Der Auszug aus dem Gazastreifen

Schon bevor die Räumung von 25 israelischen Siedlungen in den palästinensischen Gebieten offiziell begonnen hat, sind viele Siedler umgezogen – eine Reportage

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Bis Sonntag Nachmittag waren rund 600 der insgesamt 1800 betroffenen Familien freiwillig ins israelische Staatsgebiet umgezogen. Die Regierung hat dort für sie, meist nur für die Übergangszeit gedachte Wohnlösungen bereitgestellt. So sind zwei Siedlungen im nördlichen Westjordanland nun leer; in mehreren Ortschaften im nördlichen Gazastreifen sind nur noch wenige Menschen verblieben. Die Siedler, die sich weigern wollen, freiwillig zu gehen, planen derweil ihre letzten Protestaktionen.

Ein letzter Gang durch leere Räume, ein letzter Blick durchs Wohnzimmerfenster in den Garten mit den beiden Bäumen, zwischen denen man so gut eine Schaukel aufhängen konnte. Oder eine Hängematte. „15 Jahre haben wir hier gelebt“, sagt Chanan Goldblatt: „Es war eine schöne Zeit.“ Er schließt die Tür ab, „Gewohnheit“, sagt der sonnengebräunte Enddreißiger mit Shorts und T-Shirt entschuldigend, schaut den Schlüssel an, fast eine Minute lang, bevor er sich abrupt umdreht, schnell zum Gartentor läuft und den Schlüssel dem Mann im grauen Anzug in die Hand drückt, der dort seit einer halben Stunde wartet: Das Haus der Familie Goldblatt gehört jetzt der Regierung, die es bald abreißen lassen wird.

"Unser Leben ändert sich jetzt"

Denn Netzarim ist eine von 21 israelischen Siedlungen im Gazastreifen, die neben vier Ortschaften im nördlichen Westjordanland von dieser Woche an geräumt werden; die Goldblatts sind fünf von insgesamt 9500 Menschen, die sich deshalb ein neues Zuhause suchen müssen. „Ich war immer gegen den Siedlungsbau, und bin es auch jetzt noch“, sagt der Mann von der eigens für die Räumung geschaffenen Behörde SELA, der Ya’acov Levinson heißt und früher beim Finanzamt gearbeitet hat: „Das war zwar langweilig“, sagt der 32-Jährige. „Aber im Moment sehne ich mich dahin zurück. Tag für Tag, seit Wochen schon, wickle ich die Leben von Menschen ab, die einer großen Lüge aufgesessen sind. Ich erlebe ihren Schmerz und ihre Zukunftsängste mit.“

Es ist Sonntag Mittag. Am Freitag haben die Goldblatts, die eigentlich nicht sonderlich religiös sind, Schabat gefeiert: Man isst gut, pflegt angenehme Konversation, ist guter Laune. Nach und nach sind die Freunde und Bekannten vorbei gekommen, um sich zu verabschieden. „Hier hatten wir ein enges Verhältnis zueinander“, sagt Anat Goldblatt: „Es war eine kleine Gemeinschaft, in der man sich gegenseitig half, wenn es einem nicht gut ging. Ich hoffe, ich wünsche mir, dass uns dies erhalten bleibt. Aber ich befürchte, dass dies nicht möglich sein wird, auch wenn viele von uns auch in Zukunft eng beieinander wohnen werden: Unser Leben ändert sich jetzt.“

Am Ende des Abends hat Anat die drei Kinder, acht, zwölf und 14 Jahre alt, in den Zweitwagen gepackt und ist zu ihren Eltern nach Rischon LeZion in der Nähe von Tel Aviv gefahren. „Es ist besser, diese Sache so einfach wie möglich durchzuziehen“, hat Chanan gesagt: „Dies ist kein normaler Umzug. Wenn man von Jerusalem nach Tel Aviv zieht, kann man jederzeit wieder zurück. Hierher, nach Gaza, wird es keine Rückkehr geben.“

Warum sie sich dazu entschieden haben, schon vor dem offiziellen Räumungsbeginn am 15. August umzuziehen? „Am Anfang haben wir uns gewehrt, sind zu Demonstrationen gefahren, haben darauf gehofft, dass die Knesseth, die Regierung, irgend jemand, die Räumung doch noch stoppen wird,“ hat Anat berichtet. Und Chanan hat hinzu gefügt: „Wir müssen realistisch sein, an die Kinder denken. Ich möchte nicht, dass sie von Soldaten aus dem Haus geführt werden. Wem würde das etwas bringen? Das Spiel ist sowieso verloren.“

So wurde die Familie zu einer von nach offiziellen Angaben rund 600 Familien, die schon vor dem offiziellen Räumungsbeginn ihre Sachen gepackt und ihre jeweilige Siedlung verlassen haben: So sind Ganim und Kaddim, zwei von vier Siedlungen im nördlichen Westjordanland, sind bereits leer; die säkularen Siedlungen am nördlichen Ende des Gazastreifens sind jetzt Geisterstädte: Nur wenige sind geblieben, und das auch nur, um das noch im alten Haus verbliebene Hab und Gut vor Plünderern zu schützen. „Wir hoffen, dass die meisten der Siedler freiwillig umgezogen sein werden, wenn wir mit der Räumung beginnen“, sagt SELA-Chef Jonathan Bassi.

"Auf keinen Fall werden wir freiwillig gehen"

Doch nicht alle Siedler denken so wie die Goldblatts: Vor allem im Siedlungsblock Gusch Katif machen viele weiter, als werde nicht geräumt, holen die Ernte ein, bauen sogar an neuen Häusern weiter. Unterstützung bekommen sie von außerhalb: Nur wenige Meter vom ehemaligen Haus der Goldblatts entfernt kampieren schon seit Wochen junge Israelis; Leute, die sich an den Kontrollpunkten der Armee an den Einfahrten zu den Gaza-Siedlungen vorbei geschlichen haben. Eigentlich dürfen dort nur noch Leute vorbei, die in den Siedlungen leben.

Im Zeltlager gibt man sich kämpferisch: „Wir sind hier, um den Helden von Gusch Katif Beistand zu leisten“, sagt ein Jugendlicher, der eine Kippa auf dem Kopf trägt, sich nur Beni nennt und eigentlich in der Siedlung Kiryat Arba in der Nähe von Hebron im Westjordanland lebt: „Das ist jüdisches Land und niemand, auch nicht die israelische Regierung wird es uns wegnehmen.“ Am Samstag abend haben sie sich zusammen gesetzt, um über ihre Widerstandspläne für die Räumung zu sprechen: „Auf keinen Fall werden wir freiwillig gehen,“ sagte Pinchas Wallerstein, einer der Vorsitzenden des Siedlerrates Jescha. „Aber unser Protest wird gewaltfrei sein.“ So werden sich junge Männer mit Gebetsschal und Tefilin, Gebetsbändern, bekleidet, in den Synagogen verschanzen; die Frauen werden derweil versuchen, die anrückenden Soldaten und Polizisten davon zu überzeugen, nicht an der Räumung teilzunehmen. Wallerstein: „Wir werden dem Sicherheitsapparat das Leben so schwer wie möglich machen.“

Was er davon hält, wird Chanan Goldblatt gefragt, als er am Sonntag in den Wagen steigt: „Ach, das sind doch Hirngespinste“, antwortet er: „Wir sind keine Helden. Heldentum ist etwas für die Leute von Jescha-Rat, die ihren zionistischen Traum von Großisrael und der Erlösung des Landes träumen.“ Er berichtet davon, dass der Räumungsplan nach und nach für eine Entfremdung der Siedler untereinander gesorgt hat: „Anfangs waren die Protestaktionen noch geordnet. Doch dann haben zunehmend Groß-Israel-Aktivisten, von denen die meisten gar nicht hier leben, das Zepter in die Hand genommen und für chaotische Zustände gesorgt.“

Suche nach dem besseren Leben

Für ihn und seine Frau sei das Ende der Fahnenstange erreicht gewesen, als Aktivisten vom rechten Rand der Siedlerbewegung begannen, Umzugswillige einzuschüchtern: „Wir sind bedroht, als Verräter beschimpft worden.“ Die Auffassung der Rechten, dass die Siedler Soldaten im Kampf um die Erlösung des Heiligen Landes sind, sei ein Gedanke, mit dem sich weder er und seine Frau noch ihre Freunde hätten anfreunden können: „Wir waren das, was man heutzutage als wirtschaftliche Siedler bezeichnet; wir wollten ein besseres Leben haben, als wir es uns normalerweise hätten leisten können.“

Und die Siedlungen, vor allem jene im Gazastreifen, hatten dies anzubieten: Die israelischen Städte Aschkelon, Aschdod und Tel Aviv in pendelbarer Entfernung; dazu Steuerbefreiungen, niedrige Hauspreise, günstige Kredite. Zwei Jahrzehnte lang ließen israelische Regierungen kaum etwas unversucht, um junge Familien dazu zu bewegen, in die Gazasiedlungen zu ziehen, die in den 70er Jahren zunächst mit dem Bau des Siedlungsblocks Gusch Katif vom damaligen Verteidigungsminister und heutigen Regierungschef Ariel Scharon mit veranlasst wurde: Sowohl Arbeiterpartei als auch der konservative Likud-Block maßen dem Siedlungsbau im Gazastreifen damals eine grundlegende strategische Bedeutung bei: Die jüdischen Ortschaften sollten als Puffer gegen das damals noch verfeindete Ägypten dienen und einen der am dichtesten besiedelten Landstriche der Welt teilen.

Für den Bau wählten die Planer vom Ministerium für Wohnungsbau und Infrastruktur eine unbewohnte Dünenlandschaft im Süden des Gazastreifens:

Das hat den ersten Siedlern den Eindruck vermittelt, dass sie dort alleine waren. Man muss im Kopf behalten, dass die zionistische Ideologie auch einen sehr starken Siedlungsgedanken beinhaltet: Nach 2000 Jahren sind die Juden in ein nahezu unbewohntes, ödes Land, zu dem sie eine starke Bindung verspüren, zurück gekehrt, das es nun zum Blühen zu bringen galt – ich brauche nicht dazu zu sagen, dass dabei ein paar Denkfehler gemacht wurden: Zum einen kamen die Juden nie in ein leeres Land; zum anderen hatten die Architekten der Siedlungen in den palästinensischen Gebieten so gut wie immer strategische und keine nationalistischen Motive. Nur wurde nie wirklich offen ausgesprochen, dass der überwiegende Teil der Siedlungen zur Diskussion stehen könnte, wenn sich das politische Klima wandelt.

Tom Segev

Ganz im Gegenteil: „Netzarim ist genauso ein Teil Israels wie Tel Aviv“, hatte Scharon noch 2002 gedonnert, als ihn ein Journalist fragte, ob die Räumung der Gaza-Siedlungen nicht der einzige Weg zu mehr Frieden und Sicherheit für Israel sei. „Die Aufgabe von Siedlungen steht nicht auf meiner Tagesordnung“, hatte sein Vorgänger Ehud Barak von der Arbeiterpartei erklärt, als er 2000 mit Palästinenserpräsident Jassir Arafat im amerikanischen Camp David zu Friedengesprächen zusammen traf.

„Die Politik hat uns immer den Eindruck vermittelt, dass unser Dasein hier auf Dauer gesichert ist“, sagt Chanan, während er den Wagen aus der Siedlung heraus steuert. „Ja, ich fühle mich betrogen. Wenn ich gewusst hätte, dass es nur auf Zeit ist, wäre ich niemals hierher gezogen. Ich wollte einen Ort, an dem ich mit meiner Familie alt werden kann.“

Die Zeit läuft aus

Am Ende der Straße taucht der Polizeikontrollpunkt Kissufim auf: Sonntag Nacht um genau 24 Uhr wird hier die Einfahrt verschlossen werden; jeder Zivilist, der dann die Gaza-Siedlungen verlässt, wird dies für immer tun. Am Montag Abend wird jede Familie, die noch nicht weggezogen ist, persönlich darüber informiert worden sein, dass sie 48 Stunden hat, dies freiwillig zu tun. Falls nicht, werden irgendwann nach dem 17. August die Räumungsteams kommen.

„Niemand wird auf der Straße landen“, hat Jonathan Bassi, Chef der Räumungsbehörde SELA in dieser Woche einmal mehr gesagt: „Wir haben für jeden Siedler eine Wohnlösung vorbereitet. Oft wird sie nicht auf Anhieb ideal sein, aber die Entschädigungen sollten ausreichen, um es jeder Familie zu ermöglichen, sich das Haus ihrer Träume zu bauen.“

Als Chanan Goldblatt in Nizan zwischen Aschdod und Aschkelon aus dem Wagen steigt, steht ihm die Enttäuschung ins Gesicht geschrieben: „Das ist ein wirklicher Rückschritt“, sagt er, während er sich die „Caravilla“ anschaut, ein 90 Quadratmeter großes, transportables Haus, dass für die kommenden Monate die neue Heimat der Goldblatts sein wird. 330 davon hat die Regierung hier aufstellen lassen, um Wohnraum zu schaffen, während ein paar hundert Meter weiter richtige Häuser gebaut werden.

„Es ist nicht besonders geräumig“, stellt Anat fest, die eine Stunde später eintrifft. „Aber es ist ja nur auf Zeit. Wenn wir erst einmal ausgepackt haben, wird die Sache schon ganz anders aussehen.“ Chanan nickt und runzelt skeptisch die Stirn.

In Jerusalem, in Tel Aviv und am Kissufim-Kontrollpunkt wird derweil wieder einmal demonstriert: Jugendliche versuchen Straßenkreuzungen in den Großstädten zu blockieren, Polizeiwagen die Reifen aufzuschlitzen. Mehrere Dutzend werden festgenommen. Im Gazastreifen schickt derweil Generalmajor Dan Harel, Kommandeur für Gaza, drei Wehrpflichtige für je 28 Tage ins Gefängnis, die sich weigern, an der Räumung teilzunehmen, drei von mehreren Hundert, die teils aus ideologischen, teils aus emotionalen Gründen nicht dabei sein w ollen.

In Gusch Katif hat der SELA-Abwickler Ya’acov Levinson im Laufe des Tages acht weiteren Familien die Haustürschlüssel abgenommen:

Ich weiß nicht, wie lange ich es noch ertragen kann, in die Gesichter dieser Menschen zu blicken. Die Gazasiedler gehen zu sehen, ist ein großartiger Moment, ein tragischer Augenblick. Es ist ein Zwispalt, der mich an die Grenze meiner eigenen Auffassungsgabe gebracht hat.