Der "Höllenzug" aus Frankreich
Linksrheinische Reaktionen auf den Castor-Transport: Vereinzelte Aktionen, der Wille zur Aufklärung, aber keine große Protestwelle
Gestern startete der „radioaktivste Transport der Welt“ vom nordfranzösischen Valognes nach Deutschland. Im Wendland erwarten geschätzte 30 000 Transport-Gegner die elf Waggons mit Atommüll – in Frankreich kämpft der Protest dagegen erst mal darum, überhaupt gehört und wahrgenommen zu werden.
Auf seinem Weg durch die Städte Caen, Amiens, Arras, Metz und Straßburg trifft der „Höllenzug“ („train d'enfer“) auf einigen angekündigten Widerstand. So hatten sich in der Nähe von Caen fünf Atomkraftgegner (darunter ein Deutscher) an die Gleise gekettet und den Zug somit bereits etwa eine gute Stunde nach Abfahrt zum ersten längeren Stopp gezwungen. Nach Angaben der Zeitung Le Parisien konnte der Zug erst gegen 19 Uhr weiterfahren.
Doch gehe es den französischen Atomgegnern vor allem darum, die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit für den Transport überhaupt erst zu gewinnen , „Lärm zu machen“ und „Reisende auf die Gefahr aufmerksam zu machen“ heißt es vom Seiten des Anti-Atomnetzwerkes Sortir du nucléaire. Reichlich milde klingt das, denkt man an den angekündigten „Rekordprotest“ in Deutschland.
Ebenso wenig wie in Frankreich gegen die Verlängerung der Laufzeiten für Atommeiler protestiert wird, hört man dort von Atommülltransporten oder gar einem Endlagerproblem. Dementsprechend schwer haben es die französischen Atomgegner: „Wir verstehen uns in erster Linie als ‚Whistleblower’ – und wollen die Öffentlichkeit auf das Atomproblem aufmerksam machen“, erklärt Kampagnenleiterin Charlotte Mijeon von Sortir du nucléaire.
Das ist in Frankreich auch dringend nötig. Denn der Castor war bis zum gestrigen Freitag nur in Lokalzeitungen und immerhin in einem Blog bei Le Monde-Online ein Thema – doch man muss schon danach suchen, um informiert zu werden. Die Reaktionen auf den Le Monde Blog sagen viel über die grundsätzliche Stimmung: Die Journalisten sollten endlich aufhören, Panik zu machen, heißt es da, die Strahlenbehälter seien gut verpackt – es gäbe also keinen Anlass, daraus ein Drama zu machen. Das sieht Greenpeace und das Netzwerk Sortir du nucléaire natürlich anders.
Die Atomgegner wollen sogar mit Messgeräten an den Zug kommen, um die offiziellen Angaben über die Strahlenbelastung zu überprüfen: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser. Und zum Misstrauen haben die Aktivisten allen Grund: Sie versuchten wochenlang von dem Betreiber der Anlage (Areva) und der staatlichen Sicherheitsbehörde ASN (l’Autorité de Sûreté Nucléaire) zu erfahren, wie viel Radioaktivität die elf Castorwagons eigentlich enthalten – jedoch ohne Erfolg.
Erst über einen niedersächsischen Abgeordneten der Grünen habe man die genauen Werte erfahren. Nun wissen Greenpeace und Sortir du nucléaire auch, warum man sich taub stellte: Der 12. Castor sei der „radioaktivste Atommülltransport der Welt“. „Das zeigt alles wie wenig demokratisch unser Land ist“, erklärt Charlotte Mijeon von Sortir du nucléaire.
Areva-Präsidentin Anne Lauvergeon und La Hague-Sprecher Christophe Neugnot bestreiten freilich solche Angaben. Es sei ungefähr immer dieselbe Menge an Radioaktivität, auch beim elften Transport, betont Lauvergeon. Und der La Hague-Sprecher meint gar, dass diesmal weniger Strahlung im Spiel sei: „Il est moins radioactif“.
Aufklärung geht vor: Französische Atomgegner wollen zuerst die Atomnation aus dem Schlaf rütteln
Da die französische Antiatombewegung noch weit von einer Massenmobilisierung entfernt ist, versucht sie vor allem eines: Aufklärung. Mit einem Zeichentrickfilm wird anschaulich erklärt, wie der Zug von La Hague in Nordfrankreich ins Wendland rollt. Dort werden unzählige kleine weiße Männchen gezeigt, die sich auf die Gleise setzen und von der Polizei weggetragen werden. Man könnte fast denken, der Film wolle sagen: „Seht so macht man das!“. Dass in Deutschland ein derartiges Aufsehen gemacht wird, entlockt dem einen oder anderen Franzosen derzeit höchstens ein müdes „Ja, das ist eben so deutsche Tradition“.
Im eigenen Land können sich nur sehr wenige vorstellen, gegen die Atomlobby zu demonstrieren, geschweige denn, sich an Gleise zu ketten. So ist der 2004 von einem Castor überrollte französische Antiatomaktivist Sebastien Briard in Deutschland mittlerweile ein Mythos. In seinem Namen verübte ein gleichnamiges Kommando deutscher Atomgegner nun sogar „Vergeltungsschläge“ wie letzte Woche gegen die Berliner S-Bahn.
Trotz des Todes von Sebastien Briard, rechnet die Kampagnenleiterin in den nächsten Tagen dennoch mit vereinzelten „spektakulären Aktionen“ von unabhängigen Gruppen, auch wenn sie hofft, dass gerade ungeübte Atomgegner „vorsichtig“ sind. Einige französische Protestler wollen sich auch auf den Weg ins Wendland machen: Zwar arbeite man schon eng mit der B.I. Lüchow-Dannenberg zusammen – aber man könne noch viel für die Mobilisierung in Frankreich lernen.
Alptraum La Hague: Gründe zum Widerstand gibt es genug
Dabei ist das Land weit mehr betroffen als Deutschland – und das nicht nur aufgrund seiner 58 Atomkraftwerke. In der Wiederaufarbeitungsanlage in La Hague wird Atommüll aus ganz Europa behandelt. Abgebrannte Brennstäbe werden hier teilweise recycelt – das heißt wiederverwertbare Reststoffe von Uran oder Plutonium werden abgetrennt – und der Rest für die Endlagerung verpackt. La Hague ist zudem wie auch Gorleben ein Atommülllager für französische Atomkraftbetreiber, dass keinen Endlagerstatus genießt – so wie alle Atommülllager in der EU.
Schon seit langem gibt es Beweise dafür, dass die Region um die Wiederverarbeitungsanlage mit Strahlung kontaminiert ist. Schon Ende der 1990er Jahre nahm Greenpeace im Meer Boden- und Wasserproben an entsprechenden Ableitungsrohren der Anlage und stellte dabei fest, dass radioaktive Flüssigabfälle direkt ins Meer geleitet wurden – und das ist legal, da nur das Entsorgen von Atommüllfässern verboten ist. Auch bei der Abluft der Anlage wurde eine immense Überschreitung der Grenzwerte nachgewiesen.
Nicht erstaunlich also, dass französische Wissenschaftler schon vor über zehn Jahren eine erhöhte Blutkrebsrate bei Kindern und Jugendlichen in der Umgebung nachwiesen. Weitere Enthüllungen um das totgeschwiegene Thema machten 2009 die Journalisten Eric Guéret und Laure Noualhat in ihrem Dokumentarfilm "Albtraum Atommüll".