wiederholt gab es spezielle Treffen mit Vertretern von Bundesministerien, zuletzt mit Bundesinnenminister Horst Seehofer persönlich, aber auch mit Vertretern von BKA und BfV. Dabei geht es allerdings nicht immer nach den Regeln der Fairness. So, wenn ausgerechnet der Bundesinnenminister gegenüber den Opfern deklamiert, der Bundestagsuntersuchungsausschuss solle schneller arbeiten. Er versucht, Opfer und Parlamentarier gegeneinander auszuspielen. Ist es doch vor allem sein Ministerium, das die Aufklärung bis heute verschleppt und behindert.

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