Der Euro auf dem Weg zur Geldhaltegebühr
Die vorsichtige "Negativzins-Politik" der EZB hat bislang geholfen, die Geldversorgung der Wirtschaft zu sichern
Wer dieser Tage "Geld holen geht", bekommt immer öfter einen neuen 10-Euro-Schein in die Hand. Neue Scheine sind nicht die einzigen Neuerungen im Euro-System. Seit der EZB-Sitzung im Juni sind im europäischen Währungssystem erstmals "negative Zinsen" auf Übernacht-Einlagen von Banken bei der EZB fällig. 0,20% müssen Banken seit September zahlen, um kurzfristig bei der Zentralbank geparkte Guthaben über die Nacht zu bringen.
Die Entscheidung ist ein Novum in der Zentralbankgeschichte. Weder im Euro-System noch im vorherigen DM-System kam solch eine Situation bislang vor. Sie zeigt: Die Geldpolitik ist im Wandel. Man könnte vermuten, wir haben einen ersten Fuß ins Vorzimmer einer Postwachstumsökonomie gestellt. Jedenfalls gilt: Bankeinlagen bei der EZB wachsen nicht mehr in jedem Fall; sie können durchaus schrumpfen.
Die Wirkung dieser Zentralbank-Entscheidung ist inzwischen auch außerhalb der EZB-eigenen Systeme sichtbar. Der Euro OverNight Index Average (EONIA) bildet als Index jene Zinssätze ab, zu dem sich Banken untereinander kurzfristig Geld leihen. Seit August 2014 schrammen die Konditionen an der Nulllinie entlang - und bewegen sich inzwischen öfter unter als über dem Nullpunkt. Wie es marktwirtschaftlich zu erwarten wäre, bewegen sie sich dabei zwischen Null und dem von der EZB als Leitzins gesetzen "negativen Zinssatz". Es gilt also: Die Geldhaltegebühr, die die EZB ihren Geschäftsbanken auferlegt, führt dazu, dass auch die Geschäftsbanken untereinander Geld verlangen, um sich Geld leihen zu dürfen. Sinn macht das natürlich nur, wenn eine Bank keine geeignete Anlagemöglichkeit findet, die wenigstens Null Prozent Zinsen abwirft. Oder wenn ihr der kurzfristige Zugriff auf ihre Liquidität die Geldhaltekosten wert ist.
Allerdings verbreitet sich das von der EZB gesetzte Zins-Signal bereits über das Interbankengeschäft hinaus aus. Nachdem die Wirtschaftswoche darüber berichtete, bestätigten die DAX-Konzerne E.ON und Lufthansa, dass einige Banken ihnen Negativzinsen für Sichteinlagen in Aussicht gestellt haben. Vor der Umsetzung solcher Konditionsanpassungen sollte der Kunde informiert werden, das ist fair. Doch bereits die Aussicht auf negative Einlagezinsen hat Wirkungen, die den Paradigmenwechsels der EZB erfolgreich macht.
Die Reaktion der angesprochenen Unternehmen erfolgt systemkonform: So hat E.ON für seine Überschussliquidität teilweise andere Banken gewählt, teilweise die Laufzeit seiner Einlagen verlängert, teilweise in grundsätzlich andere Geldanlagen umgeschichtet. Diese Reaktionen sehen auf betriebswirtschaftlicher Ebene nach einem erfolgreichen Ausweichmanöver aus, auf volkswirtschaftlicher Ebene darf die EZB diese Reaktion aber als vollen Erfolg verbuchen: Die Verlängerung der Einlagenlaufzeit und die Umschichtung in andere Geldanlagen gibt den Banken mehr Verlässlichkeit für die Geldverwendung, da sie langfristiger laufende Kredite auch aus entsprechend langfristigeren Einlagen finanzieren können. Das Ausweichen auf andere Banken dürfte entweder bestehende Finanzierungslücken anderswo im System füllen oder im Lauf der Zeit auch die noch nicht mit Geldhaltegebühren operierenden Banken umstimmen. Denn wenn sich zunehmende Liquidität bei ihnen sammelt, haben auch diese Banken ein Anlageproblem, weil letztlich der EZB-Zinssatz auch für sie gilt.
Die vorsichtige "Negativzins-Politik" der EZB hilft bis hierher also, den EZB-Auftrag zu erfüllen: Die Geldversorgung der Wirtschaft zu sichern. Zugleich senkt diese EZB-Politik das Zinsniveau, was in einer Postwachstumswirtschaft unabdingbar ist. Schließlich ist schwer vorstellbar, dass Geldvermögen ständig exponentiell weiterwachsen, während das "Muttersystem Wirtschaft", mit dem sie wechselseitig verbunden sind, immer wieder um ein Nullwachstum herumpendelt - die aktuell wieder aufflammende "Wirtschaftskrise" gibt Zeugnis davon.
Und der neue 10er in unseren Brieftaschen? Er belegt, dass die EZB erfolgreich den Austausch von Banknoten erprobt hat. Der seit Mai 2013 erfolgte Geldwechsel der 5-Euro-Noten zeigt, dass binnen eines Jahres fast eine komplette Banknoten-Serie in ganz Europa aus dem Verkehr gezogen und durch neue Scheine ersetzt werden kann. Sollte die EZB ihre Geldhaltegebühr also auf Banknoten ausweiten wollen: praktische Erfahrungen des Geldverrufs sind nun vorhanden.