Sex, Islam und Demokratie

Seyran Ates fordert in ihrem neuen Buch eine sexuelle Revolution für den Islam

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Das geplante Interview mit der Rechtsanwältin und Buchautorin Seyran Ates über ihr neues Buch "Der Islam braucht eine sexuelle Revolution" muss leider entfallen. Wie der Verlag mitteilte, hat sich Ates nach Veröffentlichung der Streitschrift aufgrund massiver Drohungen aus der Öffentlichkeit zurückgezogen.

Bereits 1984 wurde die Frauenrechtlerin während ihrer Arbeit in einem türkischen Frauentreff lebensgefährlich verletzt. Später betrieb sie eine Anwaltskanzlei in Berlin, die sich speziell für die Belange von Türkinnen einsetzte. Sie war Teilnehmerin der Deutschen Islamkonferenz und wurde von Bundespräsident Köhler für ihr Engagement mit dem Bundesverdienstkreuz geehrt. 2006 wurde sie nach einer Gerichtsverhandlung mit ihrer Mandantin von deren geschiedenen Ehemann beleidigt und körperlich bedroht.

Da weitere Drohungen folgten, sah sich Ates gezwungen, ihren Beruf aufzugeben. 2007 veröffentlichte sie das Buch "Der Multikulti-Irrtum", worin sie sich kritisch mit Integrationsphantasien auseinander setzte, in deren Windschatten die ihrer Ansicht nach extrem rückschrittliche und intolerante Kultur des Islam gedeihen könne.

In ihrer neuesten Veröffentlichung "Der Islam braucht eine sexuelle Revolution", worin sie zahlreiche Interviews mit Musliminnen verarbeitete, erblickt Ates im Aufbegehren gegen die muslimische Sexualmoral den Schlüssel zur Änderung des Geschlechtsverhaltens und Hinwendung zur Demokratie in der islamischen Welt. Und in der Tat fällt die Beantwortung der Frauenfrage im Verbund mit dem Recht auf sexuelle Selbstbestimmung und der Kritik des Islam in muslimischen Ländern und Kulturkreisen eine zentrale Rolle zu, weil diese individuelle Freiräume implizieren, die demokratische Verhältnisse und Menschenrechte überhaupt erst ermöglichen.

Denn der Islam ist keine durch die Aufklärung säkularisierte Religion, sondern greift massiv in das Leben seiner Gläubigen ein. Über einen im Koran festgelegten, rigiden Verhaltens- und Ehrenkodex, der seit Jahrhunderten unverändert fortexistiert, regelt er das Leben der Muslime in einer Vollständigkeit, die man in Europa seit der Moderne nicht mehr kennt. Bei Nichtbefolgung der Gebote - vor allem, aber nicht nur was das Geschlechtsleben betrifft - begeben sich Muslime massiv in Lebensgefahr - wobei Frauen aufgrund der fehlenden Gleichbehandlung in islamischen Gesellschaften diesem Risiko in ungleich höheren Maßen ausgesetzt sind.

Arrangierte Ehe oder Zwangsheirat

Die Rolle der Frau und ihr Geschlechtsleben ist in den islamisch regierten Ländern, die noch nicht die Trennung von Religion und Politik geschafft haben, durch den Koran festgelegt. Zwar ist der Islam mannigfach interpretierbar (wie u.a. die Existenz von sunnitischen, schiitischen und alevitischen Glaubensrichtungen beweist), die Schriften im Koran selber weisen jedoch für Ates eine deutliche Tendenz für eine entschiedene Benachteiligung der Frau auf. Die Urfassung des Textes könne man z.B. unmöglich so interpretieren, dass den Frauen das gleiche Recht auf sexuelle Erfüllung zugebilligt werde, wie dem Mann. (S.66)

In islamischen Gesellschaften hat sich nicht, wie Ates schreibt, die individuelle Liebesheirat allgemein durchgesetzt. Stattdessen ist immer noch die durch die Familie vermittelte arrangierte Ehe oder die Zwangsheirat (S.26) verbreitet und gilt als die "Familienehre" wahrend. Auch sei das Geschlechtsleben der Frau durch den Islam ausdrücklich auf Ehe und der Zeugung von Nachkommen ausgerichtet. Während es dem Mann möglich sei, z.B. mehrere Frauen zu haben, Minderjährige zu heiraten, die Gattin zum Sex zu zwingen oder ihr untreu zu werden, wären die Frauen bereits aus religiösen Gründen einer massiven Unterordnung ausgesetzt.

Um die Ehre der Familie nicht zu beschädigen, müsste die Braut unbedingt als Jungfrau in die Ehe gehen. (S.100) Nach dem Koran sei sie gezwungen, dem Mann stets zu Willen zu sein, und wer den Gatten hintergeht, setze sein Leben aufs Spiel. Homosexuelle Handlungen unter Frauen könnten gleichfalls das Todesurteil bedeuten. Dieser Verhaltenskanon hat so grauenhafte und bizarre Folgen, dass man diesen im weitgehend säkularisierten Westen kaum Glauben schenken mag: So sprachen islamische Milizen 2008 in Somalia ein dreizehnjähriges Mädchen (S.57), das von drei Männern brutal vergewaltigt wurde und dies zur Anzeige brachte, des außerehelichen Geschlechtsverkehrs schuldig und verurteilten das Mädchen zur Steinigung. Jedoch selbst in Europa sind sich Frauen, die sich nicht mehr den traditionellen islamischen Verhaltensriten unterwerfen wollen, ihres Leben nicht mehr sicher (S.57), wie die mindestens 48 verübten Ehrenmorde allein in der Bundesrepublik zeigen.

Frauen besonders von häuslicher Gewalt bedroht

Um die im Islam grundsätzlich als sündhaft begriffenen Frauen ("Ein Mann befindet sich nie allein mit einer Frau, ohne dass nicht der Teufel sich als dritter zu ihnen gesellt.") die Motivation zur Untreue zu nehmen, werden in einigen islamischen (vor allem ostafrikanischen) Ländern die weiblichen Genitalien beschnitten (S.77f).

Der Frau wird in der traditionellen muslimischen Familie nach Ates aber nicht nur das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung genommen, sondern sie ist in besonderem Maße (durch den Koran legitimiert) häuslicher Gewalt ausgesetzt, was Vergewaltigung mit einschließt. Ates zitiert eine Studie des Bundesfamilienministeriums (S. 146), nach der 38 Prozent der befragten Frauen türkischer Herkunft angeben, Gewalt durch den Beziehungspartner erlebt zu haben:

So waren bezogen auf die erlebte Gewalthandlungen die Anteile der Betroffenen, die verprügelt, gewürgt, mit einer Waffe bedroht oder denen eine Ermordung angedroht wurde, bei den türkischen Migrantinnen jeweils fast doppelt so hoch wie bei den von körperlicher Gewalt betroffenen Frauen der Hauptuntersuchung.

Extreme Sexualisierung und Doppelmoral

Während die Jungen in der islamischen Kindererziehung ab einem gewissen Alter eine privilegierte Position genießen und sich den Anweisungen der Mutter nicht mehr beugen müssen, werden Mädchen von klein auf für die passive und duldende Hausfrauenrolle erzogen. Während es pubertierenden männlichen Muslime durchaus zugebilligt wird, Erfahrungen mit Sex und Alkohol zu machen, dürfen junge Musliminnen oftmals abends nicht einmal das Haus verlassen und stehen unter permanenter Bewachung ihrer Familienmitglieder (vor allem der Brüder). Um kulturelle nichtmuslimische Einflüsse gar nicht entstehen zu lassen, weigern sich die Eltern ihre Kinder den Kindergarten besuchen, am Sport-, Sexualkundeunterricht oder an Klassenfahrten teilnehmen zu lassen.

Durch die Unterdrückung des selbstbestimmten Geschlechtslebens der Frau und der Geschlechtertrennung kommt es nach Ates paradoxerweise zu einer extremen Sexualisierung der islamischen Gesellschaften:

[...] die Verhüllung der Frau führt genau wie die Geschlechtertrennung dazu, dass Männer und Frauen sich stets in einer sexuell aufgeladenen Atmosphäre begegnen. Es gilt, sexuelle Kontakte zu verhindern, doch tatsächlich werden sexuelle Gedanken und Gefühle durch die Tabuisierung erst recht geweckt und verstärkt.

(S.121)

Da die Sexualität nur unterdrückt, aber nicht abgestellt werden könne, sei die Folge daraus eine extreme Doppelmoral innerhalb der islamischen Gesellschaften, in der die Hymenrekonstruktion ein lukrativer Geschäftszweig geworden sei. Ates bringt z. B. die Einschätzung einer Journalistin, nach der sich ein großer Teil der Frauen in Tunesien vor der Hochzeitsnacht ihr Hymen operativ wieder herstellen lassen. (S.102) Um den Schein der Jungfräulichkeit zu wahren, wären Musliminnen gezwungen, Schwangerschaftsabbrüche vornehmen zu lassen (S.101) Analverkehr sei eine Methode, um das Hymen-Dilemma beim Geschlechtsverkehr zu umgehen (S.25). Auch führe die Angst vor dem Verlust der Jungfernschaft die Familien dazu, ihre Töchter sehr jung zu verheiraten. (S.107) In einigen islamischen Ländern ist das Mindestalter für die Ehe bei Frauen per Gesetz so niedrig, dass Kinder verheiratet werden können. (S.151) Sexueller Missbrauch sei in islamischen Familien kein Thema, jedoch nicht weil dieser nicht stattfindet, sondern weil über diesen absolutes Stillschweigen herrschen würde. (S.151)

Männlichkeitswahn

Doch sei in islamischen Gesellschaften das Geschlechtsleben auch für Männer "eine Bürde", da dieses "genauso fremdbestimmt" sei "wie das der Frau". (S.135). Denn selbst beim Sex ist der Muslim angehalten, der Religion seine Referenz zu erweisen. Nicht nur dass nach einer Sunna der Mann vor dem Geschlechtsverkehr eine Gebetsformel sprechen soll, die ihm vor dem Leibhaftigen beschützt, auch für den geschlechtlichen Höhepunkt gibt es eine Formel, um die Großartigkeit Allahs zu preisen.

Da der Mann im Islam angehalten ist, der Sexualität nach dem Vorbild Mohameds zu frönen (der neun Frauen hatte) ist er permanentem Sexualstress ausgesetzt:

Von allen Seiten wird ihm erklärt, wie er zu sein habe, was er können müsse. Die ständige Berieselung mit dem Thema Sex, die ständige Betonung, wie potent er sei, wie wenig er seine Triebe kontrollieren könne, setzen den Mann unter Druck.

(S.135)

Dieser "Männlichkeitswahn" (Ates) öffnet Tür und Tor für eine ausgesprochene Macho-Kultur, welche wiederum die hierarchischen Geschlechterstrukturen verfestigt. Dies in Verbindung mit einer archaischen Vorstellung von Ehre, veranlasst nach Ates männliche muslimische Teenager immer wieder, jungen Frauen, die ihrer Ansicht nach einen zu westlichen Lebensstil angenommen haben, mit Massenvergewaltigung zu drohen, wobei es nicht immer bei der Drohung bleibt. (S.146)

Dass die Unterdrückung des Geschlechtstriebes im Islam auch bizarre Auswirkungen auf die männliche Sexualität hat, wird ebenfalls von Ates geschildert. Sie berichtet von Sodomie (S.59) und zitiert Google-Trends, nachdem "nirgendwo auf der Welt so oft im Internet nach Kinderpornographie gesucht [wird] wie in der Türkei."

Das Buch von Seyran Ates mag für Muslime sehr starker Tobak sein, dies rechtfertigt jedoch keinesfalls, das Leben der Autorin zu bedrohen. Wen solche Vorwürfe empören und hanebüchen vorkommen, der sollte die Zeit nehmen, diese ein für allemal sorgfältig empirisch zu widerlegen, anstatt die Verfasserin mit dem Scheinargument ihrer Instrumentalisierbarkeit von rechts zu diskreditieren. Und der Versuch, die Verfasserin mundtot zu machen, ist das schlechteste, wenngleich wirksamste Mittel.

Falls die Ausführungen von Ates verallgemeinerbar der Realität entsprechen, haben wir es innerhalb der (vollkommen zu Recht elementar kritisierbaren) westlichen Gesellschaften mit einer massiv rückschrittlichen sozialen und kulturellen Praxis zu tun, die unterbunden werden, aber auch erst einmal zur Kenntnis genommen werden muss. (Wobei laut einer Resolution der UN vom März die Berichterstattung über den Islam im Zusammenhang mit Gewalt wegen der "Diffamierung von Religion" wesentlich erschwert wurde).

Sollten die Vorwürfe der Autorin Einzelfälle und für den Islam nicht repräsentativ sein, wiegen sie trotzdem schwer und sind schwerlich hinnehmbar. Solche massiven Vergehen dürften auch nicht mit dem Hinweis einer zum westlichen Lebensstil divergierenden Kultur Link auf http://www.heise.de/tp/blogs/8/146561 und verharmlost werden. Und selbst wenn Frau Ates in ihrem Buch das Blaue vom Himmel herunter gelogen und mit voller Absicht sämtliche Muslime beleidigt hätte, müsste dies Gegenstand juristischer Auseinandersetzung bleiben und darf nicht Anlass für Morddrohungen geben.

Man muss die Prinzipen des bürgerlichen Rechtsstaats nicht naiv verabsolutieren und zum Freiherr von und zu Westerwelle werden, indem man in ihnen einen Fortschritt zur puren Gewalt erblickt (wobei die Rechte der Menschen selbst in ihren Ursprungsländern wieder tendenziell zurückgenommen werden). Falls der Islam eine friedliebende und tolerante Religion ist, wie seine Anhänger immer wieder behaupten, sollten sich nun auch Stimmen aus dessen Reihen zum Schutz für Seyran Ates melden, auch wenn sie mit ihr inhaltlich nicht übereinstimmen.