Der Anti-Barlow
John Perry Barlow, Farmer, Songschreiber und Mitbegründer der Electronic Frontier Foundation, rückt seit der Publikation seiner "Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace" nicht mehr aus dem Sperrfeuer der Kritik
Das Netz reagiert auf Barlows Pathos mit dem Beginn einer kritischen Selbstreflexion. Pit Schultz und Geert Lovink haben sich Barlows Pamphlet aus der Perspektive ihrer Netzkritik vorgenommen.
Weitere Beiträge in Telepolis, die im Kontext von Barlows Unabhängigkeitserklärung (deutsch,englisch)stehen oder sich direkt mit ihr auseinandersetzen:
Richard Barbrook/Andy Cameron: Die kalifornische Ideologie Teil I und Teil 2
Timothy Druckrey: Netzpolitik und Datenterrorismus
John Horvath: Die Unabhängigkeit des Internet und der Massengeist
Stefan Münker: Cybermythen
Florian Rötzer: Raumutopien des digitalen Zeitalters
Am 9. Februar 1996 veröffentlichte John Perry Barlow, ehemaliger Chef der Electronic Frontier Foundation, vom schweizerischen Davos aus ein elektronisches Pamphlet mit dem Titel A declaration of independence of cyberspace, das sich binnen Stunden im Netz verbreitete und heute in unzählbaren Kopien auf den Websites und privaten Computern der Wired World einen neuen Stand in der Wunschökonomie der Netze markiert.
In einem Pathos der Distanz verteidigt das Manifest den Autonomieanspruch virtueller Anarchie gegenüber den Partikularinteressen von Nationalstaaten, Bürokratien, Industrien, Kirchen und allem, was der alten Welt zugerechnet wird. Es stellt einen Wendepunkt in der kurzen Geschichte des Cyberspace dar, weil hier, wenn auch auf rhetorisch plumpe Weise, der Anschluß an die große Politik gesucht wird. Das Manifest, man ahnt es schon, ahmt den jedem Amerikaner seit spätesten der primary school bekannten patriotischen Gründungsakt von Thomas Jeffersons nach.
Zu einem Zeitpunkt, an dem sowohl Legislatur, Bankenwesen und Institutionen in das Netz drängen, wird ein abgespaltener mythischer Wunschraum des gesetzlosen Raums angerufen, der, da er nun derartig kollektiviert ist, ein Paradefall für eine zu entwickelnde Schizo-Analyse der Netze liefern könnte.
Anlaß ist der Communication Decency Act, der die Verwendung von Worten wie 'shit, fuck, motherfucker, dick, cocksucker, cunt etc.' im Internet unter Strafe stellen will. Dieser betrübliche Zensurversuch kann als Testballon der staatlichen Gewalten gewertet werden, um das staatsfeindliche Potential der Wunschströme und Fliehkräfte in der expandierenden Infosphäre zu messen. Sein Platzen ist eingeplant, aber die Stimmungsbarometer des symbolischem World-Wide-Web-Widerstands, liefern längst entscheidendere Daten über einen umsichgreifenden Cyber-Separatismus.
You don't have any authority where we gather
John Perry Barlow
Eine merkwürdige Autonomiebewegung meint ein schwereloses Territorium gefunden zu haben. Gleich einem Baumhaus zieht man sich von harten Leben der materialistischen Erwachsenenwelt in die ewige virtuelle Kindheit zurück. Das Besondere an dieser Fluchtbewegung ist, daß sie sich im Einklang befindet mit der neoliberalen partriotischen Ideologie einer deregulierten globalisierten Info-Ökonomie unter Vorherrschaft vorwiegend amerikanischer corporate states, dem virtual america eines Newt Grinrich, beschrieben in der Magna Charta of the Knowledge Age.
Der vorherige Versuch eines Orwellschen Überwachungs-Chips (der sogenannte Clipper-Chip) schlug bereits fehl, nicht zuletzt weil Wissenschaftler aus den Reihen der cyberrights now-Bewegung bewiesen, daß er Mängel habe und überdies zu umgehen sei. Aussichtsreicher erscheinen dagegen die eher verdeckten Versuche des Pentagon, flächendeckend und automatisiert Überwachungen durchzuführen, wobei auch hier vermutet wird, daß der Rechen- und Speicheraufwand nicht mit dem Wachstum der Netze mithalten kann. Und schließlich soll die CIA, natürlich gerüchteweise, den Aufkauf der INTERNIC-Server vorantreiben, die die Namensvergabe im Internet verwalten. Deren Abschalten würde einige Orientierungslosigkeit auslösen.
In einer weltumspannenden Solidarisierungscampagne ist es nun der freiheitsliebenden Internetgemeinde gelungen, sich auf einen kleinsten gemeinsamen Wertekonsens zu einigen: free speech. Auf Pornosites, privaten Homepages, bei Microsoft.com und linken K-Gruppen-Servern prangt derzeit the Blue Ribbon. Per Klick verweist es auf den Zentralserver der EFF, bei der auch Barlows Dokument zu finden ist. Die Aktion steht in einer bestimmten Tradition der Erinnerung und des Abschieds: Black Ribbon - im Gedenken an verstorbene Persönlichkeiten; Yellow Ribbon - an Golfkriegs-Opfer, Red Ribbon - an AIDS-Tote, und Blue Ribbon? "The death of the net-as-we-know-it?"
Es ist zu vermuten, daß der Verlust an Freiheitsgefühl eher aus dem Anschluß an viele andere, dem Realitätsprinzip weit mehr verpflichteter Netze wie Bankenwesen, Telearbeit, aber auch konkrete soziale Netze zurückzuführen ist.
Was aber soll nun freie Rede in den Netzen heißen? Allein die Tatsache, daß nach penibelster Suche nicht mehr als ein Dutzend Antworten auf Barlows Manifest zu finden waren, dieses selbst aber in hunderten verschiedener Layouts zirkuliert, zeigt unter der Berücksichtigung der möglichen Freiheitsgrade ein bedenkliches Ungleichgewicht zwischen Differenz und Wiederholung. "Das Halbwissen der Welt in der Hosentasche" nennt es die c't und beschreibt eine Info-Ökonomie der Netze, die auf einem zweifelhaften Komplex von Macht und Wissen basiert, der durch nichtssagende feine Unterschiede sowie erhabene Blöcke von Redundanz geprägt ist. Niemand scheint verhindern zu können, daß sich gerade die verführerischsten Dummheiten rasend schnell verbreiten können. Nicht der Zensor ist gefragt, sondern die verantwortungsvollen Benutzer. Netzkompetenz oder besser Zivilcourage im Internet kann sich nicht darauf beschränken, den Forward-Knopf zu betätigen.
Kleine Philosophie der virtuellen Freiheit
Die Abwesenheit von Zwang führt nicht unbedingt zu einer freien Entfaltung des Willens, wenn dieser sich als fatalistischer Wille zur Unterwerfung entpuppt und sich kollektiv zum Willen zur Virtualität vereinigt. Die dualistische Trennung in eine Freiheit des Cyberspace und eine Notwendigkeit des Materiellen scheint ebenfalls unpraktisch, da mehr und mehr Leute am Bildschirm ihr Geld verdienen müssen. Der normative Freiheitsbegriff einer individuellen Entfaltung ließe sich mit dem der eher metaphysischen Wahlfreiheit koppeln, und in pragmatisch-informationstheoretischem Sinne ließe sich erklären, daß es nicht um die Ausnutzung, sondern um die Virtualität von Freiheit geht, also um Freiheitsgrade, die jedem immer offen stehen, wie z.B. der soziale Abstieg oder das Drücken eines anderen Knopfes.
Die Freiheit, die Barlow meint, hat nichts mit derjenigen im traditionellen öffentlichen Raum gemein. Sennet, Virilio, Ronell und McLuhan folgend, hat der organlose Organismus der elektronischen Medien diesen längst narkotisiert. Während die Popularität politischer Massendemonstrationen abnahm und in gezielte, global medienwirksame Aktionen 'an-stelle-von' überging, eröffnet sich außerhalb der elektronischen Einschließungen ein wachsendes, körperbezogenes und materialistisches Bedrohungspotential. Wie zuletzt durch die Unruhen in L.A. oder in London offenbar wurde, greift man im Gegenzug zur Virtualisierung auf die altbewährten Mittel der Disziplinargesellschaften - Polizeiknüppel, Tränengas, Helikopter, mitunter auch die Armee - zurück. Die Kontrolle der Körper mittels der Datenkörper aber verläuft über genau die Sphäre, die Barlow für unabhängig erklären möchte, denn der Cyberspaceist mehr als nur das Internet. Er ist die Gesamtheit aller Datennetze, zu denen auch die der Polizei und des Finanzkapitals gehören.
We have no fear.
John Perry Barlow
Während die Onlinedienste große Zuwächse an Uservieh verzeichnen können, macht uns Pater Barlow auf die Funktion des Datenraums als Schutzbunker und Angstbewältigungsapperat aufmerksam. In Tschetschenien und Bosnien, aber auch in Oklahoma, Tokio und Jerusalem, und nicht zuletzt in den US-Amerikanischen Ghettos, berichten die real lethal weapons von den unsauberen Grenzen der Virtualität. General Barlows Schlachtruf: "They declared war on Cyberspace" klingt ganz nach: "seit dem 9. Februar wird zurückgeschossen." Aber im Datenraum schießt man nicht.
Wired Magazine, das kalifornische Zentralorgan der virtuellen Klasse, beschreibt in seiner Märzausgabe gewohnt süffisant, wie man dem Präsidenten von Serbien eine hochauflösenden, satellitengestütztem Landsimulation namens PowerBuilder vorführte, der durch das gottgleiche Auge der Cyber-Kriegsmaschine alles sieht und folglich auch zerstören kann. Der Präsident rief lediglich erfreut aus: "Hier ist das Haus meiner Großmutter". Man ist stolz auf das virtuelle Abschreckungspotential und macht sich lustig über die brutale Rückständigkeit des realen Krieges.
Industries of flesh and steel, you have no authority were we gather.
John Perry Barlow
Der gnostische Schnitt (Hakim Bey) zwischen der geistigen und materiellen Welt, den Barlow so anrührend besingt, stellt das alte duale Weltbild und Herrschaftsgefüge des Kalten Krieges wieder her. Potentiell schlecht ist alles, was außerhalb unserer Netze liegt. Innerhalb sollen archaische Formen der Justiz ausreichen.
We know how we solve our problems.
John Perry Barlow
Diese Systemtheorie des Wilden Westens für die Massen exportiert ihre Komplexitäten ins Außen: das Alte, Europa, die industrielle Produktion, die sozialistische Altlasten, die kafkaeske Bürokratie der geschichtsbeladenen Kolonialwarenstaaten, aber auch Autos aus Detroit oder die Intellektuellen der Ostküste geraten zu den Plagegeistern des Cyberspace-Zeitalters.
Es gehört zu den beliebten Mythen des Internets, daß es von sieben Weisen (Internet society) gegründet und von verschiedenen Geheimbünden und Projekten (Scientology, GNN, Project 2000, Wired, Doors of Perception, Extropians) auf einen globalen Take-off ins Imaginäre vorbereitet wird. In der Hierarchie der Hacker, die der einer Welt von Tolkien gleicht, hat der Wizard einen Grad an Technikverbundenheit erreicht, der es ihm ermöglicht, so mit den Datenströmen zu reden, wie der Indianer mit den Flüssen und Bäumen.
We are in conversation with the bits.
John Perry Barlow
Auf dieser molekularen Ebene ist auch heute noch das Internet selbst für ausgemachte Experten ein Rätsel der Unberechenbarkeit und immer wieder ein Anlaß zur Naturromantik.
If they censor, it will rout around it.
John Perry Barlow
1969: Internet, Unix und Hippytum (samt Acid). 1996: ein Jahr nach Windows95 und dem Techno-Zenith wäre das Jahr, in dem die Deterritorialisierungsbewegung der Internetisierung allmählich umkippen könnte. Barlow verfolgt augenscheinlich die Errichtung eines Freistaates Internet. Die slowenische Künstlergruppe NSK hat vor einiger Zeit bereits einen virtuellen Staat gegründet, mit ganz eigenen gewaltsamen Erfahrungen der Staatenbildung und Staatenauflösung. Nach aller mißglückter Metaphorik um Autobahnen und Städte im Netz scheint jetzt ein Grad an Übertragung erreicht, dem man nicht mehr auf die leichte Schulter nehmen kann. Kann es sein, daß ein technischer Standard ausreicht, um eine kosmopolitische world-nation zu gründen? Wieso gibt es dann keine telephone-nation?
Für eine Nationenbildung ist die Berufung auf ein unhinterfragbares Naturrecht sinnvoll. Prophet Barlow spricht wiederholt vom Netz als Natur. Bei einer verbreiteten Version von Netzwahn geht es bereits heute um den Glauben, man habe es mit einer neue digitalen Lebensform und nicht bloß mit einer Metapher für das noch Ungewohnte zu tun. Hier verschmelzen New-Age Ideologien und Männer(allmachts)phantasien zu einer neuen Abart des Vitalismus, der im technischen Fortschritt ein Naturprinzip walten sieht, dessen Ziel es unter anderem sei, die Körper zu verlassen und Geistwesen oder gleich eine ganze Gesellschaft des Geistes zu werden.
Netzprophet Barlow, der früher einmal Religionswissenschaften studierte, sah es bisher als nicht für nötig an, sich von seiner Predigt zu distanzieren. Er selbst versuchte, sich in zwei bis drei kärglichen Stellungnahmen auf dem Netz herauszureden, indem er seine Ausführungen nur eine Idee und extrem spekulativ nennt, um damit die Sache nur desto zweifelhafter zu machen. Als ehemaliger Lyriker hätte er sich auf die Autonomie der Kunst berufen können, um die Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace zu einer Art von Gedicht zu erklären, so aber zeigt er nur um so deutlicher die Gefahr einer neuen Art von Techno-Ideologie für die Massen auf, in der es um unumstössliche Überlegenheitsgefühle, das Ansprechen niedriger Instinkte und vor allem ein neues diffuses Gemeinschaftsfefühl geht, daß sich dreist den verschiedensten Mythen bedient, um sich den Nimbus unhinterfragbarer Erhabenheit und mystischer Metaphysik zu verleihen.
Die Autonomie, mit der Barlow uns zu faszinieren versucht, hat vielerlei Wurzeln. Einerseits ist es die Abgeschlossenheit der Turingmaschine, das geschlossene System eines Algorithmus, das nur Daten und abstrakte Programmzustände kennt, die sich hier kollektiviert. Weiterhin ist es die alte Utopie von der Republik der Intelektuellen, die glauveb, die Welt zu regieren. Wie jede Ideologie hat auch Cyberspace eine eigene Sphäre der Unangreifbarkeit und ist darin einer Wahnidee nicht ganz unähnlich. Es mag verschiedene Stadien geben, von denen der kollektive Glaube an die Unabhängikeit des Cyberspace wahrscheinlich die größten Risiken in sich trägt. Als Dichter und Vordenker geht es Barlow darum, den umgekehrten Weg von der Realität ins Imaginäre zu gehen, um dem nun Rätselhaften auf neue Weise einen alten Namen zu geben. Und so ward es Cyberspace.
Da es hier um Begriffe des Territorialen geht, hat Barlow zugleich den neuen Kontinent Cyberamerika entdeckt, der zwar nur ungenügend beschrieben ist, wenn man ihn in räumlichen Begriffen denkt, aber zumindest überaus hilfreich ist, um kollektive Wunschströme zu bündeln, wie das bei den Kreuz- und Pilgerzügen, Apollo-Missionen und anderen großen Aufbrüchen der Fall ist. Einem Zuviel an Freiheitsgrad wird eine heroische Mission gegenübergestellt. Das Interesse geht darin, die digitale Revolution gewinnbringend umzulenken und es eben nicht zu einer Umwertung aller Werte kommen zu lassen.
Was treibt uns in die Netze? The desire to be wired, der Wille zur Virtualität (Arthur Krokers Update zu Nietzsches Unvollendetem) bezieht sich auf ein dynamisches Wortfeld um Information, Geist, Virtualität, Potentialität, Kraft, Energie, Begehren. Kommende Legionen von Kulturwissenschaftlern, Ethnographen, Soziologen und nicht zuletzt Philosophen werden den geistigen Überbau zusammenzimmern, der schon längst als Ready made bereit steht.
Das Internet hat die französische postmoderne Theorie auf den Boden zurück gebracht.
Sherry Turkle
Es fragt sich, auf welchen Boden.
Aus der kybernetisch vergeistigten Meta-Ökologie Gregory Batsons (Information ist jeder Unterschied, der einen Unterschied macht) kolonisiert die amerikanische Netzmoderne das kommende Volk einer sich im virtuellen Raum durch gnadenlosen Wettbewerb abrackernden Gesellschaftsform, die sich immer wieder auf den unstillbaren Pioniergeist einer nomadischen Technik-Avantgarde stützt. Das Netz wird zum Naturzustand erklärt, und eine verwissenschaftlichte Metaphernpolitik entdeckt ein Leben zweiter Ordnung in den Speichern der Computer und im Netz insgesamt. Dieser Neo-Vitalismus kann die Freude der Junggesellen, Anschluß an den Reproduktionsapperat des digitalen Élan-vital gefunden zu haben, nur schlecht verdecken.
Das alte protestantische und esoterische Gepäck der Pilgerväter liefert die Tradition für ein sowohl dem delirierenden Infokapitalimus wie auch einer naturbefohlenen aquarius conspiracy verpflichteten spirituellen Zeitalters und digitaler Wertschöpfung. Es erinnert an eine ganzen Reihe von Überwindungsphantasien von Nietzsche und Jünger bis hin zu Foucault.
You don't know where we have been.
John Perry Barlow
Die Netzmoderne dient als Garant dieses kommenden Volkes. Analog den neuen Rechten sieht man den Kulturkampf als entscheidendes strategisches Element.
Dominate culture today and you control the laws in 15 years.
John Perry Barlow