Der Brunner-Affekt

Französische Krankenhausangestellte vor CT mit Müllsack als improvisiertem Kittel. Foto mit freundlicher Genehmigung von Bastien Parisot (La France Insoumise): "Herr Macron, Sie haben die Situation von Tausenden von Pflegern verschlechtert. Sie haben die öffentliche Gesundheit aus reiner Ideologie in Gefahr gebracht."

Kommentar: Die Corona-Krise als Labor für gesellschaftliche Veränderungen

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Das Virus als "weniger tödliche Waffe" aus dem Labor des Finanzkapitalismus? Was wäre, wenn wir als Konsumenten überflüssig sind? Bestenfalls 7 Milliarden Körper zum Impfen. Vielleicht auch das nur, damit "jemand" an der Börse auf den Impfstoffhersteller wetten kann. Ein Albtraum? Wenn wir nach der Quarantäne aufwachen, werden wir dankbar sein, noch zu leben - egal unter welchen Bedingungen.

Der Autor stellt als Abschluss seiner Reihe über die Auswirkungen von Corona auf den Alltag die These auf, dass wir die Herausforderungen, die eine Welt nach dem Ende der Pandemie für uns bereithält, bewältigen können. Aber nur, wenn wir uns sehr anstrengen.

1. Mobilmachung

in dem unsittlichen staatsabgrunde, der sich hier aufthat, erblickte er sogleich die greulichen folgen
der zukunft.
Albert Bielschowsky, Göthe 1, 369
in: Grimms Wörterbuch Bd. 17, Spalte 287 ff.

Unter dem Label "Covid-19" kommen Seuche, Wirtschaft und Politik in einem Begriff zusammen. Sie erzeugen eine neue Kultur.

Nennen wir alle Aspekte dieser Kultur:

  • die Angst vor einer Krankheit, die alle an der Gurgel packt;
  • die Angst vor dem Massensterben von Grundrechten und gesellschaftlichen Werten;
  • die Angst vor bleibendem Verlust der Bewegungsfreiheit;
  • die Angst vor dem endgültigen Verschwinden des Einzelhandels;
  • die Angst vor der Nichtung aller beruflichen Aktivitäten unterhalb eines Konzern-Niveaus;
  • die Angst vor gewissenlosen Geschäftemachern, die, angetrieben durch den ebenso gewissenlosen Einsatz von Risikokapital, im Namen der Gesundheit genetische Experimente aushecken, die sie in ihren Laboren nicht unter Kontrolle halten können.

Nennen wir all das zusammen den "Brunner-Affekt".

Wer ist Brunner?

John Brunner ist ein legendärer Visonär, der in den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts eine ganze Reihe von Romanen verfasst hat, die hohe Auflagen erreichten und die man besser nicht als Science-Fiction belächelt. Sie beschreiben unsere Welt präziser, als jede Studie von Wissenschaftlern es vermocht hätte.

Wer heute Strategien entwickeln will, wie wir aus der lähmenden Angst herauskommen, sollte sich zunächst überlegen, "wie wir in diesen Mist hineingeraten sind".

Wer nachzeichnen will, wie Seuchen sich ausbreiten, muss das Phänomen "Komplexität" kapieren. Wer wissen will, wie Wirtschaft funktioniert, muss eine Ahnung davon haben, womit man wirklich viel Geld verdient. Wer durchschauen möchte, wie Politiker ticken, schafft das nur, wenn er den Mechanismus entschlüsselt, wie man trotz menschenverachtender Ideen immer populärer werden kann.

Für tiefere Einsichten in den Brunner-Affekt müssen also Antworten auf mindestens drei komplexe Fragen gleichzeitig gedacht werden.

Gesetzt den Fall, es gibt ein Gehirn, das diese Herausforderung bewältigt: Ist sein stolzer Besitzer noch handlungsfähig, nachdem er alles "durchgerechnet" hat?

Ja. Aber Aktion ist nichts, das daraufhin von allein passiert. Wir müssen raus aus der Lethargie.

Im Krieg gegen die Viren kann man nicht erwarten, dass der Staat seine Soldaten ausreichend schützt. Man muss sich schon selbst kümmern. Das ist das Kernprinzip des Neoliberalismus. Hilf Dir selbst. Die Anordnung, wie sich die Bürger zu verhalten haben, kommt "von oben". Wie man sie im Alltag umsetzt und damit zurechtkommt, muss letztlich jeder selber sehen.

Der Krieg gegen die Viren macht dadurch die Widersprüche unserer Ordnung deutlich. Deshalb ist er eine Chance für alle, die wirklichen Wandel wollen. Ohne selbstorganisierte Mobilmachung kein Fortschritt.

Die französische Gewerkschaft SUD Santé Sociaux hat diesen Gedanken treffend und poetisch zugleich formuliert:

Wir haben die Zähne von Wölfen und das Gedächtnis von Elefanten.

Gewerkschaft SUD Santé Sociaux

Kein Feind ist "too big to fail". Bringen wir uns in Schwung! Denn es gibt nur drei Wege aus der Misere: mobil machen, mobil machen und mobil machen.

2. "Schafe blicken auf"

1972 erscheint der Text "Schafe blicken auf" von John Brunner. Er spielt in einer nicht datierten näheren Zukunft. Auf dem Umschlag der Erstausgabe sind menschliche Oberkörper zu sehen, die Schafsköpfe tragen. Die Schafe atmen durch Filtermasken. Warum?

Die Luft in Großstädten ist unerträglich. Um zu überleben, müssen Menschen permanent Gesichtsmasken tragen. Trotzdem verbrennt die Luft ihre Haut. Ihre Kleider verrotten beim Zusehen. Selbst Backstein und Beton zersetzen sich in der giftigen Luft. Die städtische Wasserversorgung geht in die Knie. Lebensmittel werden verdächtig. Sie sind voller Giftstoffe. Alle haben dauernd Schnupfen. Alle kratzen sich fortwährend, weil sich ihre Haut durch Mikroorganismen auflöst.

Die Märkte für Produkte zur Eindämmung dieser Probleme boomen. Filtermasken, Raumluftreiniger, persönliche Wasseraufbereitungssysteme, Medikamente gegen alle möglichen Sorten Krankheiten sind sehr gefragt. Die Menschen, die solche Produkte anbieten, verdienen unvorstellbare Mengen Geld in kürzester Zeit.

Schließlich kommt es zu einer Pandemie, ausgelöst durch mutierte Kolibakterien. Sie befallen Millionen von Menschen. Niemand ist in der Lage zu arbeiten. Die ganze Wirtschaft steht still. Monatelang.

Auf Seite 272 sagt der Protagonist Michael: "Man kann sich keine Hängepartie wünschen, die ein Leben lang dauert!" Wir müssen etwas tun, selbst tun. Denn die Nahrungsmittel werden knapp. Die Wasserfiltersysteme scheitern an der Menge der Killer-Bakterien.

Die Seuche in Brunners Text bricht im Dezember aus. Nach weniger als einem Jahr, im darauf folgenden November, ist nichts mehr, wie es zuvor war. Der Zerfall von Staat und Gesellschaft ist verheerend.

Gegen Ende des Buches brechen Straßenschlachten aus. Es gibt landesweite Aufstände wegen schlechter Gesundheitsversorgung, miserabler sanitärer Verhältnisse, Nahrungsmangel. Die "Schafe" erwachen. Sie bilden eine extreme Ökopartei und kämpfen für ihre Rechte. Was dann passiert, mag jeder selbst nachlesen.

Soweit Brunner. Ich kann nicht erkennen, dass er - vor knapp 50 Jahren - irgendetwas vergessen hat, das wir nicht heute auch erleben. Wer also wissen will, wie es im kommenden November 2020 aussehen könnte, wenn wir nicht dagegenhalten, beschaffe sich schnell ein Exemplar.

3. Micro-Dosis

Wer wie ich auf dem Land lebt, für den sind Seuchen Alltag. Es ist daher schon aus persönlichen Gründen notwendig, Komplexität zu verstehen: schwierige Zusammenhänge, die oft nicht sofort erkennbar sind.

Der folgende Abschnitt behandelt Beispiele, die auf den ersten Blick wenig mit dem gegenwärtigen SARS-Virus zu tun haben. Sie sollen auf einfache Art helfen, komplexe Zusammenhänge rund um das Thema Seuchen und industrielle Landwirtschaft zu verstehen.

Schon bevor ich vor zehn Jahren aus der Großstadt weggegangen bin, war ich oft bei Freunden in der Nähe von Rothenburg in Niedersachsen. Dort trennte man in einigen ländlichen Arzt-Praxen die Kinder der Bauern von allen anderen Kindern. Der Grund: multiresistente Keime. Gemeint war mit "Keim" natürlich nicht der Ursprung allen Lebens, sondern Krankheitserreger. Solche sogenannten Pathogene können Bakterien, Parasiten, Pilze, Viren oder andere Mikroorganismen sein.

Was war bei den Bauern los, dass ihre Kinder für Kinder von Nichtbauern gefährlich machte? Focus, wie immer "schnell auf den Punkt", erklärt es so: "Im Stallstaub fast jedes zweiten Bauernhofs finden sich multiresistente Keime. Wenn tierische mit menschlichen Stämmen fusionieren, drohen extrem gefährliche Erreger."

Meine Wohnung liegt im Biosphärenreservat. Anders, als man denken sollte, ändert das exakt gar nichts an der Art, wie Bauern hier ihre Höfe führen. Der Naturschutz ist ein zahnloser Tiger. Hinzu kommt: Der Naturschutz hat selbst Schwierigkeiten, Komplexität zu verstehen.

Ein Beispiel: Hier gibt es wertvolle, teilweise weit über 200 Jahre alte Alleebäume. Diese wurden in den vergangenen Jahren geradezu pandemisch, zumindest pan-europäisch von Prozessionsspinnern heimgesucht. Was daraus folgt, ist eine umgekehrte "Triage": Die jungen Raupen töten, um die Baum-Senioren zu retten. Die Geheimwaffe dafür lautet "spritzen" - mit einem Mittel namens Dipel ES, das angeblich präzise nur diesen einen Schädling beseitigt.

Wenn es das wirklich täte, wundern einen die strengen Auflagen: Nicht über Gewässern sprühen, nicht über Wohnanlagen, nicht über Wiesen. Dipel ES ist laut Umweltbundesamt die "umweltfreundlichere Bekämpfungsmaßnahme" im Krieg gegen den Spinner. Es ist die "biologische" Alternative zu einem Mittel mit dem ehrfurchtgebietenden Produktnamen "Karate Forst flüssig", das, glaubt man dem Namen, wohl eher wie die Axt im Walde wirkt.

Als ich einmal unter freiem Himmel arbeitete, kam das Sprühflugzeug, wendete über der Elbe, schaltete dort die Düsen an und nebelte mich, zwei sorgsam gepflegte Feuchtgebiete, sogenannte "Qualmwasserteiche" in der Uferzone, das Haus, den Hof, alle Glasscheiben, die gesamte Wiese und am Ende der Strecke auch ein paar befallene Bäume ein. Ich hoffe, das war ein einmaliger Ausrutscher.

Jedenfalls hatten wir vorher jede Menge Frösche, darunter die so gut wie ausgestorbenen grünen Laubfrösche, die wie kleine Hunde bellen und erfreulich zahlreich auf unseren Bäumen hockten, Kröten, einige Schwärzlinge der Ringelnatter und ziemlich viele Sorten Tagfalter im Garten. Seit dem Dipel-ES-Luftangriff: Kohlweißlinge. Sonst nichts mehr.

Ich habe in der Biosphärenverwaltung nachgefragt. Ich konnte nicht glauben, dass ein Mittel, "speziell" gegen Prozessionspinner, Reptilien und Amphibien tötet. Ich war aber skeptisch, denn das Resultat betraf nicht nur meinen Garten.

Die Antwort kam in Form von zwei PDFs: vom Umweltbundesamt (die Broschüre "Eichenprozessionsspinner. Antworten auf häufig gestellte Fragen") und ein Auszug aus dem Werk "Toxikologie" von Marquardt et al., wo ab Seite 738 der Wirkstoff von Dipel ES behandelt wird: das Bacillus Thuringiensis, ein Mikroroganismus, der 1911 erstmals aus der Larve der Mehlmotte isoliert wurde.

Nun, Dipel ES ist ein Breitbandwirkstoff, der "freifressende Schmetterlingsraupen" angeblich "selektiv" erwischt und andere Insekten "weniger direkt schädigt". Soweit das Bundesfachamt für unsere Umwelt.

Ich würde gern an dieser Stelle eine unzulässige Parallelisierung vornehmen: "weniger direkt" - das erinnert mich an "non-lethal weapons", die übersetzt "weniger-tödliche Waffen" heißen. Kann man "weniger" sterben?

Dipel S tötet also die Nahrungsgrundlage der Tiere, die aus meinem Garten verschwunden sind. Sie sterben nicht an der "Thüringer Bazille". Sondern an Hunger. Tot ist tot. Bei den Schmetterlingen erwischt es leider "direkt" die Raupen. In den letzten zwei Jahren kam noch massive Trockenheit dazu. Zwei Jahre Dürre. Die von den Spinnern geschädigten Eichen fallen jetzt ohnehin massenhaft um. Aber Dürre entsteht ja vermutlich nicht unmittelbar aus gutem Klima. Na ja, was soll man tun?

Sicher waren diese Bäume sowieso überaltert.

Ein drittes Beispiel. Ich lebe in einer Region, die nur zwei Einnahmequellen kennt: Tourismus und Landwirtschaft. Hier ist es schön. Aber es stinkt. Für den Tourismus ist außer dem Radwanderweg entlang des "Grünen Bandes" vor allem der auffällig hohe Storchenbestand ein Magnet.

Weil seit einigen Jahren die Störche wegbleiben, wurde nach Gründen gesucht. Das Ergebnis: Für den "besorgniserregend" starken Rückgang der Vögel ist das Verschwinden "artenreicher Grünlandflächen als Futtergrundlage" verantwortlich.

Was heißt das? Früher war die größte Dichte von Weißstorchbrutpaaren stets in unmittelbarer Nähe der großen Tierzuchten zu finden. Der Dung wurde wie heute auf die Wiesen ausgebracht. Er lockte Käfer und andere Insekten an, die am Zersetzungsprozess der Ausscheidungen beteiligt waren und den Jungstörchen als Nahrung dienten. Heute werden ganze Vieh-Herden oft prophylaktisch medikamentiert, statt dass man einzelne erkrankte Tiere isoliert.

Die ausgebrachte Gülle ist eine Art verdünntes Wurmmittel. Sie tötet die Insekten. Der unzersetzte Dung verbrennt das Gras. Es entsteht weniger Aufwuchs. Das Habitat der Insekten verschwindet und mit ihnen die großen Vögel. Das Problem ist lang bekannt: Ein sehr schöner Kurzfilm von 1972 zeigt den komplexen, aber verstehbaren Zusammenhang.

Passiert ist seit 1972 nicht nur nichts. Es ist sogar deutlich dramatischer geworden. In einem Interview hat Randolph Menzel, der große Experte für das Bienengehirn, gesagt: 80% der Insekten-Biomasse sind weg. Die Mehrzahl davon unwiederbringlich. Die artenreiche Wiese, der Regenwald Europas, verschwindet unter den breiten Reifen der Agrarindustrie. Die artenarme, genetisch magere Wiese aber besitzt keinerlei Bremseffekt für die Ausbreitungen von Krankheitserregern.

Welche aktuellen Bezüge dies hat, kann, wer mag, in zwei aufschlussreichen Quellen nachlesen. Der Evolutionsbiologe Rob Wallace erklärt, wie "große Farmen große Grippe" machen. Sonia Shah erläutert, warum eine immer raschere Zerstörung von natürlichem Lebensraum die Verwundbarkeit durch Pandemien erhöht.

Wir wissen das alles. Die kleinste Dosis, die man künstlich hinzufügt, kann das gesamte System zum Kippen bringen. Wir kennen die Zusammenhänge. Praktisch alle Folgen sind bekannt. Jedenfalls ist klar: Nichts wird folgenlos bleiben.

Aber die Wirtschaft entscheidet sich trotzdem für den gefahrvollen Weg.

Nachdem Microsofts' Bill Gates mit "farm foward 2.0"-KI in den Traktor-Giganten John Deere und damit ganz groß in die industrielle Landwirtschaft eingestiegen ist, war klar, dass eine deutliche Investition in Impfstoffhersteller der nächste wichtige Schritt sein würde.

Das Geschäftsprinzip, dass jeder Weltbürger ein "micro"-Produkt abnimmt, hat sich von der Firmengründung 1975 bis zum 15. April 2020 durchgehalten. Mit 7 Milliarden kleinster Dosen lässt sich durchaus "Staat machen".