Der Gott der Verrohung
Wie Suchmaschinen unser soziales Denken und Verhalten verändern – zum Wohle von Konzernen
SEO heißt der Gott unserer Zeit. Ihm huldigen wir; nach seinen heiligen Regeln schreiben wir Texte und designen Webseiten. Wieso eigentlich? Und: Was macht Search Engine Optimization, so die vollständige Bezeichnung, mit den Texten, der Wissensproduktion und unserem Wissen, wenn nur über das geschrieben wird, nach dem zuvor schon gesucht wurde? Ein Selbstversuch als SEO-Texterin.
Nicht beugen! Seit Stunden brüte ich über einer unlösbaren Aufgabe: Wie schafft man es, das Keyword "Frühblüher Grundschule" satte 14 Mal in einen grammatikalisch korrekten Satz einzubauen, ohne es in irgendeiner Form zu verändern? Das Keyword ist heilig. Die Keyworddichte (ein Prozent des Textes) auch. Ausgedacht hat sie sich mein Auftraggeber, ein deutschlandweit bekannter und erfolgreicher Dienstleister, der (Online-)Texte von Textern und Bloggern produzieren lässt und sie dann über diverse Plattformen verschiedener Firmen verbreitet.
Bei meinem speziellen Engagement und Auftrag geht es nun ums "wissenschaftliche Texten". Den Blog-Post versuche ich seit Stunden nach der unendlich langen Liste an akribisch formulierten Anforderungen zu schreiben. Er soll Eltern anlocken, die interessiert sind an einer frühpädagogischen, naturwissenschaftlichen Online-Ausbildung ihrer Kinder.
Das Keyword ist heilig!
Ich schaue resigniert zum hundertsten Mal ins Briefing und lese: "Hierbei ist besonders wichtig, dass Du das Keyword nicht beugst, deklinierst und auch nicht in der Reihenfolge abänderst." Ich soll also einen Text verfassen für gebildete Eltern, die sich eine wissenschaftliche Bildung ihrer Kinder wünschen und dafür über einen Text angelockt werden sollen, der schief und nicht grammatikalisch korrekt klingt. Dieses Detail scheint dem Auftraggeber und wohl auch den klickenden Eltern egal zu sein, denn der Erfolg dieser SEO-Strategie hat sich bewährt.
Nun gut. Nicht das Keyword, sondern ich muss mich beugen. Ich schreibe also Sätze wie den Folgenden: "Durch die Schneeschmelze wird der Boden weich und die Blumen erwachen so aus ihrer Winterruhe. Dann ist der Zeitpunkt gekommen, an dem Frühblüher Grundschule von Deinem Kind beobachtet und erforscht werden können."
Blog-Deutsch: Die schleichende Sprachverrohung
Nach zwei Stunden Schreiben habe ich selbst schon das Gefühl, "Frühblüher Grundschule" wäre ein feststehender Begriff, wobei ich damit nicht früh blühende Pflanzen assoziiere, sondern sehr schlaue Grundschulkinder. Ich nehme einen großen Schluck Kaffee, um meine eigene Sprachwahrnehmung wieder zurechtzurücken und frage mich: Wieso das alles?
Des Rätsels Lösung lässt sich auf eine Grundüberzeugung der Suchmaschinenoptimierung zurückführen: Was gesucht wurde, wird wieder gesucht werden! "Frühblüher für Kinder" (das zweite Keyword) und "Frühblüher Grundschule" (das heilige Erste), wenn Eltern ihren Sprösslingen das Wunder früh blühender Pflanzen nahebringen wollen.
Eltern und Pädagogen suchen bei Google dann nach Informationen und Anleitungen - und zwar nicht in ganzen Sätzen wie "Wie bringe ich meinen Kindern das Wunder von früh blühenden Pflanzen bei?", sondern sie suchen und denken auch schon SEO-kompatibel und tippen deshalb nur Schlagworte in die Suchmaschine. Der Google-Algorithmus wiederum lernt nun: Aha, das suchen User also oft, das ist relevant. Sucht jemand nach einem ganzen Satz – es gibt manchmal noch so Wahnsinnige –, dann schlägt Google vor: Meinten Sie "Frühblüher Grundschule"?
Und so beginnt sie, die unendliche Karussellfahrt. Denn jetzt ist das Keyword klar und wonach gesucht wird, das will gefunden werden, denkt sich der Texte-Anbieter. Jetzt muss er, wenn er alle SEO-Regeln ernst nimmt und Erfolg haben möchte auf dem harten Suchmaschinenmarkt (denn nur darum geht es), einen Text produzieren, in dem das Keyword genau so und nicht anders vorkommt. So oft, wie es der Text gerade noch oder auch schon nicht mehr erträgt.
Google will nur finden, was gesucht wird
Ich muss das Keyword in jeder Überschrift und jeweils im ersten Abschnitt des Absatzes verwenden, ob es passt oder nicht. Eine weitere Regel kommt dazu: Das Wort "Frühblüher" allein zu verwenden als Erklärung, wovon man so nebulös und abgehackt schreibt, ist verboten. Diese Regel kommt komplett in roter Farbe daher und ist mit vielen Ausrufezeichen versehen. Benutzt man nämlich nur einen Teil des populären Suchbegriffs, wird die Seite nach unten geordnet in der Wichtigkeit.
Google will nur finden, was gesucht wird. Das wiederum kommt dann, wenn man sonst auch sehr brav ist und die sich ständig etwas ändernde Armada an SEO-Regeln befolgt, nach oben in die Liste der Suchergebnisse. Jetzt könnte es passieren: Derjenige, der sucht, was alle suchen, bekommt Ergebnisse angezeigt, die genau die Suchphrasen enthalten, nach denen er gesucht hat. Das klingt dann doch genau nach dem, was er gesucht hat und der Findende denkt sich unbewusst: "Oh, das klingt genau nach dem, was ich gesucht habe! Da klicke ich mal drauf."
Es ist eine Fahrt im Karussell auf dem Internet-Rummel, den eine Firma weltweit bestimmt und betreibt: Google. Denn: Das "search engine" in "Search Engine Optimization (SEO)" muss gelesen werden als: "Google Optimization"; nichts anderes kann es meinen.
Google doch mal: Überwachungskapitalismus
Google ist die weltweit erfolgreichste und einflussreichste Suchmaschine und bestimmt sowohl unser Such- und Findeverhalten als auch unsere gesamte Weltsicht und nun auch unser Weltwissen. Spätestens seit Veröffentlichung des Dokumentarfilms "The Social Dilemma" diesen September dämmert dieser verstörende Fakt der breiteren Öffentlichkeit nach und nach immer mehr. Datenschützer und Verfechter von Digitaler Ethik warnen hiervor schon seit Jahren.
Die Suchmaschine, mit der wir Google gedanklich in Verbindung bringen, ist nur eins der vielen Geschäftskonzepte der Firma, die allen anderen voran "Surveillance Capitalism" betreibt und befeuert. Dass wir alle bereits seit Langem in einem "Überwachungskapitalismus" leben und agieren, hat die Harvard-Professorin Shoshana Zuboff erstmals umfassend in ihrem 2019 erschienenen Buch "The Age of Surveillance Capitalism – The fight for a human future at the new frontier of power" beschrieben und aufgedeckt.
Nach und nach und von uns kaum bewusst wahrgenommen, wird unser soziales Denken und Verhalten verändert. Alles zum Wohle der Firmen, die viel Geld in Online-Marketing (lies: Search Engine Optimization und Search Engine Advertising) investieren und gierig nach unserer Aufmerksamkeit und unserem Klick lechzen.
Zuboff beschreibt anhand von tiefgehenden Recherchen ein marktwirtschaftliches und kapitalistisches System, das mit von Menschen abgeschöpften persönlichen Daten Verhaltensvorhersagen generiert und diese Einsichten an Firmen verkauft. Diese wiederum nutzen die Einsicht, wie jeder Einzelne von uns denkt, handelt und handeln wird zur gezielten Verkaufsstrategie ihrer Produkte. Zusätzlich wird auf Basis unseres sehr individuellen und hochdetaillierten Profils, das Big Data Player wie Google, Facebook, Whatsapp, Instagram und Co. von uns haben, Einfluss auf unser emotionales Leben genommen.
Zuboff beschreibt eindrücklich, wie wir durch gezielte Beeinflussung durch die Dinge, die wir angezeigt bekommen in unseren sozialen Netzwerken und in Suchmaschinenergebnissen, empfänglicher gemacht werden für Konsum und politische Beeinflussung.
Zurück zur SEO-Textproduktion. Nachdem ich das erste und zweite Keyword oft genug in meinen Blog-Post eingearbeitet habe, gilt es nun, die "Bindewortdichte" zu überprüfen. Diese ist eindeutig zu gering, denn mein Text ist von Natur aus nicht sehr kontrovers. Da es um die ersten Pflanzen im Frühjahr geht, habe ich den Fokus auf leichte, ansprechende Wissensvermittlung für Eltern gelegt. Das war ein Fehler.
Ich muss zehn Prozent mehr Bindewörter, also Konjunktionen, einbauen, sonst darf ich mich erst gar nicht trauen, meinen Text an die Content Managerin zu schicken. Ich ändere meine Sätze ab und baue "aber", "statt", "obwohl", "weder – noch", "außer", "anstatt" und ein paar neutrale Bindewörter wie "da", "dass", "seit" und "ob" ein. Mein Text hat nun mehr Pfeffer, könnte man sagen, und deshalb findet und mag ihn Google besser. Kontroverse Texte lesen sich besser, scheint die Lehre hinter dieser Regel zu sein.
Schreiben wie das US-Militär
Nächster Punkt: der sogenannte Flesch-Reading-Ease-Test. Dieser soll laut Angaben der Content Managerin den Lesefluss analysieren und prüfen, ob ich den Leser auch ja nicht mit zu vielen komplexen, zu langen Sätzen – wie diesem – auf eine zu harte mentale Probe stelle. Ich prüfe mit dem "textreadability"-Tool und erhalte einen grünen Punkt samt Lob: "Super, sehr gut gemacht!". "Yes, sir!", brülle ich und salutiere mit der Hand an der Schläfe.
Das scheint mehr als angebracht, denn der "Flesch-Kincaid Readability Test" wurde für die U.S. Navy entwickelt und ist bis heute der geltende Standard für Militärdokumente. Technische Dokumente sollten lesbarer und schnell verständlich gemacht werden. Das leuchtet ein. Nicht so sehr, wieso die gesamte Welt nun nach diesen heilig gewordenen Regeln des US-Militärs schreibt und denkt.
Wer Texte für das Netz schreibt oder eben wie ich jetzt "produziert", dem ist die Forderung der Lesbarkeit natürlich nicht fremd. Der Leser hat eine sehr geringe Aufmerksamkeitsspanne! Man stelle sich das Aufnahmevermögen von Donald Trump vor und halbiere. Wenn das Interesse nicht schon in der Überschrift, dem Teaser oder gleich am Anfang des Textes klar ins Gesicht springt, ist eh alles verloren. Emotionale Trigger willkommen! Kontroverse auch. Wieso?
Wir haben es mit Lesern zu tun, deren Aufnahmefähigkeit über die letzten Jahre systematisch zerstört wurde durch die Flut an Bildern und Textschnipseln, die sie beim Scrollen in ihren Feeds sehen und verarbeiten müssen. Ich kenne dieses Phänomen selbst. Ich kann mich erst wieder aufs Lesen eines längeren Textes oder Buchs konzentrieren, wenn ich davor einige Zeit auf Social-Media-Diät war.
1.500 Wörter soll mein Text lang sein und ich brüte ungewöhnlich lange über ihm. Neben den Keywords und den zehn Begriffen, die ebenfalls oft gesucht werden und die ich einbauen soll ("Wetter für Kinder", "Jahreszeiten", "Frühling", "Sommer", "Herbst", "Winter", "Sonne", "Erde", "Klimawandel", "Treibhauseffekt"), soll er "wissenschaftlich" sein. Ich muss mindestens vier sogenannte "Trust-Links" zu Universitäten oder Schulen einbauen und deren Bemühung in diesem Bereich ("Frühblüher Grundschule") erwähnen. Zusätzlich soll ich so oft wie möglich im Text aus Werken von Google Scholar zitieren. Immerhin: "Es genügt, thematisch relevante Werke zu überfliegen und aus diesen passende Stellen zu zitieren."
Es widerspricht allem, was ich als (Wissenschafts-)Journalistin lieben gelernt habe: gründliche, ausführliche Recherche und relevante, verständliche Texte verfassen. Aber auch hier muss ich mich beugen. Möchte ich denken und wirtschaften wie eine SEO-Texterin, kann ich, bezogen auf meine geringe Bezahlung, nur überfliegen. Hier und da baue ich die verlangten, relevant aussehenden Screenshots von Statistiken der Google-Scholar-Werke ein.
So entsteht nach zwei Arbeitstagen Schreiben und weiteren zwei Tagen Abnahme und Korrekturschleife ein oberflächlicher, wissenschaftlich angehauchter Text, der hoffentlich gefunden, auf den ersten Blick für vertrauenswürdig befunden und dann geklickt wird. Wie viele Texte werden auf diese Weise produziert? Wie viel dieser Mentalität ist in unsere Redaktionen und unser Schreiben gesickert? Google verrät es mir nicht.
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