Der Lübcke-Prozess in Frankfurt

Warum dieser Prozess mehr verdecken muss, als er aufklären wird

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In der Nacht vom 1. auf den 2. Juni 2019, wurde der Kasseler Regierungspräsident und CDU-Politiker Walter Lübcke auf der Terrasse seiner Villa in Kassel erschossen. Der Neonazi Stephan Ernst hatte im Zuge seiner Festnahme ein Geständnis abgelegt, dieses dann widerrufen und dafür seinen "Kameraden" Markus H. belastet:

Ernst muss sich wegen Mordes an Lübcke sowie auch wegen versuchten Mordes an einem Asylbewerber vor Gericht verantworten. Die Ermittler gehen von rassistisch motivierten Taten aus. Seinem mutmaßlichen Komplizen Markus H. wird im Fall Lübcke Beihilfe zum Mord zur Last gelegt.

spiegel.de vom 2. Juni 2020

Der Prozess gegen die beiden Neonazis wird am 16. Juni 2020 vor dem Oberlandesgericht/OLG in Frankfurt eröffnet.

Der Mord an einem deutschen Regierungspräsidenten ist kein "Döner-Mord"

Viele werden wahrscheinlich sagen, dass man diesen Prozess nicht mit dem NSU-Prozess in München vergleichen kann. Denn in diesem anstehenden Gerichtsprozess gehe es um einen Regierungspräsidenten, um ein hochrangiges CDU-Mitglied, um einen Weißen, um jemand aus der politischen Klasse. In einem solchen Fall werde die Strafverfolgung auf Hochtouren laufen und alles unternehmen, um die Mörder und ggf. ihre Unterstützer zu finden.

Im Großen und Ganzen stimmt das, wenn nicht ganz gewichtige Details dagegen sprechen würden. Ich möchte zentrale Umstände ausführen, die mit aller größten Wahrscheinlichkeit dazu führen werden, dass die "Wahrheitsfindung" mehrere große schwarze Flecken aufweisen wird.

Die Einzeltäter-These deckt neonazistische Strukturen - mithilfe des Verfassungsschutzes

Der im Prozess angeklagte mutmaßliche Mörder Stephan Ernst sei, so Stephan J. Kramer, Präsident des Amts für Verfassungsschutz in Thüringen, dem Inlandsheimdienst ab dem Jahr 2009 "vom Schirm gerutscht". Seitdem habe dieser best ausgestattete Geheimdienst keinen blassen Schimmer.

Vorher kannte derselbe Verfassungsschutz (VS) den Neonazi Stephan Ernst als Kader, als "gewaltbereiten" Neonazi, gut und fest in der Kasseler Neonaziszene verankert. Er war "polizeibekannt", hatte eine "schwere Straftat" begangen und hat ein "langes Vorstrafenregister". Eine Größe in der Neonaziszene in Kassel und beim Geheimdienst, der dort unter anderem mehrere V-Leute "geführt" hatte. Nach dem ominösen Jahr 2009 habe sich Stephan Ernst ins Private zurückgezogen und sei politisch nicht mehr in Erscheinung getreten.

Wie in allen anderen Fälle auch dauerte es lange, bis diese haarsträubende Erkenntnislage des Verfassungsschutzes Risse bekam. So erfuhr man zum Beispiel, dass Stephan Ernst bereits bei dem Mord an dem Internetcafébesitzer Halit Yozgat in Kassel 2006 eine Rolle gespielt hatte.

Dann durchbrach die Nachricht das geheimdienstliche Verschweigen, dass auch der V-Mann-Führer Andreas Temme mehrmals mit Stephan Ernst "befasst" war. Jener V-Mann-Führer war nicht nur beim Mord an Halit Yozgat 2006 in Kassel anwesend. Er "führte" auch einen Neonazi als V-Mann (Deckname Gemüse), der beste Kontakte zur Kasseler Neonazis-Szene hatte und zum NSU-Netzwerk zählt(e). Ein weiteres Foto zerstört die VS-Legende vom zurückgezogenen Familienvater:

Am 1. September 2018 nahmen die Kasseler Neonazis Stephan Ernst und Markus Hartmann an einer AfD-Demonstration in Chemnitz teil.

Exif vom 26. September 2019

In keinem dieser Fälle trug der Verfassungsschutz auch nur das Geringste zur Aufklärung bei.

Im Juni 2019 kratzten Bilder von einem konspirativen Treffen im sächsischen Mücka gewaltig am VS-getunten Bild vom Familienvater Stephan Ernst. Im März 2019 trafen sich in Mücka Neonazis, die mit dem "Rassenkrieg" und dem "führerlosen Widerstand" sehr viel anfangen können. Mitglieder von "Combat 18", "Blood & Honour", "Brigade 8" bis "Oidoxie" waren dort anwesend. Ein sehr exklusiver Kreis, dem nur angehört, wer sich als "Kamerad" so richtig verdient gemacht hat. Auf einem Foto ist Stephan Ernst zu erkennen. Das bestätigte auch ein zu Rate gezogener Gutachter gegenüber dem Politmagazin Monitor.

Wieder schweigt der Verfassungsschutz zu diesen Umständen. Mehr noch: Anstatt seinen Erkenntnisstand zu diesem Combat 18 Treffen öffentlich zu machen, überlässt man Neonazis die nun fällige "Entlastungsarbeit": Neonazis, die auf diesem konspirativen Treffen anwesend waren, wollen bezeugen, dass es sich bei der abgebildeten Person nicht um Stephan Ernst handele.

Man könnte auch sagen, dass Neonazis dem Verfassungsschutz aus der Patsche geholfen haben, indem sie die Familienvater-These zu retten versuchten. Aber diese Neonazis legten sich noch mehr für den Verfassungsschutz ins Zeug - was schon eine besondere Art der Paarung ist.

Mit dieser wie gemalt gemachten Entlastung treten Neonazis zudem ein anderes Feuer aus, das sich andernfalls sehr schnell ausbreiten könnte. Wenn sich Stephan Ernst gar nicht zurückgezogen hat, vielmehr beste Kontakte zu Combat 18 pflegte, steht die "Re-Radikalisierungstheorie" vollständig unter Wasser. Diese Bio-Frisur sieht nach dem Willen des Verfassungsschutzes so aus:

Stephan Ernst war ganz lange ein böser Nazi. Dann wurde er Familienvater. Erst im Jahr 2015 habe er sein neonazistisches Herz wiederentdeckt, als er Walter Lübcke bei einer Veranstaltung in Kassel zuhörte. Dort erklärte der CDU-Regierungspräsident, warum man Flüchtlinge aufnehme und warum dies mit christlichen Werten vereinbar sei. Da wurde der Familienvater Ernst ganz spontan wieder Neonazi. Als er zuhause war, war er abermals ein unauffälliger Familienvater. Das war und blieb er die folgenden Jahre. Vier Jahre später, um genau zu sein, in der Nacht zum 2. Juni 2019 erinnerte er sich an diese Veranstaltung mit besagtem Regierungspräsidenten. Es kam zu einer extrem spontanen Radikalisierung. Spontan fand er eine Waffe, in einem Depot, das er für solch besondere Anlässe angelegt hatte, fuhr los, wusste genau, wo der Regierungspräsident wohnt. So gegen 0.30 Uhr erschoss er Walter Lübcke auf seiner Terrasse.

Dass Neonazis einem anderen Neonazi ein Alibi geben, sollte zumindest durch eigene polizeiliche Ermittlungen überprüft werden. Davon ist nichts bekannt. Aber und gerade der Verfassungsschutz könnte in dieser Angelegenheit zur Ab- und Aufklärung beitragen. Die sieht bis heute so aus:

Aus sächsischen Sicherheitskreisen heißt es, der Staatsschutz und der Verfassungsschutz gingen davon aus, dass das Foto Karsten H. zeige, nicht Stephan E. Offiziell wollte sich von den Ermittlern niemand äußern.

spiegel.de vom 24.6.2019

Neonazis aus der Combat 18-Zusammenhängen entlasten Stephan Ernst und die "Sicherheitskreise" machen nebulöse, "inoffizielle" Äußerungen. Man kann dieses Zusammenspiel auch als Networking bezeichnen.

Derweil wäre es sehr einfach, den Vorwürfen nachzugehen: Man muss nur den LfV Hessen dazu zwingen, alle Unterlagen und Erkenntnisse rund um Stephan Ernst zur Verfügung zu stellen. Man muss die zuständigen Landesämter für Verfassungsschutz dazu zwingen, dass V-Leute, die im Combat 18-Netzwerk aktiv sind, Aussagen machen über das Treffen in Mücka, über ihr Wissen bezüglich des Kameraden Stephan Ernst.

Nichts wurde unternommen. Damit wiederholt der jetzige Innenminister Beuth das, was der hessische Innenminister Bouffier 2006ff (vor-)gemacht hat: Er hat die polizeilichen Ermittlungen sabotiert, er hat die Vernehmung des Neonazis und V-Manns Benjamin Gärtner verhindert und dabei einen Grund genannt, der möglicherweise einen wunden Punkt berührt: Das "Wohl des Staates" stünde auf dem Spiel, wenn das Wissen von V-Leuten und V-Mann-Führern preisgegeben werden würde.

Manchmal decken scheinbare Zusammenhangslosigkeiten mehr auf als polizeiliche Ermittlungen

Offiziell ist und bleibt Stephan Ernst ein Neonazi, der sich seit Langem zurückgezogen habe, der alleine (mit Beihilfe) einen Regierungspräsidenten ermordet hat. Einen ideologischen und/organisatorischen Zusammenhang zu Combat 18 gäbe es also nicht.

Wenn dem so wäre, warum wurde dann Combat 18 im Januar 2020 verboten? Dafür gibt kein Ereignis, keinen Umstand, der diese plötzliche Kehrtwende erklären könnte.

Es sei erwähnt, dass es Combat 18 seit Jahrzehnten gibt. Combat 18 hat sich immer als bewaffneter Arm von "Blood & Honour" verstanden, eine neonazistische Gruppierung, die 2000 verboten wurde. Schon damals konnte man nur fassungslos den Irrsinn zur Kenntnis nehmen, dass eine offen agierende neonazistische Gruppierung verboten wird, ihr konspirativer/bewaffneter Arm hingegen in aller Seelenruhe weitermachen konnte.

Es ist also kein großes Wagnis, wenn man zu dem Schluss kommt, dass das Verbot von Combat 18 Anfang 2020 nichts damit zu tun hatte, was man seit Jahrzehnten wusste und weiß, sondern vielmehr dem Umstand geschuldet ist, dass Stephan Ernst im Combat 18 Umfeld zuhause war und ist.

Oder anders gesagt: Wenn man jahrzehntelang einen bewaffneten Arm neonazistischer Organisationen unbehelligt lässt, dank nachrichtendienstlicher Erkenntnisse alles weiß, vom Konzept des "führerlosen Widerstandes" bis hin zu Propagierung von Morden an "Vaterlandslosen", dann stellt sich doch die Frage, inwieweit der Verfassungsschutz an dem Mord Lübcke tatbegünstigend beteiligt war?

Das scheinbar anlasslose Verbot von Combat 18 kann man wie ein Teilgeständnis lesen.

Die Aufklärung des Mordes an dem hessischen Regierungspräsidenten würde "ungebremst" den Mordfall in Kassel 2006 neu aufrollen und ggf. die Urteils"findung" in München 2018 zu diesem Komplex maßgeblich erschüttern

Als 2006 in Kassel der Internetcafébesitzer Halit Yozgat in Anwesenheit von mehreren Besuchern mit zwei Schüssen in den Kopf ermordet wurde, waren sich Polizei, Staatsanwaltschaft und Medien schnell einig: Es handele sich hierbei um einen weiteren "Döner-Mord", also um eine Straftat unter Ausländern. Damit war klar, dass man alles unterließ, um einem neonazistischen, rassistischen Motiv nachzugehen. Das hatte zur Folge, dass man alles aufbot, um einen Killer unter kriminellen Ausländern ausfindig zu machen und alles dafür tat, um neonazistische Strukturen rund um Kassel unbehelligt zu lassen. Die so geführten Ermittlungen verliefen konsequent im Sande.

Die vorsätzliche Nichtaufklärung wiederholte sich 2011, als sich der NSU selbst bekannt gemacht hatte. Nun deckte man abermals die neonazistischen Strukturen in und um Kassel, indem man den Mord an Halit Yozgat ausschließlich zwei Mitgliedern des NSU zuschrieb, die ganz alleine gehandelt haben sollen, ohne Unterstützung der Neonaziszene vor Ort, ohne Rückgriff auf das "Netzwerk von Kameraden", also genau so, wie sich der NSU verstand.

Auch bei diesem weitgehend faktenfreien "Ermittlungsergebnis" konnten und mussten Neonazis aus Kassel nur stören. Mehr noch: Sie würden den NSU als Trio-Version, in der bei allen zehn Morden nur die beiden Männer die Taten geplant und ausgeführt haben, den Boden unter den Füssen wegziehen.

Es gäbe eine einfache Methode, um diesen Verdacht auszuräumen: Man muss nur den internen Untersuchungsbericht des Landesamtes für Verfassungsschutzes (LfV) in Hessen zum Mordfall Yozgat freigeben, den man bis zum Jahr 2134 geheim halten wollte. Ganz offensichtlich wollte man sichergehen, dass niemand mehr lebt, nicht einmal die Erinnerung.

Auch die Rolle von Stephan Ernst mit Blick auf das NSU-Netzwerk ließe sich ebenfalls besser fassen, wenn man die fortgesetzte Verschleierung von Fakten und Erkenntnissen nicht weiterführen würde: So kann zum Beispiel der Landtagsabgeordnete Hermann Schaus (Die Linke) erinnern, dass man auf "ein geheim eingestuftes Dokument mit relevanten Informationen" (jW vom 20.6.2019) gestoßen sei, als dem hessischen NSU-Untersuchungsausschuss im Jahr 2015 Akten vorgelegt wurden, die den Neonazi Stephan Ernst betrafen.

Und noch etwas würde die Mordumstände im Fall Yozgat und im Fall Lübcke gewaltig aufhellen: Als man im Mordfall Yozgat 2006 ermittelte, war für die Polizei der im Internetcafé anwesende Geheimdienstmann Andreas Temme lange tatverdächtig. Man hörte wochenlang all seine benutzten Telefonanschlüsse ab und protokollierte alle Gespräche und GesprächspartnerInnen in dieser Zeit. Wenn man wirklich wissen wollte, mit wem Andreas Temme alles Kontakt hatte, mit wem er in Verbindung stand, wer seine Lügen und Falschaussagen deckte, der kann Klarheit verschaffen und für die Zugänglichkeit dieser Protokolle sorgen. Man wird auf Zusammenhänge, auf Gesinnungen, auf institutionelle "Verstrickungen" stoßen, die ganz sicher mehr über den Mordfall Yozgat sagen können, als wir bis heute wissen … und die bis in den Mordfall Lübcke hineinwirken.

Mit diesen wenigen Beispielen wird deutlich, welche Dimension eine "Wahrheitsfindung" annehmen könnte, die tatsächlich in alle Richtungen, im besten Sinne rücksichtslos erfolgen würde. Die Gefahr, dass damit der Fall Yozgat neu aufgerollt werden müsste, dass sich die zentrale These vom "Trio" im NSU-Prozess in München als unhaltbar erweisen würde, ist groß.

Und diese Gefahr wiegt schwerer, als jede Wahrheitssuche.

Staatsgeheimnisse wiegen schwerer als Menschenleben

Man kann berechtigterweise fragen, ob das auch im Fall Lübcke so sein wird. Ich möchte auf ein Ereignis zurückgreifen, das im NSU-Komplex schnell untergeht. Der Mordanschlag auf die beiden Polizisten in Heilbronn 2007, bei dem Michèle Kiesewetter ermordet, ihr Kollege schwer verletzt wurde.

Normalerweise wird bei einem Polizistenmord alles aufgefahren, was man so hat, das "komplette Besteck", wie Fahnder gerne ihre umfangreichen Möglichkeiten bezeichnen, um einen Fall aufzuklären. Aber genau das wurde nachweislich nicht gemacht. Nirgendwo hatte man an einem NSU-Tatort so viele ZeugInnen und so viele von ihnen angefertigten Phantombilder, die die mutmaßlichen Täter zeigen sollten. Ein Traum. Und was ist damit passiert: gar nichts. Die Staatsanwaltschaft hatte es untersagt, damit zu fahnden.

Ein besonderer Umgang, der unter Polizeibeamten großen Unmut ausgelöst und den Verdacht bestärkt hat, dass mit der Nichtaufklärung "Staatsgeheimnisse" geschützt werden sollen, deren Schutz der damalige Vize-Chef des Verfassungsschutzes Klaus-Dieter Fritsche zur obersten Priorität erklärt hatte:

Es dürfen keine Staatsgeheimnisse bekannt werden, die ein Regierungshandeln unterminieren. Es darf auch nicht so weit kommen, dass jeder Verfassungsfeind und Straftäter am Ende genau weiß, wie Sicherheitsbehörden operativ arbeiten und welche V-Leute und verdeckten Ermittler im Auftrag des Staates eingesetzt sind. Es gilt der Grundsatz "Kenntnis nur wenn nötig". Das gilt sogar innerhalb der Exekutive. Wenn die Bundesregierung oder eine Landesregierung daher in den von mir genannten Fallkonstellationen entscheidet, dass eine Unterlage nicht oder nur geschwärzt diesem Ausschuss vorgelegt werden kann, dann ist das kein Mangel an Kooperation, sondern entspricht den Vorgaben unserer Verfassung. Das muss in unser aller Interesse sein.

Klaus-Dieter Fritsche als Zeuge vor dem NSU-Untersuchungsausschuss in Berlin am 18. Oktober 2012

Kann ein Verfassungsschutz siebzig Jahre lang "versagen"?

Das Bündnis "NSU-Komplex-auflösen" schreibt in seiner Stellungnahme vom 2. Juni 2020 zum anstehenden Prozess in Frankfurt:

Viele Fragen sind ein Jahr nach dem Mord an Walter Lübcke weiterhin offen. So die Frage nach den hinter den mutmaßlichen Tätern liegenden Netzwerken. Es ist bekannt, dass Stephan E. und Markus H. Teil der hoch militanten Neonazi-Szene in Kassel waren, die auch mit dem Netzwerk "Combat 18" verbunden war, welches mit ihren Strukturen schon den NSU unterstützte. Hinweise deuten darauf hin, dass es weitere Personen mit Täterwissen gibt, die bisher nicht ermittelt werden konnten. Ebenso stellt sich die Frage, ob der mutmaßlich Mittäter Markus H. mit dem Verfassungsschutz kooperierte. Wie auch im NSU-Komplex zeigt sich hier erneut, dass der Verfassungsschutz als "Frühwarnsystem" auf ganzer Linie versagt. Es muss mit der ewigen Einzeltätertheorie gebrochen werden und die rechtsterroristischen Netzwerke und möglichen Verbindungen zu etwaigen weiteren Zellen des NSU müssen offengelegt werden.

NSU-Komplex-auflösen

Diese Stellungnahme beinhaltet einige wichtige Einzelpunkte, aber eben auch ein Dilemma. Seit Jahrzehnten verwenden und wiederholen auch antirassistische und linke Gruppierungen den Topos von einem Verfassungsschutz, der "auf dem rechten Auge blind" sei, der angesichts seines "antifaschistischen" Auftrages versagt habe.

In einem solchen Fall müsse man dem Verfassungsschutz nur die Augen öffnen, die "Pannen" beseitigen und hat dann einen guten Verfassungsschutz. In diesem Sinne gibt es auch einige aus diesem Spektrum, die mit dem Verfassungsschutz zusammen Strategien gegen Neonazismus diskutieren wollen.

Wer die Geschichte des Verfassungsschutzes seit seiner Gründung 1950 verfolgt, der wird eines Besseren belehrt. Seit seinem Bestehen ist der Verfassungsschutz nicht auf dem "rechten Auge" blind, sondern mitten in diesen neonazistischen Strukturen, nicht selten in führenden Positionen.

Der Verfassungsschutz weiß in vielen Bereichen deutlich mehr, als man von "außen" recherchieren kann. Wenn es zum Beispiel einer antifaschistischen Recherche gelingt, ein Combat 18-Treffen zu fotografieren, dann ist das sicherlich ein ganz wichtiger Gewinn. Aber mindestens genauso entscheidend wäre das Wissen, das der VS in Form von Überwachung und eingeschleusten V-Leuten hat.

Anstatt dieses Wissen zur Aufklärung von Mordplänen und Mordtaten zugänglich zu machen, warnt man in aller Regel als V-Leute geführte Combat-18 Mitglieder, so dass dann eine Razzia oder auch eine Verbotsverfügung faktisch ins Leere läuft. Wenn er also dieses Wissen nicht dazu nutzt, den Kampf gegen Neonazismus, dann ist das keine Panne, sondern ein strategisches Kalkül.

Zwei Beispiele von vielen machen dies hoffentlich deutlich:

Das NPD-Verbotsverfahren ist doch nicht daran gescheitert, dass man über die NPD, über ihre Verbindung zu terroristischen Strukturen, zu wenig gewusst hätte. Im Gegenteil: In der NPD waren so viele V-Leute, Spitzel des Verfassungsschutzes aktiv, dass das Gericht nicht mehr wusste, was ist davon NPD, was ist davon Verfassungsschutz. Das Verbotsverfahren gegen die NPD musste folglich abgebrochen werden.

In der neonazistischen Gruppierung "Thüringer Heimatschutz" (THS), der dem NSU genauso nahestand wie Combat 18, waren Dutzende von V-Leuten aktiv. Alleine vier V-Leute standen auf einer konspirativen Liste des NSU, die 1998 in einer Garage in Jena gefunden wurde. Eine Liste, in der im Fall der Fälle die vertrauensvollsten "Kameraden" aufgeführt waren. Was ist mit dieser Liste, mit dem Wissen des Verfassungsschutzes passiert? Nichts. Man hat diese Golden Card des NSU in einer Asservatenkammer verschwinden lassen, mit der Begründung, sie enthalte nichts Verwertbares.

Zumindest verbal, vielleicht auch erkenntnistheoretisch sind da die Jugendorganisationen von SPD, Grünen und Linken ein Stück weiter. Angesichts der notorischen Jagd auf alles was links ist (was in diesem Fall auch die Klimaproteste "Ende Gelände" miteinschließt), fordern sie nicht die Nachschulung, sondern die Auflösung des Inlandsgeheimdienstes:

Die Jugendverbände von SPD, Grünen und Linken glauben nicht daran, dass der Verfassungsschutz seine Sache gut macht. In einem gemeinsamen Schreiben erheben sie schwere Vorwürfe gegen die Behörde. "Der Verfassungsschutz verwechselt wieder einmal Antikapitalismus mit Demokratiefeindlichkeit", erklären Jusos, Grüne Jugend und die linke Organisation Solid. "Dieser Gleichsetzung erteilen wir eine klare Absage." Der Verfassungsschutz sei nicht in der Lage, die notwendige Arbeit im Kampf gegen rechte Terrorzellen aufzunehmen. "Er muss abgeschafft werden."

spiegel.de vom 22.5.2020

Siehe auch von Wolf Wetzel:

Der NSU-VS-Komplex: Wo beginnt der Nationalsozialistische Untergrund/NSU - wo hört der Staat auf? Unrast Verlag 2015

Mordfall Lübcke - Einzeltäter gesucht … und gefunden

Markus Mohr: Den Verfassungsschutz boykottieren

Am Ende der NSU-Trio-Version