Der Internet-Krieg der Editoren
Auf den Seiten der elektronischen Enzyklopädie Wikipedia wogt ein "Edit-War" um die von Arbeitgebern ins Leben gerufene "Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft"
Die umstrittene Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM) war bislang schon für diverse Schlagzeilen gut (Think Tanks sollen Stimmung schaffen und lassen die Grenze zwischen PR und Journalismus verschwimmen), nun sorgt sie auch im Internet für Turbulenzen: Auf den Seiten der basisdemokratischen Enzyklopädie Wikipedia tobt ein Streit um das Wesen dieser von einem Arbeitgeberverband ins Leben gerufenen Propaganda-Abteilung.1 Immer wieder werden kritische Beiträge zur INSM von bestimmten Nutzern gelöscht - manche vermuten dahinter zahlende Auftraggeber (vgl. Wie versucht wird, Wikipedia zurecht zu trimmen ...).
Anhand der sich fast täglich verändernden Einträge unter dem Stichwort "Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft" in dem Netz-Lexikon lässt sich ein Kampf um Bedeutungen und Begriffe begutachten, der eine Schlacht um die Deutung von Welt ist. Wikipedia2 wird damit zwangsläufig zum Terrain eines gesellschaftlichen Kampffeldes und jener Kämpfe die „auf eine Änderung der Wahrnehmungs- und Bewertungskategorien der sozialen Welt und darin auf eine Veränderung der sozialen Welt selbst abzielen“, wie es der französische Soziologe Pierre Bourdieu ausgedrückt hat.
Beginnen wir mit dem Anfang: Am 6. Dezember 2004 war in Wikipedia unter dem Stichwort „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“ zu lesen:
Die SPD kritisierte im Dezember 2004 die ‚Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft’ (INSM) als ‚Tarnorganisation’. Die grüne Finanzpolitikerin Christine Scheel verließ im Dezember 2004 die Initiative. Zuvor hatte attac der Initiative anläßlich der Vergabe der Auszeichnungen ‚Blockierer des Jahres’ und ‚Reformer des Jahres’ vorgeworfen, sie betreibe ‚Industriepropaganda'.
Der Hintergrund für diesen Eintrag war, dass durch diverse kritische Medienberichte öffentlich wurde, dass die INSM unter dem Deckmäntelchen der Unabhängigkeit und Neutralität Lobbyarbeit für die gesellschaftspolitischen Interessen des Arbeitgeberverbandes Gesamtmetall leistete.3 Denn dieser gründete 2000 diese Initiative und gönnt sich seither für zehn Millionen Euro pro Jahr die Dienste einer Werbeagentur, die neoliberale Botschaften wie den Abbau des Kündigungsschutzes unter die noch immer „sozialstaatsgläubige“ Bevölkerung bringen soll.
Und auch die dazu eingekauften Journalisten taten ganze Arbeit: Sie plazierten die politischen Ansichten des Arbeitgeberverbandes geschickt in den Redaktionsstuben der Zeitungen, finanzierten genehme Beiträge im Fernsehen, vermittelten „Botschafter“ als Interviewpartner. Dies alles, ohne dass in den jeweiligen Medienbeiträgen klar wurde, dass finanziell und geistig federführend die Organisation der Metallarbeitgeber dahinter stand.4 Dies ging soweit, dass ganze Szenen in der Soap-Opera „Marienhof“ gekauft wurden.
Diese Manipulation der Öffentlichen Meinung war der Grund, warum die INSM selbst zum Gegenstand der Berichterstattung und von Wikipedia wurde. Dort allerdings mutierte die kritische Beschreibung mehr und mehr hin zu einer „Neutralität“ der Darstellung. So hieß es am 15. Februar 2005 nun:
Die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM) ist eine im Jahr 2000 gestartete Kampagne, ‚Reformbewegung’ und Denkfabrik, die strikt marktwirtschaftliche Positionen vertritt.
Am 17. Juni 2005 erfolgte eine weitere Weichspülung. Statt „strikt marktwirtschaftliche Positionen“ ist jetzt nur noch von „marktwirtschaftlichen Positionen“ die Rede. Im September schließlich ist der Weichspülvorgang dann nahezu abgeschlossen:
Die im Jahr 2000 gegründete Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM) bezeichnet sich selbst als Reforminitiative. Sie sieht sich als parteiübergreifende Plattform, die sich der Sozialen Marktwirtschaft verbunden sieht.
In dieser Definition ist jeglicher kritische Impuls getilgt und das Eigenbild der Propaganda-Truppe übernommen, was ungefähr ähnlich naiv ist wie an eine halbe Schwangerschaft zu glauben. Das sehen auch die Mitglieder der Wikipedia-Gemeinde auf der Diskussionsseite so:
Dieser Artikel macht ja eine erstaunliche Metamorphose durch! Alte Versionen stellten mal eine kritische Betrachtung der Lobby-Organisation und ihrer Ziele dar, aber Stück für Stück hat er sich wie von Zauberhand in das gesäuselte Loblied einer tüchtigen Gruppe von Reformern verwandelt, die nur unser Bestes wollen.
62.180.160.80 01:17, 3. Sep 2005 (CEST)
Anfang März 2006 schließlich eskaliert der Streit um die inhaltliche Ausrichtung des INSM-Artikels in einem sogenannten „Edit-War“, wobei die „gegnerische“ Version jeweils gelöscht und durch die eigene ersetzt wird. So konnte sich folgende immerhin wieder leicht kritische Version nicht durchsetzen:
Die im Jahr 2000 gegründete Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM) bezeichnet sich als ‚branchen- und parteiübergreifende Plattform’, die für ‚marktwirtschaftliche Reformen’ eintritt und mittels professioneller PR-Kampagnen und Medienkooperationen versucht, Mehrheiten für ihre Ziele zu gewinnen. In den Augen ihrer Kritiker ist sie hingegen eine getarnte PR-Agentur eines Arbeitgeberverbandes.
Diese Version wurde insgesamt zehn Mal gelöscht und durch die Weichspülversion ersetzt, der Wächter über die „neutrale“ Version hatte schlicht den längeren Atem im „Edit-War“.
Edit-War oder: Mythen des Internet
Um diesen „Edit-War“ zu verstehen, muss man die Regeln und die Konstruktion von Wikipedia kennen. Als „basisdemokratische“ Enzyklopädie („umfassendes Wörterbuch“, „Grundwissenschaft“) kann jeder einen Artikel ins Leben rufen oder bestehende Artikel verändern. Damit letzteres nicht im Chaos endet, gibt es gewisse Grundregeln: „Vandalismus“ etwa ist verboten (das Löschen von Teilen oder ganzen Artikeln), der „Werdegang“ eines Artikels ist aufgezeichnet und in seinen verschiedenen Versionen nachvollziehbar, für Streit unter den Autoren gibt es eine Diskussionsseite, auf der dieser Streit ausgetragen werden soll. Wikipedia setzt damit auf den Sieg der Rationalität und des Arguments, die „Wahrheit“ solle sich im rationalen Austausch der Argumente herstellen - Aufklärung pur also.
Mit diesem zweifelsohne sympathischen Ansatz nährt Wikipedia freilich - in Anlehnung an Roland Barthes „Mythen des Alltags“ - die „Mythen des Internet“. Diese Mythen erzählen vom demokratischen und aufklärerischen Potenzial des Netzes, von der Gleichheit der Benutzer, von der Redefreiheit der Massen und der subversiven Kraft gegenüber den politisch und ökonomisch Mächtigen.
Der Streit um den INSM-Artikel freilich zeigt die Grenzen dieser Eigenschaften auf. Jener eifrige Nutzer, der über die „neutrale“ - sprich weichgespülte Version - des Artikels Tag und Nacht wacht, beruft sich gerne auf die „fehlende Neutralität“ der kritischen Beiträge. Damit ist argumentativ natürlich nichts gelöst, sondern der semantische Streit um das „Wesen“ der INSM lediglich auf eine andere Ebene verschoben, in der es dann um den semantischen Streit von „Neutralität“ geht.
Interessanter Weise lässt sich an diesem Wikipedia-Artikel sozusagen in Zeitrafferform ein gesellschaftliches Phänomen studieren, das „in der freien Natur“ als vielfältigster und langandauernder Prozess stattfindet: Der Kampf der Klassifikationssysteme als Teil eines Kampfes um gesellschaftliche Ressourcen. Bourdieu hat dies so formuliert5:
Darum geht es in den Auseinandersetzungen um die Definition des Sinns der Sozialwelt: um Macht über die Klassifikations- und Ordnungssysteme, die den Vorstellungen und damit der Mobilisierung und Demobilisierung der Gruppen zugrundeliegen.
Und darum geht es grundsätzlich in der Auseinandersetzung zum INSM-Artikel, nämlich darum, ob von „Reformen“ oder von „Sozialabbau“, von „Flexibilisierung“ oder von „Abbau des Kündigungsschutzes“, ob von einer „branchen- und parteiübergreifende Plattform“ oder von einer „getarnte PR-Agentur eines Arbeitgeberverbandes“ gesprochen wird. Diese Wörter sind Politik und es geht eben entweder um die „Mobilisierung von Gruppen“ für den neoliberalen Umbau des Staates oder für die Verteidigung sozialer Rechte. Und dies nicht im luftleeren Raum, sondern höchst verbunden mit den Interessen der Akteure:
„Die Klassifikations- und Ordnungssysteme bildeten keine derart hart umkämpften Streitobjekte, trügen sie nicht bei zum Bestand der Klassen, indem sie mittels der entsprechend dem Ordnungssystem strukturierten Vorstellung die Wirksamkeit der objektiven Mechanismen noch verstärkt.
Dem Arbeitgeberverband Gesamtmetall ist eben sehr daran gelegen, mithilfe eingekaufter Journalisten und Werbeagenturen die Wirksamkeit seiner politischen Ansichten zu verstärken, also unter die Leute zu bringen, und einen Meinungswechsel hin zur Befürwortung neoliberaler „Reformen“ zu bewirken.
Die Sache mit der Neutralität
„Neutralität“ ist in diesem Kampf der Klassifikationssysteme natürlich selbst ein Kampfbegriff, der „gut“ ist, weil „interesselos“ - freilich eine im realen sozialen Universum nicht existierende Position. Denn natürlich sind, so Pierre Bourdieu, „zahllose von den etablierten Wissenschaften geschaffene ethische, ästhetische, psychiatrische und juristische Klassifikationen...gesellschaftlichen Funktionen unterworfen, wobei ihre spezifische Effizienz freilich gerade auf dem Schein ihrer Neutralität beruht“. Die „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“ beherrscht diese Klaviatur perfekt, indem sie sich auf wissenschaftliche Expertisen beruft, „unabhängige“ Rankings in die Welt setzt und eben grundsätzlich und generell mit dem Deckmäntelchen der „branchen- und parteiübergreifende Plattform“ den Schein der Neutralität erzeugen will.
Dem „Mythos der Neutralität“ in der Konstruktion von Wikipedia ist der Mythos einer Welt beigestellt, in der soziale Kämpfe durch den Austausch rationaler Argumente entschieden werden. Dieser Ansatz hat ebenso wie sein Scheitern eine lange Geschichte. 1907 zum Beispiel kamen reformorientierte Sozialarbeiter und Wissenschaftler in die US-amerikanische Stahlstadt Pittsburgh, um das Leben der Stahlarbeiter und die Arbeitsbedingungen in den Fabriken und Eisenhütten - geprägt durch große Hitze, Rechtlosigkeit, tödliche Arbeitsunfälle etc. - zu untersuchen und zu dokumentieren. Das Ergebnis wurde in sechs Bänden6 festgehalten. Die dahinter stehend Idee war, dass sich angesichts unwiderlegbarer Fakten ein Konsens über die Notwendigkeit von Reformen (Reformen im ursprünglichen Sinne als Verbesserung von Arbeits- und Lebensbedingungen und nicht im heutigen oft propagierten Sinne von Sozialabbau) einstelle. Die Stahlbarone sollten also kraft rationaler Argumente dazu gebracht werden, die Arbeitsbedingungen in ihren Fabriken zu verbessern.
Das Ergebnis war freilich ernüchternd: Einige kleinere Reformen kamen auf kommunaler Ebene in Gang, die grundsätzlichen Lebens- und Arbeitsbedingungen der Arbeiter änderten sich aber nicht. Erst durch eine gewerkschaftliche Organisation verbesserten sich in den 1930er Jahren die Arbeitsbedingungen in den Stahlwerken.
Ein jüngeres Beispiel für diesen Glauben an „Neutralität“ ist die umstrittene Werbeaktion der Modefirma Bennetton aus dem Jahre 2000. Auf Plakatwänden und in Anzeigen wurden die Fotografien von Todeskandidaten in US-Gefängnissen gezeigt. In einer Presseerklärung zu dieser Kampagne hieß es, der Firma Bennetton gehe es NICHT um eine Kampagne GEGEN die Todesstrafe, sondern um eine Kampagne ÜBER die Todesstrafe. Auch hier wieder der Mythos, man stelle „neutrale“ Fakten zur Verfügung und der Betrachter solle sich sein eigenes Urteil bilden. Doch es ist wie bei der Fotografie: Auch sie bildet „objektiv“ die Welt so ab, wie sie ist. Aber was abgebildet wird und was nicht und aus welchem Blickwinkel etc., das ist längst jenseits einer „Objektivität“ und interessensbestimmt. Redlichkeit (auch in der Wissenschaft) besteht darin, diesen Standpunkt offen zulegen.
Bei Wikipedia freilich besteht das Veröffentlichungsprinzip im Gegenteil: Die Nutzer bzw. Autoren sind in der Regel anonym und schreiben unter Fantasienamen. Eine Zuordnung oder Einschätzung einer Information ist so nicht möglich, es fehlt der Kontext. Was bleibt ist das pure Wogen der Argumente, freilich wird in diesem Wellengang gerne von Betroffenen eingegriffen, wie die Manipulation von Wikipedia-Artikeln durch US-Parlamentarier zeigte (Wikipedia-Gate).
Statt dem Mythos einer „neutralen“ Wissensquelle zu folgen, sollte man sich also bewusst sein, dass Wikipedia natürlich auch ein gesellschaftliches Kampffeld um Klassifikationssysteme ist und diese Kämpfe nicht nur mit den Mitteln des „rationalen Diskurses“, sondern auch durch bezahlte Agenten, durch Manipulation und Betrug, durch Verschweigen oder Verschleierung und interessensgeleitet geführt werden können - eben wie im richtigen Leben. Ein Nutzer hat dies auch klar erkannt und sich vom Mythos der Neutralität verabschiedet:
Um einen Artikel in eine bestimmte Richtung zu drängen, braucht man nur ‚Sitzfleisch’, lies Hartnäckigkeit. Gute Argumente braucht man gar nicht. In wikipedia zählt Stärke, nicht Argument.
([Benutzer:Anorak]] 12:51, 8. Mär 2006 (CET)im Diskussionsforum des Stichwortes „Neoliberalismus“.