Der Fall Mollath, ein Fall für die Rechtswissenschaft?

Seite 2: Die vermeidbare Eskalation

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Für mich war nach Lektüre der Akten und der Gutachten klar, dass jeder verständige Jurist, der sich eingehender mit dem Fall beschäftigte, dabei denselben Eindruck gewönne wie ich: Gravierende Fehler in der juristischen und psychiatrischen Verfahrensweise verlangten dringend nach einer Korrektur. Die Unterbringung Gustl Mollaths in der Psychiatrie war wahrscheinlich von Anfang an rechtswidrig, jedenfalls aber für die Gegenwart nicht mehr zu legitimieren.

In dieser Situation konnte man mit einer Freilassung Gustl Mollaths durch Entscheidung des Vollstreckungsgerichts noch vor Jahresende 2012 rechnen. Die Vollstreckungskammer des LG Bayreuth hätte durch eine Freilassung – ohne damit unbedingt frühere Fehleinschätzungen und Verfahrensfehler öffentlich eingestehen beziehungsweise monieren zu müssen – den Fall Mollath in der öffentlichen Meinung als "gelöst" erscheinen lassen. Dann wären die schon seitens der Politik und der Verteidigung angekündigten Wiederaufnahmebegehren wohl in erheblich ruhigerem Fahrwasser bearbeitet worden. Doch meine Vorhersage erwies sich als Fehleinschätzung….

Einzel- oder Regelfall?

Die Frage nach der wissenschaftlichen Bedeutung des Falles führt über die Beantwortung einer mir oft von Journalisten in Interviews und Hintergrundgesprächen gestellten Frage: Ist der Fall Mollath ein Einzelfall, oder müssen wir damit rechnen, dass es viele ähnlicher Fälle in Bayern beziehungsweise in Deutschland gibt?

Die Aufgabe der Rechtswissenschaft besteht nicht nur darin, rechtsdogmatisch Gesetze zu interpretieren, sondern auch die Wirklichkeit der Gesetzesanwendung zu analysieren und auf mögliche strukturell begründete Fehlwirkungen hinzuweisen. Gestaltung und Anwendung des Rechts haben immense Auswirkungen auf das Leben in einer Gesellschaft, seien es ökonomische oder kulturelle, politische oder private. Führt die Rechtsanwendung in einem Bereich häufig oder sogar regelmäßig zu inakzeptablen Ergebnissen und ungerechten Zuständen, dann ist es eine wichtige Aufgabe der Rechtswissenschaft, auf solche Gegebenheiten hinzuweisen und ihre Korrektur anzumahnen.

In diesem Rahmen ist es für die wissenschaftliche Bedeutung des Falls Mollath ausschlaggebend, ob hier in einem Einzelfall rechtliche Regelungen von einzelnen Personen vorsätzlich missachtet beziehungsweise missbraucht wurden, um einen "störenden" Menschen hinter Gittern praktisch mundtot zu machen, oder ob in diesem Fall eher strukturell beziehungsweise systematisch angelegte Fehler zu Tage getreten sind, die man mit rechtswissenschaftlichen Methoden aufdecken kann, um gegebenenfalls auch Hinweise auf ihre Korrektur zu geben.

Eine eindeutige Antwort auf diese Frage ist äußerst schwierig. Das zur Verfügung stehende Aktenmaterial gibt keine Hinweise auf eine Verabredung von Bankiers, Politikern, hochrangigen Juristen und/oder Psychiatern, Gustl Mollath zu psychiatrisieren (vulgo "Verschwörung"). Das schließt zwar einen solchen Hintergrund nicht aus, es wäre aber unwissenschaftlich, sich auf entsprechende Spekulationen zu berufen.

Das Aktenmaterial des Falls Mollath gibt hingegen durchaus wissenschaftlich verwertbare und über den Einzelfall hinausweisende Hinweise auf Fehlsteuerungen, die (auch) eine Basis in der gesetzlichen Regelung finden. Die Besonderheit dieses Falles liegt nach meiner Einschätzung in der außergewöhnlichen Häufung und dem Zusammenwirken von Fehlern, die aber für sich betrachtet keineswegs selten sind und auch in ganz anderen Fällen, unterhalb des öffentlichen Radars, zu ungerechten Zuständen führen.

Identifizierbare Fehlsteuerungen

Im Folgenden soll ein Schlaglicht auf einige Bereiche geworfen werden, in der die Rechtswissenschaft durch Analyse des Falls Mollath zu weiterführenden Erkenntnissen kommen könnte.

Das strafrechtliche System zwischen Schuld und Maßregel

Ohne persönliche Verantwortung für das strafbare Verhalten ("Schuld") darf ein Mensch nicht bestraft werden. Bei nicht schuldfähigen Tätern greift zur Sicherung der Allgemeinheit die sogenannte "zweite Spur", das Maßregelrecht. Nach den Vorgaben des Schuldstrafrechts legitimiert in diesem Bereich allein die "Gefährlichkeit" die Freiheitsentziehung in einem psychiatrischen Krankenhaus.

Die Weiche zwischen den beiden Spuren des Strafrechts bildet der Normenkomplex aus den §§ 20, 21 und den §§ 63 ff. StGB. Auch im Zusammenhang dieser Normen gilt der Grundsatz in dubio pro reo – die Straftat und der Zusammenhang zwischen der Ursache für den Ausschluss der Schuldfähigkeit und der Straftat müssen zweifelsfrei nachgewiesen werden. Im Gegensatz zu dieser Anforderung tendieren Anwender jedoch dazu, bei einer (aktuell) festgestellten beziehungsweise angenommenen Störung im Sinne des § 20 StGB weniger Sorgfalt auf den Nachweis der begangenen Straftat(en) zu verwenden. Auch neigt man dazu, die Störung auf den zurückliegenden Zeitpunkt der Straftatbegehung zu beziehen, selbst wenn es dafür keine tatsächlichen Anhaltspunkte gibt. Der so hergestellte Zusammenhang zwischen Störung und Strafrecht wird sodann in die Zukunft extrapoliert, um so zu einer "Allgemeingefährlichkeit" zu gelangen.

Unter der Ägide des (angenommenen) Sicherheitsbedürfnisses meinen die Rechtsanwender damit im Interesse der Allgemeinheit zu handeln. Problematisch wird es – wie etwa bei Gustl Mollath – wenn einer solchen Rechtsverkürzung im Strafverfahren nicht mit einer effektiven Verteidigung entgegengetreten wird.

Das Zusammenwirken von Justiz und Psychiatrie

Für die von Juristen aus eigener Kompetenz nicht zu beantwortenden psychiatrischen Merkmale werden in der Praxis regelmäßig Sachverständige herangezogen. Auf ihre Begutachtung verlässt sich das Gericht, so dass es aus den psychiatrischen Feststellungen und Diagnosen die rechtlichen Folgen ableiten kann. Indem derselbe Fall aus zwei voneinander unabhängigen akademischen Perspektiven beurteilt wird, können Einseitigkeiten und daraus resultierende Fehler minimiert werden, so scheint es auf den ersten Blick.

Auf den zweiten Blick ergibt sich eine Systemschwäche daraus, dass die von den Richtern ausgewählten Psychiater teilweise einen nicht unerheblichen Anteil ihres Einkommens aus Begutachtungen erzielen. Insofern kann sich eine der Wahrheitsförderung gegenläufige Tendenz entwickeln, sich nicht gegenseitig in der je eigenen Perspektive zu "stören", sondern eher zu bestätigen. Der Sachverständige bemüht sich (bewusst oder unbewusst), den gerichtlichen Erwartungen zu entsprechen, um weitere Gutachtenaufträge zu erhalten. Im Fall Mollath wurden Akteninhalte seitens einiger Psychiater der Begutachtung als nicht hinterfragbare Tatsachen unterstellt. Umgekehrt werden – auch mangels eigener Kompetenz in psychiatrischen Fragen – der juristischen Perspektive genehme Gutachten von Richtern nicht kritisch gewürdigt, sondern als Legitimationsgrundlage herangezogen…

Die Pflichtverteidigung

Sobald eine Unterbringung in Betracht kommt, ist dem Beschuldigten ein Strafverteidiger beizuordnen. Damit tritt das Gesetz selbst einer möglichen Rechtsverkürzung entgegen, zugleich wird eine unter Kontrolle eines Verteidigers erfolgte Entscheidung legitimiert. Die gerichtliche Auswahl des Pflichtverteidigers ist ähnlicher struktureller Kritik ausgesetzt wie die Auswahl des Sachverständigen, zumal einem an Effektivität orientierten Gericht die dem Eigeninteresse gegenläufige Motivierung einer kritisch verteidigenden Kontrollaktivität nicht wirklich zugetraut werden kann.

Im Fall Mollath hat selbst die übereinstimmende dringliche Entpflichtungsanregung von Angeklagtem, Verteidiger und Staatsanwaltschaft nicht zur Entbindung des Pflichtverteidigers geführt – aus offen benannten verfahrenssichernden Gründen, die dem Interesse an effektiver Verteidigung übergeordnet wurden. Im Ergebnis war der dann quasi zwangsverpflichtete Verteidiger umso weniger motiviert, seiner Verteidigungsaufgabe gerecht zu werden…

Die Vollstreckung und Beendigung der Maßregel

Die Maßregel nach § 63 StGB wird – systematisch konsequent – unbefristet ausgesprochen, denn ihre Dauer soll sich mangels Schuld ja allein an der Gefährlichkeit des Untergebrachten orientieren. Dies macht die regelmäßige Überprüfung der Vollstreckung zum entscheidenden Instrument eines Untergebrachten, die Freiheit wiederzuerlangen.

Eine besondere Problematik ergibt sich dann, wenn die einmal unterstellte Tendenz zur störungsverursachten Straftatenbegehung schlicht fortgeschrieben wird. Offenbar gehen auch renommierte Gutachter davon aus, dass sie für die Begutachtung die (nicht in Rechtskraft erwachsenden) Urteilsgründe als wahr unterstellen müssen und ihnen eine kritische Prüfung der Fakten, was etwa die Grundlage einer angeblichen Wahnvorstellung angeht, nicht erlaubt sei. Insofern sind die Chancen minimal, eine anfängliche Fehlbeurteilung in der Vollstreckung zu korrigieren.

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