Der Krieg Europas gegen Flüchtlinge

Seite 3: Warum steigt die EU nicht aus der UN-Flüchtlingskonvention aus?

Dabei gibt es wirklich keinen Grund für Überlastung, wenn das Angebot dem Bedarf angepasst wird, selbst wenn nach Jahren sinkender Zuzüge die Zahlen wieder ein wenig nach oben gehen. Es ist angesichts der globalen Krisen und der Pandemie auch nicht verwunderlich.

So lag die Zahl der neu nach Deutschland eingereisten Asylsuchenden im Jahr 2022 bei rund 193.000, also noch unter der seitens der Union immer wieder geforderten Begrenzung auf 200.000. Für 2023 ist allerdings eine deutlich höhere Zahl zu erwarten, aber auch dann immer noch ein Rinnsal, angesichts von 100 Millionen Schutzsuchenden weltweit.

Demgegenüber hat allein Deutschland über eine Million Ukrainer:innen aufgenommen, die, wie zuvor erwähnt, kein Asylverfahren durchlaufen müssen. Also, Merz, AfD, Bild und Co.: Bitte schön die Kirche im Dorf lassen.

Obwohl die Asylsuchenden nur einen kleinen Teil der Aufgenommenen darstellen, stehen sie im Mittelpunkt der Mediendebatte, die wieder auf Abschottung, Abschiebungen und Abwehr fokussiert, wie schon bei der letzten "Flüchtlingskrise" – die de facto eine Abschottungskrise gewesen ist, die mit noch mehr Abschottung beantwortet wurde.

CDU-Vorsitzender und Unions-Fraktionschef Friedrich Merz spricht erneut von einer "Grenze der Belastbarkeit", die erreicht sei – als ob das eine feststehende, in Stein gemeißelte, von Politik unbeeinflussbare Größe sei, die er – Frage – wie ermittelt? Er fordert mehr Schutz der EU-Außengrenzen und Asylzentren an den Grenzen – recycelte Forderungen der AfD, die solche Zentren, wie auch der neue Sonderbevollmächtigte der Bundesregierung für Migrationsabkommen Joachim Stamp (FDP), am besten in afrikanischen Ländern selbst errichten will.

Eine reine Schnapsidee, ein populistische Ablenkungsmanöver ohne Bodenhaftung, das den Menschen Sand über die Realität, auch die des internationalen Rechts, in die Augen streut.

Der Vorsitzende der Europäischen Volkspartei (EVP) im Europäischen Parlament, der CSU-Politiker Manfred Weber, spricht von "rasant steigendem Migrationsdruck", von Hunderttausenden "illegalen Migranten" und verlangt mehr Abwehr und Zurückweisungen.

Als ob die relativ kleine Zahl von "illegale Migranten" ohne irgendwelche Rechte, verdammt zum Leben im Untergrund, ausbeutbar von der neoliberalen Verwertungsmaschine Europas, das Problem ist. Sein Kollege, der bayrische Innenminister Joachim Herrmann, stellt derweil – ewig grüßt das Murmeltier – die Sozialleistungen von Asylbewerbern infrage.

Frage: Sollen wir das dann auch mit Ukrainer:innen tun? Lieber nicht, man endet da schnell im Club der sogenannten "Putin-Versteher".

Medien außer Kontrolle: Wie Deutsche gegen Flüchtlinge mobilisiert werden. Interview mit David Goeßmann über die "Flüchtlingskrise" 2015/2016.

Wenn sich EU und entscheidende Teile der politischen Klasse, einschließlich der Meinungsmacher:innen, gegen das Recht auf Schutzsuche von nicht gewollten Fliehenden – also exklusive der politisch wertvollen Ukrainer:innen – positionieren, damit Stimmung machen und punkten wollen, warum steigt die EU dann nicht einfach ganz aus der Flüchtlingskonvention aus? Warum wird das nicht gefordert?

So haben eine Reihe von Staaten wie Indien die UN-Konvention nicht unterzeichnet, die Türkei im Prinzip auch nicht. Warum tut sich die EU dieses ganze Abschottungsgehampel seit Jahrzehnten an, für das im Übrigen viel Geld und viele Ressourcen sinnlos verschleudert werden?

Die schmutzige Wahrheit hinter dem humanitären und liberalen Selbstverständnis der europäischen und deutschen Eliten, die ihr Bekenntnis zu Menschen- und Flüchtlingsrechte wie eine rote Krawatte vor sich hertragen, ist, dass sie nicht humanitär, sondern strategisch-nationalegoistisch denken und handeln. James C. Hathaway, einer der führenden Flüchtlingsrechtsexperten und Autor des Standardwerks "The Rights of Refugees", hat es einmal so auf den Punkt gebracht:

Wenn sich der globale Norden vollständig aus dem Flüchtlingsrecht zurückziehen würde, gäbe es keine politisch tragfähige Grundlage, auf der man darauf bestehen könnte, dass ärmere Länder weiterhin ihre flüchtlingsrechtlichen Verpflichtungen im Rahmen des derzeitigen Systems der atomisierten Verantwortung und der schwankenden Wohltätigkeit der wohlhabenderen Welt übernehmen. Und wenn die Entwicklungsländer diesem Beispiel folgen und das Flüchtlingsrecht im Kontext der anhaltenden Instabilität in weiten Teilen des globalen Südens aufgeben würden – was oft zu massiven Flüchtlingsströmen führt –, könnten die negativen Auswirkungen sowohl auf die globale Sicherheit als auch auf den wirtschaftlichen Wohlstand immens sein. Da es weniger Möglichkeiten gibt, in der Nähe der Heimat Schutz zu finden, würde es für die Flüchtlinge sicherlich mehr Sinn machen, in der Ferne Schutz zu suchen – ein Szenario, das die wohlhabenderen Länder nicht einmal in Erwägung ziehen wollen.

Wie schon angedeutet: Es gibt rationale, für alle Beteiligten, vor allem für die Flüchtlinge, die Frontstaaten, aber auch die reichen Industriestaaten und ihre Bevölkerungen, vorteilhafte und nachhaltige Lösungen und Reformvorschläge – jenseits des ständigen ad-hoc-Krisenmanagements.

Sie liegen seit Jahrzehnten auf dem Tisch (siehe oben), ausgearbeitet von parlamentarischen Beratungsgremien, Menschenrechtsorganisationen und der Wissenschaft. Es gibt für sie auch eine breite Unterstützung in Europa, wenn sie fair umgesetzt werden.

Aber in der veröffentlichten Debatte kommen diese Vorschläge so gut wie nicht vor. Solange das so ist, wird die EU weiter Krieg gegen unliebsame bzw. wertlose Hilfesuchende führen – mit allen schlimmen Folgen, die das nach sich zieht. Krokodilstränen über gefolterte Flüchtlinge – in Ländern, mit denen wir Abwehr-Deals abgeschlossen haben – oder über ertrunkene Schutzsuchende ändern daran nichts.

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