Der Fels der Orthodoxie und ein Strom namens Aufklärung
Interview mit dem Politikwissenschaftler Hamed Abdel-Samad, der letzte Woche als neues Mitglied der Islamkonferenz berufen wurde
Der Politologe und Schriftsteller Hamed Abdel-Samad wurde 1972 in Ägypten geboren. Er arbeitete in Genf für die UNESCO und war wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Islamwissenschaft an der Universität Erfurt sowie an der Abteilung für jüdische Geschichte und Kultur an der Universität München. Öffentliche Bekanntheit erwarb sich Abdel-Samad letztes Jahr mit seiner Autobiographie "Mein Abschied vom Himmel - Aus dem Leben eines Muslims in Deutschland". Er hat bereits mehrere Abhandlungen zur Radikalisierung von jungen Muslimen in Europa und zum Thema Islamkritik publiziert.
Herr Abdel-Samad, die Zahl der Menschen, die dem Islam skeptisch gegenüber stehen, ist (wie generell in Europa) auch in Deutschland enorm. Haben diese Menschen ihrer Einschätzung nach ein adäquates Bild vom Islam? Anders gesprochen: Wie viel und was muss man von den Schriften und aus den kulturellen Praktiken des Islam unbedingt kennen, bevor man sich hierzulande gegen oder für diesen eine Meinung anmaßen darf?
Hamed Abdel-Samad: Ein adäquates Bild vom Islam hat keiner. Muslime selbst haben so ein Bild nicht. Jeder formiert sein eignes Bild selbst. Das Islambild ist durch die historischen Narrativen im europäischen mental map seit Generationen geprägt. Dazu kommen persönliche Erfahrungen die Viele mit einzelnen Muslimen machen oder die oft negativen Berichterstattung in den westlichen Medien über den Islam. Allerdings sind in erster Linie Muslime selbst für dieses Bild verantwortlich. Die fast täglichen weltweiten islamistischen Terroranschläge und die Überempfindlichkeit vieler Muslime hinsichtlich der Islamkritik haben zur Entstehung dieses Bildes massiv beigetragen. Man muss nicht die Schriften des Islam lesen, um dazu eine Meinung zu haben. Denn es geht nicht um die theologische Vielfalt des Islam, sondern um das politische Auftreten der Muslime und um Fragen des Zusammenlebens.
Was sind Ihrer Einschätzung nach die größten Defizite des Islam, was seine Vorzüge?
Hamed Abdel-Samad: Das größte Defizit des Islam ist meines Erachtens die vereinfachte Unterteilung der Welt in Gläubige und Ungläubige. Dies hemmt jede Form des Zusammenlebens gewaltig. Dazu kommt die Beharrlichkeit vieler Muslime auf Normen und Lebensformen, die im 21. Jahrhundert nicht mehr zeitgemäß sind. Deshalb fällt es ihnen schwer, sich als eine Minderheit in einer säkularen Gesellschaft einzugliedern. Ein weiteres Kernproblem des Islam ist seine Haltung zum Individualismus. Dass jeder tun und lassen kann, was er will, bedroht aus islamischer Sicht die Gemeinschaft. Gerade die Geschlechter-Apartheid und die Entmündigung der Frau halte ich für die größte Sünde. Nun baut aber die moderne Zivilisation gerade darauf, dass das Glück des Einzelnen die Voraussetzung dafür ist, dass die Gemeinschaft funktioniert. Das nur als Gefahr zu sehen, fördert die Abschottung.
Die Vorzüge lassen sich in der sozialen Bindekraft und der Solidarität unter den Gläubigen erkennen. Über die Spiritualität vermag ich nur wenig zu sagen, aber dieser Glaube bietet immerhin über eine Milliarde Menschen Halt, Trost und Orientierung.
"Fast jede Religion ist vormodern und patriarchalisch."
Dem Islam wird oft vorgeworfen, eine vormoderne Religion zu sein, die nicht wie das Christentum durch jahrhundertelange Aufklärungskämpfe säkularisiert wurde, dementsprechend mittelalterlich, patriarchalisch und gewaltaffin ist und sowohl ihre Gläubigen wie auch die Nicht-Gläubigen auf unerhörte Weise drangsaliert. Sind Ihrer Einschätzung nach diese Kritikpunkte berechtigt oder schießen sie über das Ziel hinaus?
Hamed Abdel-Samad: Fast jede Religion ist vormodern und patriarchalisch. Und keine Religion hat sich aus einer Situation der Macht heraus selbst reformiert. Erst nachdem die Kirche entmachtet wurde, musste sie ihre Rolle in der Gesellschaft neu verhandeln. Das ist im Islam noch nicht passiert, und zwar aus mehreren Gründen. Erstens gibt es keine zentrale Kirche und keinen Klerus, die man stürzen könnte. Dann wurde der Koran über einen Zeitraum von 23 Jahren offenbart. In dieser Zeit kamen die Muslime an die Macht und der Islam äußerte sich fast zu allen alltäglichen Dingen. Der Prophet musste die multiple Funktion von geistlichem Führer, Gesetzgeber und Feldherr erfüllen. Erst die Verknüpfung von Staat und Religion ermöglichte es den Arabern (zumindest aus ihrer eigenen Sicht), sich aus zerstrittenen Nomaden zu einer in Wissenschaft und Philosophie führenden Großmacht zu entwickeln. Dies ist der Grund, warum die Idee der Trennung von Religion und Staat vielen Muslimen bis heute fremd geblieben ist.
Jetzt leben Europas Muslime zum ersten Mal als eine Minderheit in einer Gesellschaft - und noch dazu in einer säkularen Gesellschaft. Das ist eine große Herausforderung, aber auch eine sehr gute Chance. Dadurch kann der Islam erwachsen werden, er kann sich von den autoritären Strukturen abnabeln und eine neue Theologie entwickeln.
Können Sie für uns eine Einschätzung abgeben, welche fort- oder rückschrittliche Stellung der Islam im Vergleich zur christlichen und zur mosaischen Religion einnimmt?
Hamed Abdel-Samad: Es gibt keinen fortschrittlichen, aber auch keinen rückschrittlichen Islam. Das gilt für alle von Ihnen genannten Religionen. Islam ist eine Religion, die im 7. Jahrhundert entstanden ist und den Fragen und Bedürfnissen jener Zeit entsprach. Die spirituell-kosmologische Seite des Islam ist zeitlos und hat heute noch Geltung. Die weltlich-juristische Seite gehört allerdings dem 7. Jahrhundert an und hat im 21. Jahrhundert nichts zu suchen. Viele Muslime haben mit dieser Tatsache ein Problem.
Für Seyran Ates ist die Neuformulierung der sexuellen Frage und eine durchgreifenden Verbesserung der Stellung der Frau in islamischen Gesellschaften von zentraler Wichtigkeit. Stimmen Sie mit ihr darin überein?
Hamed Abdel-Samad: Natürlich spielt die Selbstbestimmung der Frau, auch die sexuelle, eine wichtige Rolle - nicht nur bei der Verbesserung der Stellung der Frau, sondern auch der gesamten Gesellschaft. Denn die unterdrückte Sexualität erzeugt auch bei jungen Männern eine unkanalisierte Energie, die nicht selten in Fanatismus und Gewalt mündet. Nur über die Reihenfolge streite ich mich mit Frau Ates. Denn die sexuelle Revolution, wie sie in Europa in den 60er Jahren stattgefunden hatte, war nicht der Anfang, sondern die Krönung eines langen Prozesses namens Aufklärung. Davor gab es eine intellektuelle, eine technische und eine industrielle Revolution, die die Gesellschaftsordnung und die Familienstrukturen stark verändert hatten.
Und diese Prozesse braucht die islamische Welt, bevor es zu einer sexuellen Liberalisierung kommt. Erst muss die Revolution des Geistes erfolgen und die Erkenntnis dessen, wo das Problem liegt, danach können von mir aus die Hüllen fallen!
Bei vielen europäischen Jugendlichen mit Migrationshintergrund werden gerade die radikaleren Ausprägungen des Islam immer populärer. Haben Sie eine Erklärung dafür? Was macht den Islam gerade für Jugendliche so modern?
Hamed Abdel-Samad: Zunächst gibt es einen Unterschied zwischen der Hinwendung zur Religion und der Radikalisierung. Die Religion bietet neben spiritueller Erfüllung auch klare Orientierung und Handlungsanweisungen, die für Menschen, die von Ambivalenz und Relativismus überfordert sind, sehr attraktiv erscheinen. Der Islamismus bietet Individuen, die sich sowohl von ihren Familien als auch vom "Gastland" oder "Geburtsland" entfremdet haben, eine reale und eine imaginäre Gemeinschaft. Zunächst kommt die Mitgliedschaft in der kleinen Gruppe, die dem neuen Mitglied Anerkennung, Nestwärme und einen Auftrag bietet. Während der Rest der Gesellschaft ihm den Eindruck übermittelt, überflüssig zu sein, geben radikale Gruppen ihm das Gefühl, Teil eines Projekts, ja Teil eines Plans Gottes zu sein.
Die Mitgliedschaft in einer imaginären Gemeinschaft namens Umma lässt ihn in eine sakralen Welt eintreten, und sein Auftrag erscheint ihm als etwas Heiliges. Man fühlt sich dadurch erwachsen und bedeutend. Eine explosive Mischung aus Minderwertigkeitskomplex und Allmachtvisionen, aus Verbitterung und Wunsch nach absoluter Reinheit lässt ihn aus seinem Leben ein Experiment machen.
Die Mitglieder der sogenannten Sauerlandgruppe wurden unlängst zu teilweise hohen Haftstrafen verurteilt. Können Sie beurteilen, ob für Deutschland tatsächlich von islamistischen Terrorgruppen eine relevante Bedrohung ausgeht?
Hamed Abdel-Samad: Von dieser Bedrohung ist mittlerweile die ganze Welt betroffen. Verglichen mit den USA und Israel ist diese Gefahr nicht hoch einzustufen, dennoch sehe ich Deutschland mit zunehmendem Engagement in Afghanistan im Visier der Terroristen, wie ihre eigenen Videobotschaften immer wieder bestätigen. In unserer globalisierten Welt von heute darf sich keiner auf der sicheren Seite fühlen. Dennoch hilft weder Aktionismus noch Panikmache. Besonnene Wachsamkeit ist das Gebot der Stunde.
"Ganz im Sinne der Traditionalisten islamisiert man im Westen den Dialog"
In den Medien liest und hört man kaum etwas von gemäßigten Strömungen des Islam. Sind diese zu schwach oder werden sie von den Medien der Zuspitzung halber einfach nicht zur Kenntnis genommen? Welche Rolle könnten diese innerhalb der islamischen Bevölkerung spielen?
Hamed Abdel-Samad: Die gemäßigten Stimmen hat es immer in der islamischen Welt gegeben, aber ihre Bemühungen mussten am Ende immer am Fels der Orthodoxie brechen. Es waren immer vereinzelte kleine Flüsse in der Wüste, deren Wasser sich im Sande verlief, ehe sie sich zu einem Strom zusammenschließen konnten, den man Aufklärung nennen würde. Gerade in Zeiten, in denen die islamische Welt die eigene Schwäche spürte, hatten Reform-Muslime es immer schwer, sich Gehör zu verschaffen. Dennoch gibt es heute überall in der islamischen Welt im Zuge der Individualisierung viele junge Menschen, die sich um eine säkulare Zivilgesellschaft bemühen. Diese werden oft vom Westen ignoriert. Ganz im Sinne der Traditionalisten islamisiert man im Westen den Dialog, was ich für einen fatalen Fehler halte.
Welche Stellenwert messen Sie der Bildung bei der Integration muslimischer Jugendlicher in Deutschland bei?
Hamed Abdel-Samad: Bildung ist das A und O im Integrationsprozess. Sie hilft einem jungen Menschen nicht nur, einen anständigen Job zu bekommen, sondern auch, sich kritisch mit seinem Glauben und mit seiner Gesellschaft auseinanderzusetzen. Allerdings schützt die Bildung alleine junge Muslime nicht unbedingt immer vor der Radikalisierung, denn die Attentäter des 11. September waren gut gebildet und hatten gute Aussichten auf berufliche Karrieren.
Die politischen Parteien wie Pro-NRW in Deutschland, die bislang versucht haben, mit der Ablehnung des Islam von Seiten der heimischen Bevölkerung auf Stimmenfang zu gehen, sind eindeutig von Rechtsextremen unterwandert. Inwiefern sind Ihrer Einschätzung nach Rechtsextremismus, Ausländerhass und Islamkritik ineinander verschränkt? Können Sie sich vorstellen, dass eine nichtrassistische Kritik am Islam von einer politischen Partei in Deutschland artikuliert wird? Wie müsste sich diese von jener unterscheiden?
Hamed Abdel-Samad: Ich kann mir das nicht nur vorstellen, sondern ich fordere das. Erst wenn die etablierten politischen Partien sich ungehemmt kritisch zum Islam und zu jeder anderen Religion äußern können, werden die Rechtspopulisten keine politischen Argumente mehr finden, um Wählerstimmen zu mobilisieren. Der radikale Islam ist der beste Freund dieser Strömungen, denn er bietet ihnen täglich Vorlagen für ihre Kritik. Für mich ist die Islamkritik aber viel zu wichtig, um sie der Polemik zu überlassen. Sie ist viel zu wichtig, um sie in Emotionen zu verwandeln. Diese Kritik darf hart, aber muss ohne Ressentiment daherkommen. Sie muss nicht unbedingt immer sachlich, aber möglichst ergebnisorientiert sein. Und wenn Muslimen diese westliche Islamkritik so scharf erscheint, sollten sie das Heft in die Hand nehmen und diese Kritik selbst üben, denn der Islam hat in aller erster Linie ein Problem mit sich selbst, und dieses Problem kann nur von innen gelöst werden.
Wie auch andere Menschen, die öffentlich den Islam kritisieren, sind auch Sie lebensgefährlich bedroht worden. Können Sie sich diese Reaktion erklären? Können Sie in München unbehelligt eine Moschee betreten?
Hamed Abdel-Samad: Jeder Tabubruch bringt eine Bedrohung mit sich, und ich versuche damit zu leben. Die Erklärung für mich ist, dass der Islam sich kulturell auf dem Rückzug befindet, deshalb ist der Islamismus auf dem Vormarsch. Individualisierungsprozesse finden verstärkt in der islamischen Welt und auch in den Diaspora-Gemeinschaften statt. Die Traditionalisten sehen, dass die alten Strukturen langsam brechen, und sie bekommen Panik, dass sich alles auflöst. Nervös und mit dem Mut der Verzweiflung versuchen sie, alles in Takt zu behalten. Gewalt, Einschüchterung und Bestrafung von Abtrünnigen sind Nebenerscheinungen dieses Zerfalls. Ich versuche, ein Optimist zu sein, und sehe diese Gewalt als Vorbote der Transformation, als Geburtswehen der Veränderung!