Der Elefant im europäischen Raum
Die Zeit-Stiftung lässt in Hamburg über die EU und ihre Krisen diskutieren - doch ausgerechnet die deutsche Rolle blendet man dabei aus - immerhin sorgen die AfD und ihre "Volksverhetzer" für eine spannende Debatte
Die Verteidiger der Europäischen Union machen mobil. Nach dem "Ende der Winterpause" gehen am Sonntag wieder die Anhänger von "Pulse of Europe" auf die Straße. Bereits seit Freitag wirbt zudem die ZEIT-Stiftung mit einem EuropaCamp in Hamburg für eine Wiederaneignung der europäischen Idee. "Rethink. Reload? Reclaim" heißt das Motto, das den Puls der Zeit offenbar ganz gut trifft.
Dass sich die EU neu definieren muss, ist schließlich nach Jahren der Krise zu einem Gemeinplatz geworden. Sogar die Möchtegern-GroKo in Berlin fordert einen "neuen Aufbruch für Europa" - nachdem sie die EU jahrelang gegen die Wand gefahren hatte. Doch beim EuropaCamp auf Kamp-nagel geht es nicht um die deutsche Rolle. Nicht einmal die europapolitische Wende der GroKo ist ein Thema.
Jan Böhmermann gegen Frank Decker
Im Mittelpunkt stehen vielmehr die ganz großen Fragen: Braucht die EU eine neue "Erzählung", um die Menschen wieder zu begeistern? Wie steht es um die europäische Öffentlichkeit? Wie lässt sich der Aufstieg der "Populisten" erklären, und was lässt sich dagegen tun? Dieses Reiz-Thema sorgte denn auch für die erste hitzige Debatte; der Erfolg der AfD lässt offenbar keinen kalt.
Jan Böhmermann gegen Frank Decker, so lässt sich der Streit auf Kampnagel zusammenfassen. Hier der Satiriker, der offen einräumt, dass er vom Erfolg der EU-Gegner profitiert: "Deshalb haben auch Satiriker so viel Erfolg. Das Fehlen von Debatten, das Fehlen von politischen Polen führt dazu, dass die Satire so gefragt, ist. Deshalb sitzen plötzlich auch Leute wie ich auf dem Podium."
Und dort der Politik-Professor, der "die Populisten" durchaus differenziert sieht und sich bemüht, ihren Erfolg zu erklären: Der nachholende Nationalismus in Osteuropa, die soziale Krise im Neoliberalismus und Identitätsfragen spielten den EU-Gegnern in die Hände, erklärt Decker. "Wir müssen nach den Ursachen fragen, und wir müssen über Migration sprechen", fordert er.
Doch das kommt gar nicht gut an auf Kampnagel. Das Publikum stöhnt, Böhmermann interveniert. "Was meinen Sie mit Identität" funkt er dazwischen. Für den Satiriker klingt dies offenbar schon viel zu sehr nach völkischem Denken und Deutschtümelei - dabei meint Decker die vom sozialen Abstieg bedrohten Mittelschichten im Westen und die Daheimgebliebenen im Osten, die hilflos mitansehen müssen, wie die Jungen und Erfolgreichen auswandern.
Decker will erklären und verstehen, Böhmermann will provozieren und widerstehen. Bei "Volksverhetzung" sei "Schluss mit lustig", da müsse der Rechtsstaat mit allen Mitteln einschreiten, sagt ausgerechnet der Macher von "Neo Magazin Royale", der mit seiner Satire über Recep Erdogan an die Grenzen des rechtlich Erlaubten gegangen ist. Dabei räumt Böhmermann ein, dass "Satiriker und Volksverhetzer im Grunde dasselbe machen, nur dass es die Satiriker uneigentlich tun, in humanistischer Absicht - und die Populisten eben nicht, die meinen es ernst."
Das Bonmot macht auf Twitter die Runde, doch viel weiter geht es leider nicht. Die entscheidende Frage, wieso die AfD ausgerechnet unter der doch angeblich so ausgewogenen Kanzlerin Angela Merkel aufsteigen konnte, und warum diese Partei nun mehr Sitze im Bundestag hat als der Front National in der französischen Nationalversammlung, wurde gar nicht erst gestellt. Die deutsche Debatte hinkt der französischen um Jahre hinterher - wie sich auch am "Pulse of Europe" zeigt, der nun wieder gegen den Brexit und die italienischen Populisten mobil machen will, statt endlich einmal vor der eigenen Haustür zu kehren und die Erfolge der AfD zu problematisieren.
Peer Steinbrück, Herfried Münkler und Ulrike Guérot
Das zeigt auch die zweite große Debatte, bei der es um Europas Krisen gehen soll. Ex-Finanzminister Peer Steinbrück, Politikprofessor Herfried Münkler und Demokratie-Forscherin Ulrike Guérot fragen erst gar nicht, welchen Beitrag Deutschland und die letzte GroKo zu den Krisen in Europa geleistet hat. Auf typisch deutsche Art geht es gleich wieder ums Grundsätzliche, das von Guérot auch noch ins Idealistische gewendet wird.
"Ein Markt, eine Währung, eine Demokratie" - diese durchaus berechtigte Maxime für eine "europäische Revolution" münzt Guérot mal eben in die Forderung um, bis 2025 eine europäische Sozialversicherung einzuführen. Was beim Euro gegangen sei, müsse doch auch bei der Arbeitslosenkasse möglich sein, so ihr - auf Kampnagel durchaus populäres - Argument. Man müsse sich scheinbar utopische Ziele setzen, um aus dem Klein-Klein der Brüsseler Bürokratie herauszukommen.
Steinbrück widerspricht vehement. "Das ist nackter Wahnsinn", hält der Sozialdemokrat dagegen. Es sei ja eine schöne Idee, dass die Deutschen für die Arbeitslosen in Kroatien oder Griechenland zahlen sollen. Doch wie wolle man dafür eine Mehrheit organisieren? Guérots Thesen seien "intellektuell hochinteressant, doch politisch völlig irrelevant".
Dieser Ansicht neigt auch Münkler zu, der darauf verweist, dass die EU schon jetzt überdehnt sei. Brüssel habe größere Aufgaben als institutionelle Möglichkeiten zu ihrer Lösung, doziert er - doch wie dieser Widerspruch zu lösen wäre, bleibt offen.
Dabei wäre das doch die eigentlich spannende Frage im größten und mächtigsten Land der EU: Was kann und muss die nächste Bundesregierung tun, um das europäische Projekt wiederzubeleben? Müsste die "Überdehnung" nicht durch eine Beschränkung der EU behoben werden - oder durch den Aufbau eines festen Kerns, wie ihn Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron fordert? Reicht es aus, etwas mehr deutsches Geld für das nächste EU-Budget anzubieten, wie es die GroKo vorhat, oder müsste man ganz neue Fundamente bauen, was wesentlich teurer würde?
Vielleicht ist ein Kulturfestival auf Kampnagel nicht der richtige Ort, um diese eminent politischen Fragen zu klären. Aber dass man ausgiebig über Europa diskutiert, ohne über Deutschland zu sprechen, ist doch befremdlich.
So wird das größte und mächtigste EU-Land zum Elefanten im europäischen Raum - jederzeit bereit, sich über Nationalisten in Frankreich oder Populisten in Polen Gedanken zu machen, aber ohne Bezug zu dem, was da gerade in Berlin abgeht. Wobei der Fehler auch bei den Politikern liegt: Bundesaußenminister Sigmar Gabriel sagte beim "EuropaCamp" ebenso kurzfristig ab wie Hamburgs erster Bürgermeister Olaf Scholz. Sie hatten wohl Wichtigeres zu tun - vermutlich in Berlin.