Der Konflikt rund um den Brexit hat den britischen Parlamentarismus paralysiert
Gegner und Befürworter des Brexit mobil
Über 80 Prozent der britischen Bevölkerung halten das Agieren britischer Politiker in der Brexit-Frage für inkompetent. Vielleicht hatte Premierministerin Theresa May diese Zahl im Kopf, als sie am 20. März - 1000 Tage nach dem Brexit-Referendum - eine Fernsehansprache an das Volk hielt, in der sie versuchte, die Bevölkerung gegen das Parlament aufzuwiegeln. Dieses müsse endlich für ihren Deal stimmen oder die Konsequenzen von "No Deal" akzeptieren. Erstmals seit längerer Zeit stellte May auch ihren Rücktritt in den Raum.
Damit ist die britische Staatskrise einen weiteren Schritt eskaliert. Dabei wirkte es zeitweise so, als ob eine Lösung möglich sein könnte. Bei den Tories sah es für einige Tage so aus, als ob manche Gegner des EU-Austrittsvertrags ihre Meinung ändern und bei einer dritten Abstimmung doch dafür stimmen könnten, um "No Deal" zu verhindern. Man muss sich klar machen, dass die Mehrheit der derzeit im Unterhaus sitzenden Abgeordneten entweder einen "weichen" Brexit oder aber überhaupt keinen Brexit favorisiert.
Doch dann intervenierte "Mr Speaker", der Sprecher und Präsident des Unterhauses, und verbot eine dritte Abstimmung. Es entspreche nicht den parlamentarischen Konventionen, immer wieder über dieselbe Sache abzustimmen. Die Regierung müsse einen gänzlich neuen Vorschlag ausarbeiten. May reagierte darauf mit einem Schreiben an EU-Ratspräsident Donald Tusk, in welchem sie diesen um eine Verschiebung des Austrittstermins auf den 30. Juni bat. Ob die EU darauf eingeht ist derzeit ungewiss, die EU-Kommission stellt eine Verschiebung bis höchstens 23. Mai in den Raum. Nur so könne sichergestellt werden, dass Großbritannien nicht an Wahlen zum EU-Parlament teilnehmen muss.
Mehrheitlich sind die Politiker neoliberal, sie fürchten Neuwahlen
Der Konflikt rund um den Brexit hat den britischen Parlamentarismus paralysiert. Es wird offen mit Notstandsmaßnahmen gedroht. Im Fall von "No Deal" soll das Militär auf den Straßen patrouillieren. Die Bevölkerung wird zur Hortung von Lebensmitteln aufgefordert. Es wäre aber falsch zu analysieren, dass der Brexit in Großbritannien eine soziale Krise verursacht hat. Vielmehr haben Jahrzehnte neoliberaler Kahlschlagpolitik Zustände herbeigeführt, die eine Mehrheit für den Brexit erst ermöglicht haben. Das britische Gesundheits- und Sozialsystem liegt am Boden. In den Kommunen sind Einrichtungen wie Bibliotheken oder Schwimmbäder zu Mangelware geworden. Wurden im Jahr 2010 noch 40.000 Nahrungspakete von "Food Banks", also Tafeln verteilt, waren es 2018 1.3 Millionen Pakete.
Offiziell liegt die Erwerbslosigkeit so niedrig wie lange nicht. Doch der Großteil der Jobs ist prekär und schlecht bezahlt. Im öffentlichen Dienst führt die Gewerkschaft PCS derzeit eine Urabstimmung für Streiks durch. Lokale Streiks gegen Niedriglöhne und schlechte Arbeitsbedingungen sind in vielen Gegenden ein regelmäßiges Feature. Am 30. März organisiert die Gewerkschaft UNITE eine Großdemonstration gegen die drohende Schließung der Honda-Autofabrik im Londoner Stadtteil Swindon. Demonstrationen und Straßenblockaden von Fahrern für Lieferdienste wie "Uber" und "Deliveroo" gehörten ebenfalls zum Bild der vergangenen Wochen und Monate.
Als sich am 15. März zehntausende Schüler an Klima-Schulstreiks im Rahmen der Initiative "Fridays for Future" beteiligten, riefen viele von ihnen auch den Namen von Labour-Partei Jeremy Corbyn. Der war einer der wenigen britischen Politiker, welcher die Schulstreiks explizit befürwortete. In einer Botschaft an die Schüler versprach er 400.000 Klimajobs, Investitionen in erneuerbare Energien, die Verstaatlichung der Eisenbahnen, ein Verbot von Schiefergasförderung sowie kostenlose Busfahrkarten für junge Menschen im Alter unter 25.
Doch gerade solche Forderungen werden von der Mehrheit der Politiker im Unterhaus, einschließlich der meisten Labour-Abgeordneten, abgelehnt. Die hier vertretenen Abgeordneten sind in der Mehrheit neoliberale Politiker, die für Privatisierungen und Sozialabbau einstehen. Hier liegt eine andere Wurzel der derzeitigen Lähmung des Parlaments.
Normalerweise könnte man durch Neuwahlen neue Mehrheitsverhältnisse erzeugen. Doch Neuwahlen könnten eine Corbyn-geführte Regierung an die Staatsspitze spülen und kommen für viele Abgeordnete deshalb, wenn überhaupt, nur als letztes Mittel in Betracht. Deshalb kann ein Rücktritt von Premierministerin May zwar Neuwahlen zur Folge haben, dies ist aber längst kein Automatismus. Das wird unter anderem auch davon abhängen, wie groß der Druck von der Straße für Neuwahlen sein wird.
Derzeit wird zu diesem Thema jedoch nicht mobilisiert. Stattdessen machen Gegner und Befürworter des Brexit mobil. Die rechtspopulistische UKIP-Partei hat zu einem Marsch vom nordenglischen Sunderland nach London gegen den "Brexit-Verrat" aufgerufen, während Befürworter eines zweiten EU-Referendums am kommenden Wochenende eine Großdemonstration in der Hauptstadt durchführen wollen. 200 Busse sollen dafür bereits gebucht sein, die hauptsächlich von Kulturschaffenden und Geschäftsleuten bezahlt wurden.
Im Mai sind schließlich Kommunalwahlen. Dort werden, unabhängig vom Ausgang der Brexit-Krise, die Auswirkungen der Einsparungen auf der Tagesordnung stehen, die von Stadtparlamenten aller Parteien, einschließlich der Labour-Partei, in den vergangenen Jahren umgesetzt worden sind. Es wird spannend sein zu beobachten, wie sich die derzeitige politische Krise im Land hier niederschlagen wird.
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