Der Brexit staut sich auf der M20
Vor Stichtag für Handelsdeal mit EU zum Jahreswechsel: Massives Lkw-Chaos an britischer Grenze. Corona-Mutation schafft weitere Komplikationen
Tausende Lkws stehen auf der südenglischen Autobahn M20 dicht an dicht. Ein Flughafen wurde zum Trucker-Parkplatz umfunktioniert. Für die gestrandeten Fahrer gibt es kaum sanitäre Anlagen und eine nur mangelhafte Versorgung mit Nahrungsmitteln: Dieses Szenario ist viele Monate als Horrorvision im Fall eines "No-Deal-Brexit" prognostiziert worden.
Als die britische Regierung 2019 hunderte Lkw-Fahrer zu einem Massentest auf die M20 zusammentrommelte, um die Auswirkungen von Grenz- und Zollkontrollen auf die britischen Zufahrtswege zur Hafenstadt Dover Richtung Ärmelkanal auszuprobieren, gab es viel Spott und Häme. Jetzt muss man für diese Planspiele fast dankbar sein. Das in den vergangenen Tagen zu beobachtende Lkw-Chaos hätte sonst noch viel größer sein können.
Angefangen hatte alles mit einer sich von Südengland ausbreitenden Covid-19-Mutation. Am vergangenen Wochenende wurden deshalb über die Hauptstadt London sowie angrenzende Regionen weitreichende Ausgangs- und Reisebeschränkungen verhängt. Mehr als 16 Millionen Menschen sind davon direkt betroffen. Als Reaktion auf diese Maßnahme sperrten rund 50 Länder ihre Grenzen zu Großbritannien. Damit brach auch der Frachtverkehr zwischen Frankreich und Großbritannien größtenteils zusammen.
Während britische Supermarktketten Lieferengpässe befürchten und osteuropäische Lkw-Fahrer nicht wissen, wie sie zu ihren Familien zurückkommen sollen, sitzen in Deutschland britische Seefahrer fest. Sie können laut Angaben der Europäischen Transportarbeiterföderation aufgrund der verhängten Grenzschließungen ihre Schiffe nicht besteigen und haben mitunter zwölf Stunden in engen Gemeinschaftsräumen ohne Nahrungs- und Wasserversorgung verbracht. Auch ohne Corona-Pandemie sind das keine idealen Bedingungen.
Chaos nicht zwingend durch Brexit verursacht
Man kann nur spekulieren, wie sich diese Situation entwickelt hätte, wäre Großbritannien noch EU-Mitglied. Eventuell wäre es nicht viel anders gelaufen, ruft man sich ins Gedächtnis, wie EU-Mitgliedsstaaten im bisherigen Verlauf der Pandemie ihren Grenzverkehr untereinander geregelt haben. Hier in Großbritannien war das Jahr 2020 eher von einer Reihe nationaler Alleingänge und nicht einem europäisch koordinierten Krisenmanagement geprägt.
Tatsächlich bilden die entweder einem Abschluss oder Abbruch entgegensteuernden Verhandlungen über ein neues Handelsabkommen zwischen der EU und Großbritannien sowie die mit dem ersten Januar 2021 endende einjährige Übergangsperiode nach dem britischen EU-Austritt Teil des Hintergrundrauschens beim Grenzdrama der vergangenen Tage.
Doch auch Spannungen innerhalb der EU wurden sichtbar.
So soll es laut dem Onlineportal Politico zwischen der französischen Regierung und der EU-Kommission erheblich geknirscht haben. Dort war man über die in Paris entschiedene Sperrung des Ärmelkanals nur mäßig begeistert. Auch die polnische Regierung soll Druck auf Frankreich ausgeübt haben, schließlich sitzen zahlreiche polnische Lkw-Fahrer in der englischen Grafschaft Kent fest.
Doch auch Frankreich stellte Forderungen auf. Lange wollte man in Paris einer Grenzöffnung nur zustimmen, wenn auf britischer Seite verpflichtende PCR-Tests für alle Ausreisenden durchgeführt würden. Großbritannien setzte aber lieber auf die schneller durchführbaren, aber als weniger treffsicher geltenden "Lateral Flow Tests". Am Ende konnte sich Großbritannien in dieser Frage durchsetzen. Und nun rollt der Güterverkehr langsam wieder an. Bis zur Auflösung des entstandenen Lkw-Staus können aber noch Wochen vergehen.
Britische Tory-Presse schießt gegen Frankreich
Auf britischer Seite verschossen die der konservativ geführten Regierung nahestehende Medien wie das Boulevardblatt The Sun einige verbale Giftpfeile Richtung Frankreich. Auf den Titelseiten wurde mehr oder weniger subtil unterstellt, Frankreich habe den Ärmelkanal nur geschlossen, um in Großbritannien eine negative Stimmung in Bezug auf das kommende Ende der Übergangsperiode zu schüren.
Tatsächlich ist der in den vergangenen Wochen vieldiskutierte Konflikt rund um die Fangquoten für europäische Fischer in britischen Gewässern zu großen Teilen eine britisch-französische Auseinandersetzung (Brexit: Warten auf den Fischkompromiss). Am Mittwoch bot die EU eine 25-prozentige Reduzierung ihrer Fangquoten an, während Großbritannien eine Minderung um 35 Prozent fordert. Strittig ist auch, ab wann die verringerten Fangquoten in Kraft treten und welche Fischarten davon betroffen sein sollen.
Dem französischen Staatspräsidenten Macron sitzen seine eigenen Fischer im Nacken, deshalb blockiert er zu große Zugeständnisse. Der britische Premierminister Boris Johnson hat ein sehr ähnliches Problem: Die Küsten- und Fischerorte seines Landes haben einen Jahrzehntelangen wirtschaftlichen Niedergang hinter sich, deswegen stimmten viele dort wohnenden Menschen für den Brexit. Die Fangquotenauseinandersetzung steht stellvertretend für die Hoffnung auf größere Wirtschaftssouveränität und einem damit verbundenen Aufschwung.
Vergessen werden darf darüber jedoch nicht, dass auch andere wesentliche Aspekte weiter strittig sind. Sollte Johnson etwa der EU-Forderung zustimmen, der Europäische Gerichtshof solle fortan über die Einhaltung eines Handelsvertrages mit der EU wachen, wäre dies eine herbe politische Niederlage, die ihm auch innerhalb seiner eigenen Partei große Schwierigkeiten bereiten könnte. Für den Brexit-Flügel der Tories ist es unvorstellbar, sich auch weiterhin einer EU-Gerichtsbarkeit beugen zu müssen.