"Der Einzug des Religiösen ins politische Feld"

Seite 2: "Identitätspolitik in ihrer destruktivsten Form"

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Sie schreiben, dass die Zunahme des Konflikts Folge einer Art von Identitätspolitik sei. Können Sie das erläutern?

Tyma Kraitt: Nehmen sie das Beispiel des Irak. Aufgrund des dortigen Proporzsystems werden politische Ämter sowie der gesamte Verwaltungsapparat nach konfessioneller (oder im Falle von Kurden ethnischer) Zugehörigkeit aufgeteilt. Religiöse Identität ist ein Politikum und der politische Einfluss hängt von der demografischen Größe der jeweiligen Gruppe ab. Jede Abweichung wird als Bedrohung der eigenen Gruppe betrachtete - darunter meine ich zum Beispiel Misch-Ehen, die im Irak mittlerweile stark bekämpft werden.

In einem solchen System gelten allerdings auch Parteien und politische Bewegungen, die sich nicht über religiöse Zugehörigkeit definieren wollen, als Abweichung und damit potentiell gefährlich. Wir haben es mit einer Identitätspolitik in ihrer destruktivsten Form zu tun. Sie zielt zum eigenen Machterhalt auf Abschottung ab. Und um dies zu ermöglichen, bedient sie sich Ressentiments und der Politik der Feindbilder. Ein gesellschaftliches Wir ist nicht erwünscht.

"Große Verantwortung ist den USA anzulasten"

Welchen Anteil hat der Westen an dieser Entwicklung?

Tyma Kraitt: Ein wesentlicher Grundstein wurde bereits nach dem Ersten Weltkrieg von den Mandatsmächten Frankreich und Großbritannien gelegt. Diese zogen nicht nur die Grenzen der neuen Staaten des Nahen Ostens ohne dabei Rücksicht auf die Wünsche und Interessen der dort lebenden Bevölkerung zu nehmen. Sie spielten dabei stets auch die unterschiedlichen Gruppen gegeneinander aus. So wurde unter Federführung der Briten aus dem historischen Mesopotamien das Königreich Irak, an dessen Spitze man einen Haschemiten setzte, womit eine sunnitische Herrscherdynastie begründet wurde - obwohl die schiitische Bevölkerung damals schon mindestens die Hälfte der Bevölkerung ausmachte.

Die Franzosen förderten in Syrien wiederum religiöse Minderheiten wie Christen, Alawiten oder Drusen gegenüber der sunnitischen Mehrheit. Im Libanon wurde wiederum ein konfessionelles Proporzsystem eingeführt, das den maronitischen Christen mehr Einfluss gewährte als den anderen Glaubensgruppen, obwohl diese längst keine Mehrheit mehr stellten. Und eben dieses System wurde im weiteren Verlauf des 20. Jahrhunderts im Zuge eines langwierigen Bürgerkriegs bekämpft.

Große Verantwortung ist ebenso den USA anzulasten, die nach dem Sturz Saddam Husseins 2003 eine politische Konfessionalisierung des Iraks vorantrieben und damit der einstigen schiitisch-islamischen Exilopposition die Machtübernahme ermöglichten. Auch aus der Sicht Washingtons hat sich dieses Vorgehen als großer Fehler erwiesen. Denn dadurch wurde Teherans Aufstieg als Ordnungsmacht im Irak in die Wege geleitet.

Wie ist die Popularität des Salafismus und Wahabitismus zu erklären?

Tyma Kraitt: Popularität ist wohl das falsche Wort. Der Salafismus wie auch dessen saudische Spielart, der Wahhabismus, sind insgesamt noch immer ein Minderheitenprogramm. Aber viele ihrer gesellschaftspolitischen Vorstellungen sind in den muslimischen Mainstream eingezogen, etwa in Hinblick auf das Propagieren eines erzkonservativen Frauenbilds. Sie sind erfolgreich, unter anderem weil sie finanzkräftig sind und ihr missionarisches Engagement oftmals von großzügigen Spenden aus den konservativen Golfstaaten unterstützt wird.

Sie unterhalten zahlreiche Sendungen per Satelliten-TV, was ab den 2000er Jahren auch zu einer starken Verbreitung ihrer Vorstellungen beigetragen hat. Darüberhinaus sind sie auch karitativ engagiert und haben somit einen Draht zu den Ärmeren und den Unzufriedenen - und von denen gibt es in dieser Gegend bekanntlich mehr als genug.

"Soziale Perspektivlosigkeit"

Welche Gründe gibt es für den Dschihadismus in der heutigen muslimischen Welt?

Tyma Kraitt: Die Gründe sind vielfältig. Einerseits hat die Desillusionierung mit säkularen Ideologien zum Beispiel der Panarabismus oder Kommunismus ein politisches Vakuum hinterlassen, das seit den 90ern allmählich von religiösen Kräften gefüllt wurde. Der Umstand, dass Opposition hier oftmals kriminalisiert und unterdrückt wird, hat dazu beigetragen, dass sich wie etwa im Falle Ägyptens unter dem al-Sisi-Regime einzelne Gruppen aus dem Dunstkreis der Muslimbruderschaft radikalisieren und sich militanten Dschihadisten anschließen.

Solche Kämpfer gibt es aber nicht erst seit der Machtübernahme des IS in Mossul 2014 und auch nicht erst seit dem 11.September. Einige sind seit Jahrzehnten schon in der Region aktiv. Es sind Veteranen, die in Afghanistan, in Bosnien, Algerien oder Tschetschenien gekämpft hatten und nun in ihren arabischen Herkunftsländern Probleme machen oder sich dem IS oder anderen dschihadistischen Gruppen in Irak und Syrien anschlossen. Sie haben militärische Erfahrung und sind mit Gleichgesinnten in der Region bestens vernetzt.

Aber die Tatsache, dass dschihadistische Bewegungen regen Zulauf haben - auch aus sonst eher unauffälligen islamischen Staaten wie Tunesien - ist ebenso auf soziale Perspektivlosigkeit, die hohe Jugend- und Akademikerarbeitslosigkeit zurückzuführen.

"De facto ein Failed State"

Wie konnte sich der IS in diesm Ausmaß etablieren?

Tyma Kraitt: Dies ist ein Erbe des Irakkrieges von 2003 und auf die Verfehlungen der US-Besatzungsmacht zurückzuführen. Die Auflösung der irakischen Armee hat zigtausend Männer mit einem Schlage arbeitslos gemacht. Wenig überraschend haben sich viele dieser Männer dem bewaffneten Widerstand gegen die USA und ihren Verbündeten angeschlossen und letztlich auch Gruppen wie al-Qaida im Irak, der Vorgängerorganisation des IS.

Nach der Zerschlagung des irakischen Sicherheitsapparats setzten die USA verstärkt auf lokale Milizen, ironischerweise auch auf jene schiitischen Milizen, denen heute eine große Nähe zu Teheran vorgeworfen wird. Die USA haben nach acht Jahren der Besatzung einen staatlich ausgehöhlten und nach konfessionellen und ethnischen Kriterien gespaltenen Irak hinterlassen. Einen de facto Failed State.

Spannungen zwischen den Glaubensgruppen eskalierten immer wieder aufgrund der Terrorkampagne al-Qaidas beziehungsweise des Islamischen Staats im Irak gegen Schiiten. Auf der anderen Seite agierten schiitische Milizen wie etwa die berüchtigten Badr-Brigaden genauso wenig zimperlich und drangsalierten ihrerseits die sunnitische Bevölkerung wie auch ihre politischen Gegner. In einem solchen Klima der Instabilität und Gewalt konnte aus der Terrororganisation Islamischer Staat in Irak eine bedrohliche transnationale Bewegung werden - mit dem Potenzial das gesamte regionale Gefüge auszuhebeln.