Der Kipppunkt: Wo stehen wir bei der globalen Energiewende?
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Und damit sind wir beim zweiten Punkt. Mit dem steigenden Wirkungsgrad von Solarmodulen und Windrädern ist der Strom billiger geworden, den sie erzeugen, und das ist natürlich auch ein gutes Signal für die voranschreitende klimaneutrale Elektrifizierung.
So heißt es im "World Energy Transitions Outlook 2023" von der International Renewable Energy Agency (Irena):
Die Kosten für Strom aus erneuerbaren Energien sinken weltweit weiter, und erneuerbare Energien sind heute in den meisten Regionen die günstigste Option zur Stromerzeugung. Im Jahr 2021 produzierten erneuerbare Quellen mit einer Stromerzeugungskapazität in Höhe von 163 Gigawatt (GW) Strom, der weniger kostete als der Strom, der aus der billigsten Quelle für neue fossile Kapazitäten entstammt. Diese 163 GW machten 73 Prozent der gesamten neuen Stromerzeugungskapazitäten bei Erneuerbaren aus, die weltweit zugebaut wurden.
Da die Kosten für erneuerbare Energien und Ökostrom in Zukunft weiter zurückgehen werden, schon allein aufgrund der technologischen Potenziale und der Masseneffekte bei steigender Produktion, ist die Trendwende nicht mehr aufzuhalten.
Sonne und Wind auf dem Vormarsch
Diese Wende hat eigentlich schon vor zehn Jahren begonnen und nimmt nun immer mehr an Fahrt auf. So war bis 2014 der Anteil von Erneuerbaren beim jährlichen Ausbau der Stromkapazitäten geringer als der aus fossilen Quellen. Seitdem hat sich das Verhältnis radikal umgekehrt. Letztes Jahr gingen 86 Prozent der Zunahme auf das Konto von Sonne, Wind und Wasserkraft.
Die globale erneuerbare Stromkapazität stieg 2023 netto um die Rekordmenge von 473 Gigawatt (GW) auf 3.870 GW. Das ist ein Sprung von rund 14 Prozent gegenüber 2022.
Exponentielles Wachstum
Das, was in den letzten Jahren zu beobachten ist, könnte der Anfang einer exponentiellen Wachstumskurve, der Beginn einer weltverändernden Explosion sein, erklärt der preisgekrönte US-Umweltjournalist Bill McKibben.
So habe Bloomberg Anfang September prognostiziert, dass die weltweite Installation neuer Solarmodule in diesem Jahr 592 Gigawatt erreichen wird – 33 Prozent mehr als im Vorjahr. McKibben weiter:
Der Punkt ist, dass, wenn man das ein paar Jahre hintereinander macht, die Gesamtzahlen sehr schnell ansteigen. Wenn etwas, das ein Prozent ihres Stroms liefert, sich auf zwei Prozent verdoppelt, bedeutet das nicht viel – aber wenn etwas, das zehn oder zwanzig Prozent liefert, um ein Drittel ansteigt, ist das schon eine ganze Menge. Und im nächsten Jahr noch mehr.
Der US-Bundesstaat Kalifornien zeige, wie das exponentielle Wachstum gemäß S-Kurve funktioniert. So berichtet der Professor für Ingenieurswissenschaften von der Stanford University, Mark Jacobson, Experte für Energiewende-Modelle, dass im fast sechsmonatigen Zeitraum vom 7. März bis zum 4. September 2024 der Einsatz von fossilem Gas im Stromnetz in Kalifornien um 29 Prozent niedriger war als im Jahr 2023.
Das bedeute, dass Erdgas zur Stromerzeugung in der fünftgrößten Volkswirtschaft der Welt innerhalb eines Jahres um fast ein Drittel zurückgegangen ist. Im Jahr 2023 lieferte fossiles Gas im gleichen Zeitabschnitt 23 Prozent mehr Strom ins Netz als Solarstrom. Im Jahr 2024 waren diese Zahlen fast genau umgekehrt.
Die stille Revolution
Eine vielleicht noch bedeutsamere, wenn auch weniger beachtete Energie-Revolution findet im Globalen Süden statt. Solarmodule sind in den letzten Monaten derart billig geworden, dass sie jetzt in vielen Entwicklungsländern in großer Zahl auftauchen.
Ohne darauf zu warten, dass die oft maroden Energieversorgungsunternehmen die Arbeit übernehmen, machen sich Unternehmen und Hausbesitzer daran, ihr Leben mit Strom zu versorgen – und zwar auf saubere Weise.
So hätten z.B. Pakistaner:innen riesige Mengen sehr billiger chinesischer Solarmodule gekauft (in der Dimension von 30 Prozent der gesamten Stromkapazität Pakistans) und sie selbst angebracht. Eine Reaktion auf die explodierenden Strompreise der Energieanbieter im Zuge der fossilen Energiekrise nach Russlands Einmarsch in die Ukraine und den westlichen Sanktionen.
Überall auf den Dächern tauchten dort nun neue Solarpaneele auf, wie Energieanalyst Dave Jones auf Google Maps zeigen kann. Die Technologieexperten Azeem Azhar und Nathan Warren betonen in einem Artikel, dass …
Pakistans dezentrales Solarsystem bis Ende dieses Jahres fast die Hälfte der Kapazität des gesamten pakistanischen Stromnetzes erreichen könnte! Das ist nicht nur Wachstum, sondern eine stille Revolution in der Energieerzeugung.
Auch in Afrika bedecken in rasantem Tempo Solaranlagen die Dächer – oft unbeachtet von Statistiken. Der Grund für den Auftrieb: Sie liefern verlässlicher Strom als die Elektrizitätswerke oder Dieselgeneratoren – und sind deutlich billiger. Afrika werde förmlich von chinesischen Paneelen geflutet, sagt Joel Nana, Analyst bei Sustainable Energy Africa in Kapstadt.
Problem: Die Energienachfrage nimmt weiter zu
Doch trotz der signifikanten Entwicklungen beim Ausbau der erneuerbaren Energien und der Elektrifizierung fossil abhängiger Sektoren überall auf der Welt konnte bisher noch keine globale Trendumkehr bei den Treibhausgasen erwirkt werden.
Der Grund dafür ist: Die Energienachfrage nimmt weiter zu, wobei die fossile Brennstoffindustrie von einem Teil der Steigerung immer noch profitiert. Für eine effektive Energiewende müssen die Erneuerbaren aber nicht nur ausgebaut werden, sondern beginnen, die Energieproduktion durch das Verbrennen von Kohle, Gas und Öl zur Energieproduktion Schritt für Schritt zu ersetzen.
Das ist bisher nicht gelungen, aber könnte bald geschehen. Die IEA erklärte im September, dass die weltweite Ölnachfrage aufgrund des steigenden Absatzes von Elektrofahrzeugen nachlässt. In China wird die Nachfrage nach Benzin in diesem oder im nächsten Jahr ihren Höhepunkt erreichen und dann stark zurückgehen. In Großbritannien, wo das Kohlezeitalter begann, wurde Ende dieses Monats das letzte Kohlekraftwerk geschlossen.
Die Energie-Organisation prognostiziert in ihrem jüngsten Bericht zudem, dass "die Nachfrage nach fossilen Brennstoffen" "bis zum Ende des Jahrzehnts ihren Höhepunkt erreichen" wird.
Der Peak und die Jahre danach
Der Peak scheint also in Sichtweite. Allerdings auch das muss gesagt werden: Das reicht nicht. Denn für die 1,5- bis Zwei-Grad-Obergrenze dürfte die fossile Verbrennung bis 2030 nicht nur nicht weiter zu-, sondern müsste stark, um rund die Hälfte abnehmen.
Es besteht also immer noch eine große Lücke zum Notwendigen, was bedeutet, dass deutlich mehr Anstrengung für eine effektive Energiewende benötigt wird, wie Irena im Outlook 2023 feststellt.
In Zahlen: Der Anteil der Erneuerbaren an der Stromerzeugung müsste bis 2030, also in sechs Jahren, von derzeit 28 Prozent auf mindestens 68 Prozent erhöht, also fast verdreifacht werden, während mit dem Zuwachs ein beträchtlicher Teil der fossilen Stromproduktion ersetzt werden muss.
Doch die Regierungen, insbesondere die für die Klimakrise hauptverantwortlichen Industriestaaten, handeln nicht entsprechend. Ihre nationalen Minderungsversprechungen würden, so Irena, im besten Fall die CO2-Emissionen um sechs Prozent bis 2030 und um 56 Prozent bis 2050 weltweit reduzieren. Das ist weit entfernt von den benötigten 50 bzw. 100 Prozent Minderungszielen.
Die 7-Billionen-Frage
Es braucht also neben der "stillen Revolution" von Sonnen- und Windenergie weiter starken Druck auf die Regierungen, ihren Kurs zu ändern. Heute werden laut Internationalem Währungsfonds (IWF) rund sieben Billionen Dollar, das sind 7.000 Milliarden Dollar, jedes Jahr für fossile Energie an direkten und indirekten staatlichen Subventionen ausgegeben – ein Rekordwert –, was die Energiemärkte und -preise verzerre, Schäden und Kosten auf die Allgemeinheit ablade und Erneuerbare massiv benachteilige.
Eine Umverteilung dieser Gelder in saubere Energien wäre ein wichtiges, faires und gemeinwohlorientiertes Mittel, der Energiewende das notwendige Tempo zu geben.
Wenn das nicht passiert, werden die Folgen von den Menschen überall auf der Welt, vor allem im Globalen Süden, und von nachfolgenden Generationen getragen werden müssen. So kommt eine neue, in Nature veröffentlichte Studie zu dem Ergebnis, dass, selbst wenn die CO2-Emissionen ab heute drastisch gesenkt würden, die Weltwirtschaft aufgrund des Klimawandels bis 2050 bereits mit einem Einkommensrückgang von 19 Prozent rechnen muss. Allein für das Jahr 2050 wären es Schäden von rund 38 Billionen US-Dollar.
Wir stehen bei der globalen Energiewende also buchstäblich an einem Kipppunkt. Die Frage ist, in welche Richtung wir kippen wollen.