Der "London Whale" taucht auf

Ein Quantum Chaos bei JP Morgan - Teil 3

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Der Bericht der "JP Morgan Chase & Co. Management Task Force Regarding 2012 CIO Losses" über die Verluste des Londoner "Chief Investment Office" (CIO) gewährt einen beunruhigenden Blick hinter die Kulissen der führenden Banken der Welt. Wie sich daran zeigt, würden auch die aktuellen Versuche der Bankenregulierung die Probleme weder erkennen noch beseitigen. Nachdem bis zuletzt anscheinend selbst die JPM-Vorstände keine Ahnung hatten, dass die nominelle Exposure der „Quants“ im Londoner Büro in beide Richtungen bereits gewaltige zehn Billionen Dollar erreichte, hatte der "Markt" dies längst erkannt und ließ die mächtigste Bank der Welt genüsslich ins offene Messer laufen.

Teil 1: Ein Quantum Chaos bei JP Morgan und Teil 2: Die Quants bekommen Probleme haben nachvollzogen, wie bei JPM quantitative Modelle zu immer größeren Verlusten geführt haben.

Am 5. März 2012 dürfte Chief Investment Officer Ina Drew, Chefin des Londoner Büros, dann von Bloomberg und dem Wall Street Journal wegen des "London Whale" kontaktiert worden sein, wovon sie Chairman Jamie Dimon und JPM Finanzchef Douglas Braunstein umgehend per Email informierte. Darin erläuterte sie, dass das Portfolio - wie mit Dimon abgesprochen - "pro-risk" und "long" gegangen sei, sie gestand aber ein, dass die Position nicht die richtige Größe habe, nicht gut gemanagt sei und Fehler gemacht wurden, was sie aber gerade dabei sei zu beheben. Die seit Jahresanfang aufgelaufenen Verluste bezifferte sie gegenüber Dimon mit 500 Millionen, die aber durch Gewinne aus anderen Positionen auf 350 Millionen reduziert und das Quartalsergebnis nicht berühren würden, das sie "mit realisierten Gewinnen aus den 8,5 Milliarden an im Wertschriftenbuch aufgebauten Vermögen ausgeglichen" werden könnten.

Finanzchef Braunstein forderte von Drew nun eine exakte Positionsaufstellung samt Quartals- Gewinnprognose, die sie am kommenden Montag vorlegen sollte und bei einem Senior-Trader in Auftrag gab. Der gab die Aufgabe an einen Junior-Trader weiter, der in einer ersten Szenario-Analyse auf eine Prognose von - je nach Szenario - 750 Millionen Verlust bis 1,925 Mio. Gewinn kam, wobei sechs der neun verwendeten Szenarios zu Verlusten führten. Das kam für den Senior-Trader aber nicht infrage, da "sich Drew erschrecken (werde), wenn von mehr als 200-300 Millionen an Verlusten die Rede" sei. Obwohl der Junior-Trader dies für wenig sinnvoll hielt, führte er nun die Gewinnprognose nach der Monte-Carlo-Methode durch, bei der aus den einzelnen Szenarien nur ein Durchschnittswert ermittelt wird, der Drew nun mit -150 Millionen bis + 250 Millionen Dollar übermittelt wurde.

Gleichzeitig rechtfertigte sich ein Trader in einer Email an Drew, Dimon und Braunstein für die Verluste: Weil Ende 2011 hohe unrealisierte Gewinne vorlagen, wollte das CIO das Synthetic Credit Portfolio neutralisieren, was leider misslungen sei, da der Markt verrückt gespielt habe. So wurden mit den High Yield-Short-Positionen 575 Millionen verloren, während die Investment-Grade-Long-Positionen, die diese Verluste ausgleichen sollten, nur 50 Millionen gebracht hätten. Als Begründung nannte er die exzessive Liquidität und eine risikofreudige Marktstimmung.

Dass gerade die schwächsten High-Yield-Tranchen gewählt wurden, hätte daran gelegen, dass in diesen alten Tranchen noch so genannte "Gefallene Engel" (ehemalige AAA - Unternehmen die jetzt schlechter bewertet werden) enthalten waren, die auch in den neueren Short-Positionen gelistet waren. Das böte, wie der Trader erläuterte, theoretisch den besten Hedge, nur habe auch das bislang leider nicht funktioniert. Er schloss damit, dass das Portfolio gut ausbalanciert sei, und wiederholte die Einschätzung von maximal 150 Millionen Dollar an möglichen Verlusten.

Ein anderer Trader sandte ein Mail, in dem er erklärte, dass es zu teuer gewesen sei, aus den Positionen heraus zu traden, und daher die zweitbeste Lösung eines gegenläufigen Positionsaufbaus gewählt wurde. Darüber hinaus betonten die Trader, dass die Märkte verzerrt seien und zur Normalität zurückkehren würden ("mean-revert"), was alle Probleme lösen werde. Im Übrigen könne niemand JPM zu Verkäufen zwingen, so dass das CIO gelassen abwarten könne, bis sich die Lage normalisiert habe und insbesondere die absehbare mediale Aufregung abgeklungen wäre. Damit gab sich das Management von Drew bis Diamond zufrieden, das angesichts der 2.300 Milliarden Dollar schweren JPM-Bilanz die genannten Risiken wohl noch immer eher für Peanuts hielt.

Vom Sturm im Wasserglas zu einem ausgewachsenen Sturm

Am Wochenende erschienen dann erste Artikel und hatten am Montag den befürchteten Einfluss auf die Märkte. Schon um sieben Uhr früh sprach ein Trader von 700 Millionen Dollar Tagesverlust, woraufhin ein Senior-Trader wütend wurde und eine Prognose von 5 Millionen zirkulieren ließ. Noch am Vormittag beruhigte sich aber der Markt und am Abend informierte Drew Dimond über einen Tagesverlust von 412 Millionen Dollar, was sie als Acht-Standardabweichungen-Ereignis bezeichnete, das auf der Markterwartung beruhe, dass JPM die im Artikel genannten Positionen liquidieren müsse.

In einer weiteren Email an Dimon, Braunstein und andere übermittelte Drew nun die adaptierte Prognose der Trader, die eine 80%-Chance für ein Ergebnis von - 250 bis + 350 sowie je eine 10% -Chance auf einen Verlust von - 650 Mio. oder + 1,725 Milliarden Dollar Gewinn enthielt. Gleichzeitig zirkulierten jedoch auch andere Verlustschätzungen, deren höchste bei Minus einer Milliarde Dollar lag. So war inzwischen auch das Topmanagement besorgt, beispielsweise fragte Finanzchef Braunstein bei Drew wegen eines Folgeartikels nach, wonach das CIO die Marktpreise zuerst durch den massiven Verkauf an Schutz nach unten gedrückt hätte und die Preise erst wieder angestiegen wären, als die Käufe plötzlich beendet wurden. Demnach würden die Verluste des CIO also aus einer Rückkehr der Preise zur Normalität resultierten und nicht umgekehrt. Zur Antwort erhielt er eine Analyse, wonach deren Aktivitäten keinen großen Einfluss auf die Preise gehabt hätten.

Am Abend vor dem peinlichen Earnings-Call traf das JPM-Executive Committee noch zu einer routinemäßigen Sitzung zusammen, in der Drew neuerlich den "substantiellen Wert" des "gut ausbalancierten" Synthetic Credit Portfolio betonte. Die Medien hätten die Märkte gegen CIO aufgehetzt, was sich wieder beruhigen werde, da es sich um eine aufgeputschte Sache handle. Gegenüber Dimon bestätigte sie bei dieser Gelegenheit nochmals, dass alle Positionen gehalten werden könnten, bis die Märkte wieder zu "normalen Niveaus" zurückkehren würden.

We've been a bit complacent about what’s going on in the CIO.

Jamie Dimon

Während Dimon tags darauf also von einem "Sturm im Wasserglas" sprechen sollte, entwickelte der sich tatsächlich jedoch zum "ausgewachsenen Storm". So nahmen die Verluste von Woche zu Woche zu und von der erhofften "Normalisierung" war nichts zu bemerken. Folglich wurden nun aus allen Ecken der Großbank Experten mit entsprechenden Analysen und Eingriffen befasst, die zu immer bedrohlicheren Ergebnissen führten.

So erhielt Braunstein am Abend des 6. April ein Mail des Head of Model Risk C.S. Venkatakrishnan, der entdeckt hatte, dass die nominelle Exposure der CIO in beide Richtungen bei gewaltigen zehn Billionen Dollar lag und ein Volumen von 6,5 Billionen dieser Positionen auf nur vier Trades beruhte. Das war im gesamten Bericht übrigens die einzige Angabe zur Nominale der brutto ausstehenden Positionen des CIO. Bedenkt man, dass die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich die Nominale der insgesamt ausstehenden CDS per Ende Juni 2012 mit nur 27 Billionen Dollar beziffert hat, waren die insgesamt mehr als 20 Billionen an Nominale, die ungefähr dem BIP der Eurozone plus China entsprechen, doch zu hoch, und alle waren dann ziemlich erleichtert, als Venkatakrishnan später bemerkte, er habe "übersehen", dass ein großer Teil davon "interne Geschäfte sind, die sich gegenseitig aufheben". Die tatsächlichen Nominalen wären zwar "noch immer sehr hoch", aber "wesentlich niedriger, als er angenommen hatte".

Während die CSI-Trader offenbar nur noch ungläubig zusehen konnten, wie sich ihre Positionen immer weiter in die Verlustzone bewegten, wurde Ende April letztendlich ein Team nach London geschickt, dass das Portfolio Position für Position analysierte und am 29. April die Leitung des Poortfolios übernahm. Am 10. Mai wurden in einem Filing an die Behörden bereits Verluste von zwei Milliarden eingestanden, gleichzeitig trat Dimon zur Beichte an und Drew zurück.

Die Trader hatten mit ihren Modellen auch für sie selbst eine Black Box aufgebaut

Was bei dem Bericht auffällt ist, dass es sich hier jedenfalls nicht allein um die Verfehlungen des "London Whale" Bruno Iksil, handelte. Offenbar war die ganze Trading-Abteilung beteiligt, die anscheinend selbst zu sehr auf die eigenen Modelle vertraut hatte. Da das Portfolio zudem enorme Dimensionen angenommen hatte, führten offenbar auch kleine Abweichungen zu großen Problemen, wobei es aufgrund der Größe der Positionen anscheinend auch nicht möglich war, sich aus diesen heraus zu traden. Als dann der gesamte Markt über die JPM-Positionen informiert war, ging es anscheinend extrem schnell bergab, wobei aus dem Bericht nicht hervorgeht, ob dadurch dann alte und bisher unentdeckte oder versteckte Verluste realisiert wurden oder ob sie tatsächlich gerade erst angefallen waren.

Während die Modelle der Trader den Marktturbulenzen also eindeutig nicht gewachsen waren, ist es ein altbekanntes Phänomen, dass gerade die besten Techniker oft dazu neigen, Unmögliches zu versprechen, wobei Drew die ihr im quantitativen Sachbereich fehlende unabhängige eigene Expertise sich wohl besser irgendwo zugekauft haben und Dimond ihr nicht blind hätte vertrauen sollen. Jedenfalls hätte sie es nicht hinnehmen dürfen, dass sich in ihrem Bereich eine Black Box aufbaut, die am Ende auch von den eigenen Tradern nicht mehr verstanden wurde.

Klar ist jedenfalls, dass die aktuellen Banken-Regulierungsversuche nichts geändert hätten. So hätte eine Trennung von Kreditgeschäft und Investmentbank nichts geholfen, da offiziell ja nur Kreditrisiken abgesichert wurden. Angesichts des gewaltigen Exposure ist zudem denkbar, dass die Verluste im Extremfall noch viel höher hätten ausfallen können, und dann hätten auch die paar Prozentpunkte an zusätzlich vorgeschriebenem Eigenkapital keinen Unterschied gemacht, wobei eine effektive Pleite ohne jeden Zweifel das gesamte Finanzsystem in den Abgrund gerissen hätte und daher jedenfalls von Regierung und Notenbank verhindert worden wäre.

Gilt JP Morgan nun aber zu recht als weltbeste Großbank, dann steht zu befürchten, dass sich derartige Konstruktionen in unterschiedlichten Varianten und vielleicht noch mehr Katastrophenpotential auch bei den anderen Großbanken finden, was also eine Aufsicht erfordern würde, die sich nicht - wie lange auch das JPM-Management - mit Salden und Kennzahlen zufrieden gibt, sondern sich konkret informiert, welche Geschäfte in welchem Volumen gemacht werden. Und dann müsste sie auch noch die Kompetenz und die Macht haben, Probleme zu erkennen und einzuschreiten.

Tatsächlich war die Aufsicht im CIO nicht existent, was aber auch daran liegt, dass das CIO kein Kundengeschäft betreibt. Ob sie zudem die Probleme rechtzeitig erkannt hätte, die weder Trader noch Management bemerkt hatten, darf nun bezweifelt werden. Klar ist jedenfalls, dass die Derivativgeschäfte der Banken nach wie vor ein enormes Krisenpotential bieten, das vor den Behörden und anscheinend gerne auch vor dem Bankmanagement verborgen wird.