Der Fall Mollath, ein Fall für die Rechtswissenschaft?
- Der Fall Mollath, ein Fall für die Rechtswissenschaft?
- Die vermeidbare Eskalation
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Die Besonderheit dieses Falles liegt in der außergewöhnlichen Häufung und dem Zusammenwirken von Fehlern, die aber für sich betrachtet keineswegs selten sind
Ab November 2012 erscheinen immer mehr Zeitungs- und Fernsehberichte, die einen Justizskandal in Bayern anprangern. Wird etwa seit sieben Jahren ein "Whistleblower" namens Gustl Mollath, der Steuerhinterzieher anzeigen wollte, zu Unrecht in der Psychiatrie untergebracht? Schon die Fragestellung suggeriert einen Verdacht, den die bayerische Landesregierung umgehend und mit Entschiedenheit zurückweist: Nein, es sei alles rechtmäßig. Die Unterbringung beruhe auf dem rechtskräftigen Urteil einer Strafkammer, der Bundesgerichtshof (BGH) habe dieses Urteil bestätigt, und laut mehrerer Gutachten renommierter Psychiater sei Mollath, der Körperverletzungen und Sachbeschädigungen begangen habe, psychisch gestört und für die Allgemeinheit gefährlich.
In dieser Zeit hörte auch ich erstmals den Namen Gustl Mollath. Da ich für das juristische Experten-Blog des Münchener Verlags C.H. Beck gelegentlich Beiträge verfasse, griff ich das Thema in einem Online-Beitrag auf. Dabei bezog ich mich zunächst auf das Urteil des Landgerichts (LG) Nürnberg-Fürth vom 8. August 2006. Die Urteilsgründe zeigten eine zwar nicht selten vorkommende, aber dennoch auffällig einseitige gerichtliche Würdigung des Verfahrensstoffs. Über meinem ersten Beitrag stand die etwas provokative Schlagzeile "Fall Mollath – was sind die Fehler der bayrischen Justiz?"1 Es blieb dann nicht bei diesem einen Beitrag. Der Fall Mollath erreichte im Beck-Blog bis Mitte 2013 neue Klick- und Kommentarrekorde, und immer öfter wurde ich dann aufgefordert, in Interviews zum jeweils aktuellen Stand der Affäre Stellung zu nehmen.
Dass sich Rechtswissenschaftler zum aktuellen Rechtsgeschehen äußern dürfen und sogar sollten, dafür sprechen für mich gute Argumente. Urteilsanmerkungen in Fachzeitschriften, mit denen die Rechtswissenschaft üblicherweise gerichtliche Entscheidungen kommentiert und bewertet, sind zwar meist wissenschaftlich gehaltvoller als kurze Blogbeiträge und Interviews, werden wegen ihres zeitlichen Abstands aber meist nur noch von anderen Wissenschaftlern zur Kenntnis genommen. In kontrovers diskutierten Fällen besteht aber das dringende Bedürfnis nach einer fachlich qualifizierten und zugleich von politischen und Verfahrensparteien unabhängigen Bewertung, da den recherchierenden Journalisten meist der juristisch-fachliche Hintergrund fehlt.
Bei meiner Befassung mit dem Fall wollte ich nicht als Strafverteidiger von Mollath auftreten. Als Verteidiger muss man sich prinzipiell einseitig zugunsten seines Mandanten äußern, wobei man beim Ob, Wann und Wie einer kritischen Kommentierung von Äußerungen, Schriftsätzen und gerichtlichen Entscheidungen auch auf verteidigungstaktische Erwägungen Rücksicht nehmen muss. Diese notwendige Rücksichtnahme beschränkt aber zugleich die wissenschaftliche Freiheit. Und die wissenschaftliche Stimme wird in der Öffentlichkeit auch ernster genommen, wenn sie in Unabhängigkeit geäußert wird.
Der Text von Henning Ernst Müller ist ein gekürzter Auszug aus dem Buch "Staatsversagen auf höchster Ebene. Was sich nach dem Fall Mollath ändern muss" (208 Seiten, 12,99 Euro) und wurde mit freundlicher Genehmigung des Westend Verlags hier veröffentlicht. Herausgeber sind Sascha Pommrenke und der Telepolis-Autor Marcus Klöckner, der für Telepolis den Fall Mollath verfolgt hat.
Veranstaltungshinweis
Henning Ernst Müller lehrt Strafrecht und Kriminologie an der Universität Regensburg und nimmt am Montag, den 9. Dezember, neben Gustl Mollath, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Bundesministerin der Justiz, und Gerhard Strate, Verteidiger von Gustl Mollath, an einer Podiumsdiskussion im Literaturhaus München um 20 Uhr teil: Fall Mollath: Wie geht es weiter?. Veranstalter: Stiftung Literaturhaus in Zusammenarbeit mit dem Westend Verlag und Telepolis.
Die Beurteilungsgrundlage
Ebenso wenig wie andere Außenstehende konnte und kann ich einschätzen, ob Gustl Mollath die ihm vorgeworfenen Straftaten begangen hat oder nicht. Die damalige gerichtliche Sachaufklärung war jedoch offenkundig lückenhaft, einige Schlussfolgerungen im Urteil basierten auf völlig unzureichender Beweisgrundlage. Aber formal war das Urteil von 2006 nun einmal rechtskräftig – und die Beseitigung der Rechtskraft ist nur unter den sehr strengen Voraussetzungen einer Wiederaufnahme möglich.
Die für die Unterbringungsanordnung maßgeblichen, von mehreren Gutachtern zu verschiedenen Zeiten erstellten psychiatrischen Diagnosen waren uneinheitlich, wenn auch in der Tendenz ähnlich. Andere Psychiater wiederum haben widersprochen oder die Methodik ihrer Kollegen in Frage gestellt. Zwei der maßgeblichen Gutachten waren ohne Exploration des Probanden erstellt worden. Sie beruhten auf den (tatsächlich fragwürdigen) gerichtlichen Feststellungen, auf bemerkenswerten Vorurteilen und auf unkritisch referierten Akteninhalten, die wiederum auf Berichten erkennbar nicht neutraler Personen basierten. Zum psychischen Gesundheitszustand Mollaths zur Tatzeit oder später ließ sich allerdings von meinem Schreibtisch aus auch nicht das Gegenteil dieser gutachtlichen Feststellungen behaupten, zumal mir dazu die medizinische Kompetenz fehlt.
Aus rechtswissenschaftlicher Sicht konnte ich also weder dazu konkret Stellung nehmen, ob Gustl Mollath die ihm vorgeworfenen Straftaten tatsächlich begangen hatte, noch dazu, ob er tatsächlich unter einer für die Schuldfähigkeit bedeutsamen psychischen Störung litt beziehungsweise gelitten hatte. Aber andere wesentliche Umstände konnte ich durchaus rechtlich beurteilen.
Kaum nachvollziehbar war etwa die Feststellung des maßgeblich untersuchenden Psychiaters, die Gustl Mollath vorgeworfene Körperverletzung sei "zweifellos" unter schuldminderndem Einfluss der diagnostizierten Störung begangen worden. Denn für diese Folgerung musste der Psychiater mehrere Jahre in der Zeit zurückschauen – und das beim Vorwurf einer nicht allzu ungewöhnlichen Beziehungstat in der ehelichen Auseinandersetzung und zudem ohne persönliche Befragung des Probanden. Unzureichend waren im Urteil und in den nachfolgenden Entscheidungen des Vollstreckungsgerichts auch die Ausführungen zur Verhältnismäßigkeit der Unterbringung. Am ehesten konnte ich als Strafrechtswissenschaftler zu strafverfahrensrechtlichen Fragen Stellung nehmen. Aus den Akten waren beinahe haarsträubende Unregelmäßigkeiten und Verfahrensfehler erkennbar.
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