Der Mehrwert ist überhaupt kein Rätsel

Seite 4: c) Theorien über den (Mehr-)wert

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In einer zu naiven Arbeitswertlehre, stellt sich natürlich und zurecht die Frage, warum gewöhnlich teure Waren (z.B. Gold) selbst dann für hohe Geldbeträge verkauft werden können, wenn kein Arbeitsaufwand in ihre Produktion verausgabt ist, z.B. weil das Produkt zufällig irgendwo ("am Wegesrand") gefunden ("vom Laster gefallen") oder es einem geschenkt wurde. Oder umgekehrt formuliert: Warum wird ein Produkt nicht dadurch automatisch teurer, indem man bewusst mehr sinnlose Arbeit in seine Fertigung investiert?

Der Aufwand für unter Wasser mundgeschnitzte Schachfiguren ist sehr viel größer als für normale Schachfiguren. Der Nutzen, nämlich die Möglichkeit, damit Schach zu spielen, ist gleich.

Forist "deedl"

In diesem Szenario wurde der Aufwand zur Fertigung maximiert, während Nutzen und Preis konstant geblieben sind. Der Schluss, der daraus gezogen wurde, ist naheliegend, aber falsch: Der Preis müsse vom Nutzen abhängen. Jedoch ist das genau die Illusion, vor der Marx bereits auf den ersten Seiten warnt.4 Es ist nicht der individuelle Aufwand, auf den es bei der Produktion im Hinblick auf die Wertbildung ankommt, sondern der gesellschaftlich notwendige. Man könnte auch so sagen: Woher soll denn der Käufer überhaupt wissen, wie viel Arbeit im Produkt steckt? Das sieht man dem Produkt in der Regel nicht an - es gilt sogar als Betriebsgeheimnis - und spielt im Hinblick auf den Nutzen auch keine Rolle.5 Ob die Schachfiguren nun unter Wasser mundgeschnitzt oder vom Drechsler an einer Drehbank im Massenfertigungsverfahren hergestellt, ist völlig wurscht für das Bedürfnis, damit Schach zu spielen.

Der gesellschaftlich notwendige Aufwand für die Produktion hängt maßgeblich vom Stand der Produktivkräfte (Maschinen, Know-how etc.) ab.6 Je fortgeschrittener die Produktionsmethoden, desto weniger Aufwand entfällt auf die Produktion jedes einzelnen Warenstücks, umso mehr Stück können in gleicher Zeit, d.h. bei gleichem Aufwand, hergestellt werden, umso billiger wird nach und nach jedes einzelne von ihnen. Natürlich steigt damit auch gleichzeitig die Verfügbarkeit dieser Dinge, die nun in Überzahl produziert werden können. Das nährt direkt die nächste Illusion, dass ihr Verkaufspreis allein von dieser Verfügbarkeit, sprich von Angebot und Nachfrage abhängt:

Das Beispiel mit dem Klumpen Gold ist schon mal Unsinn [...]. Maßgeblich für den Wert einer Sache ist nämlich nicht der Produktionsaufwand [...], sondern schlicht die Tatsache, wie viel Menschen bereit sind, dafür zu zahlen. Und das hängt von der Verfügbarkeit (also wie selten oder häufig das Gut ist) und davon ab, wie notwendig das Gut benötigt wird.

Forist "mi fhein"

Wenn aber die Verfügbarkeit des Produkts mit der Senkung des Produktionsaufwands notwendig parallel einhergeht (außer die Ressourcen gehen zuneige), wie kann man sich dann so sicher sein, den Aufwand vollständig und ohne nähere Begründung als Substanz des Werts ausschließen zu können, zumal er ja ursächlich für die Verfügbarkeit ist? Ist das nicht ein wenig überhastet?

Ich schrieb, dass die VWL mit Angebot und Nachfrage zwar die Gesetze der Preisbewegung bebildern kann, aber nicht erklären kann, um welche Grundhöhe (= Wert) der Preis schwankt.

Die VWL berücksichtigt das indirekt schon, denn der Anbieter der Feuerwaffe, hat immer im Kopf, was ihn die Produktion der Waffe gekostet hat. Diese Kosten zu ermitteln ist eine Domäne der BWL. Die Untergrenze des Angebotes dürfte also bei der Summe liegen, die die Produktion der Waffe kostete. So kommt vermutlich das geheimnisvolle Fundament des Angebots ins Diagramm [= die untere Schwankungsgrenze des Preises, Anm. des Autors]. Auf diese Summe wird der Produzent einen Gewinn schlagen wollen. Also Preisangebot = Kosten + Gewinn. Die Konkurrenz muss eine ähnliche Rechnung aufmachen. Ist ihre Produktion ähnlich, ergibt sich dadurch ein ähnliches Preisniveau.

Forist "SoShy"

Die Wahrheit: So rechnet tatsächlich jeder BWLer. Für die Praxis muss man auch nichts weiter wissen - das aber schon. Die einzelnen Kosten genau aufzuschlüsseln, und damit einen effizienten Umgang zu finden und in einen Konkurrenzvorteil zu wenden, ist tatsächlich insofern, aber auch nur insofern, eine eigene Wissenschaft.7 Sie scheitert jedoch daran, die Grundlagen ihres Forschungsfeldes zu reflektieren. So wie oben wird ja tatsächlich in der BWL argumentiert: Wie erklärt sie den Preis? Durch einen anderen Preis. Und den seinerseits durch einen wiederum anderen Preis usw. Das ist reichlich zirkulär und gilt deshalb nicht umsonst als schlechte Wissenschaft. Die BWL hat zwar ihren pragmatischen Umgang mit dem Preis gefunden, weiß aber dadurch immer noch nicht, was er seinem Begriff nach ist, und braucht es für ihre Praxis auch nicht zu wissen.

Der Aufwand, Löcher für ein Regal an der richtigen Stelle in die Wand zu bohren, ist genauso groß wie der Aufwand, sie an die falsche Stelle zu bohren. Der Unterschied im Nutzen der Löcher ist aber enorm. [...] Wenn ich den ganzen Tag lang einen Stein im Kreis trage, dann ist das viel harte Arbeit, aber der Nutzen ist null.

Forist "deedl"

In diesem Szenario wiederum wurde bei gleich bleibendem Aufwand ("Löcher bohren") der Nutzen variiert (richtige vs. falsche Löcher). Der vorschnelle Schluss: Es wurde Arbeit aufgewandt, die aber gar nicht in Nutzen resultiert. Da aber "deedls" Meinung nach der Nutzen den Preis beeinflusst (s.o.), könne es nicht stimmen, dass verausgabte Arbeit Einfluss auf die Wertbildung hat. Der richtige Einwand dazu lautet:

Der konkrete Aufwand [für falsche und richtige Löcher, Anm. des Autors] wird mehr oder weniger identisch sein, egal, wo du die Löcher bohrst. Verkaufen wirst du die Ware mit den falsch gebohrten eher nicht. Marx betrachtet Waren. Also Gebrauchswerte, die eine nützliche Seite haben.Und stellt im Übrigen auch fest, dass der Aufwand für nicht verkaufte Waren gesellschaftlich nicht zählt.

Forist "jsjs"

Mit anderen Worten: Ein Produkt, das für niemanden ein Bedürfnis erfüllt, kann vom Standpunkt des Marktes als nicht-existent betrachtet werden. Es hat dort nichts zu suchen, weil es dort niemand haben will. Die Ware muss schon ein Gebrauchswert sein, also einen Nutzen befriedigen - letztlich egal welchen, Hauptsache sie eignet sich dafür8 -, sonst ist sie eben keine und fällt aus seiner Analyse raus. In den obigen Beispielen (falsche Löcher bohren; Steine im Kreis schleppen) ist die Minimalvoraussetzung für eine Ware also gar nicht erst erfüllt.

Schauen wir näher zu, was der Forist über den "Nutzen" zu sagen hat:

Nutzen hängt immer vom Kontext ab. [...] Eine Föhn ist nur jemandem von Nutzen, der auch eine Steckdose hat, Steckdosen sind nur nützlich, wenn es dafür Elektrogeräte gibt.

Forist "deedl"

So weit erst mal gar nicht verkehrt.9 Ein anderer Forist formuliert denselben Gedanken etwas senkrechter:

Nutzen spricht [...] ein Verhältnis an. Diese Kategorie benennt, wofür ein bestimmtes Gut aufgrund seiner Eigenschaften dem Menschen dienlich ist. Der Aufwand kommt in dieser Kategorie gar nicht vor.

Forist "Werner213"

Danach fängt "deedl" an, die Begrifflichkeiten durcheinander zu werfen:

"

Die Aufgabe des Unternehmers ist es, einen Kontext zu schaffen, in welchem der Arbeiter den größtmöglichen [!!!] Nutzen erzeugt. Ein Maurer, der die Pläne eines Architekten umsetzt, schafft größeren [!!!] Nutzen als ein Maurer, der einfach irgendwas baut.

Forist "deedl"

Ein Produkt stiftet einen Nutzen oder nicht, aber es stiftet nicht "mehr" oder "weniger" davon. Der Nutzen ist nicht quantifizierbar. Der Nutzen eines Tisches besteht z.B. darin, dass man auf einer bestimmten Höhe Dinge ablegen kann. Das ist eine Eigenschaft der Dinge. Aber man kann streng genommen nicht einfach so sagen: Der Tisch erfüllt mir 4 Nutzeneinheiten. Das ist eine Quantität.10 Oder noch abstrakter, gleich ohne die Einheiten zu nennen: Der Tisch stiftet mir einen "größeren" Nutzen als die Pommes oder die Prostituierte oder der Swimmingpool oder der Friseurbesuch, … . Das ist eine vollständig subjektive Hierarchisierung oder Ordnung der Bedürfnisse. Eine individuell geordnete Liste von Präferenzen. Das sagt man zwar umgangsprachlich so, "dies ist mir mehr wert (bzw. nützt mir mehr) als jenes", weil man es gewohnt ist, dass nun man alles Geld und/oder Zeit kostet und man sich mit seinem begrenzten Geld/Zeit-Budget entscheiden und gegeneinander halten muss, wie man es letztlich ausgeben möchte. Das ist die reale Basis dahinter. Aber begrifflich ist es unsinnig.

Man muss sich also klar machen, dass die meisten Leute, wenn sie unbedacht vom "Nutzen" reden, bis zu drei verschiedene Dinge damit meinen können, von denen es eines noch nicht einmal gibt, nämlich den quantitative Nutzen. Und diese werden dann im selben Kontext mühelos durcheinander geworfen, was jede Debatte darüber verunmöglicht.

Die VWL macht diesen Fehler zum Prinzip ihrer gesamten Theoriebildung, jedenfalls im ersten Semester der Ausbildung, wo die legitimatorischen Grundsteine gelegt werden. Dort, wo sie pragmatisch wird und sich an den Problemen der realen Welt abarbeitet, in den Vorlesungen der höheren Semester, spielen diese Grundlagen (Nutzenwerttheorie) häufig genug gar keine Rolle mehr. Bis dahin hat man sich eh den Nutzen in Geld übersetzt, weil sich ja mit Geld alles, was einen Nutzen stiftet, kaufen lässt, und ab da wird dann ohnehin nur noch mit Geld argumentiert: "Wie kann dieser oder jener Wirtschaftsakteur seinen Nutzen maximieren?" bedeutet dann so viel wie: "Wie kann er sich in der Konkurrenz am erfolgreichsten durchsetzen?" Und dafür werden dann Methoden zusammengetragen.

Der legitimatorische Gehalt einer Übersetzung von Nutzen in eine Quantität besteht zum einem darin, dass es den Nutzen zur alleinigen Grundlage des Preises von Waren erklärt und damit ablenkt von der Arbeit als der Substanz des Werts. Es lenkt insofern also auch von all dem ab, was man mit der von Marx verfeinerten Arbeitswerttheorie später so alles zeigen kann, nämlich z.B. und vor allem, dass im Kapitalismus jede Produktion für den Markt auf Basis einer Ausbeutung, d.h. einer Aneignung fremder Arbeit stattfindet.

Beispielsweise ich mag keine Schokolade und habe mir zuletzt irgendwann einmal in der Kindheit eine Tafel gekauft; sie besitzt für mich keinerlei Wert, was sich natürlich kurz vor einem Verhungern ändern könnte, doch eben nur dann, während sie für andere Menschen ein Stück Lebensqualität darstellt, was der Schokolade einen Wert zubilligt, der aber nur bei standardisierten Menschen zu objektivieren wäre. Und so gilt für jede Sache: erst aus einem individuellen, menschlichen Interesse resultiert deren Wert.

Forist "Leser2015"

Und trotzdem zahlen der Gourmet und der Banause, der Bedürftige und der Abgesicherte denselben Preis für die Tafel Schokolade, wenn sie sie ihm selben Kiosk kaufen. Mit ihren Vorlieben hat das rein gar nichts zu tun. Die kennt der Verkäufer mitunter auch gar nicht, spielen bei seiner Preissetzung also keine Rolle.

Gold erhält seinen Wert zunächst durch sein Aussehen [!!!], welches Menschen dazu veranlasst, Schmuck und andere Waren daraus herzustellen. Übrigens in verschiedenen Teilen der Welt [!!!]. Später machte man sich das zunutze und benutze Gold oder eben Silber auch als Basis für Tauschgeschäfte. Daraus entstand dann im Laufe der Kulturentwicklung [!!!] auch staatliche Währungen.

Forist "Nützy"

Viele Dinge sehen schön aus. Das macht sie aber noch nicht allesamt wertvoll. Verschiedene Edelsteine und Edelmetalle sind auch schön, dennoch haben sie nicht unbedingt denselben Wert wie Gold. Der kann deutlich drunter oder deutlich drüber liegen, egal ob sie schöner aussehen. Darüber hinaus sind viele Edelsteine für das ungeübte Auge nicht von gefärbtem Glas zu unterscheiden, man kann insofern nicht behaupten, das Aussehen regiere ihren Wert. Dennoch würde sich sofort jeder beschweren, wenn man ihm bloßes Glas statt der edlen Klunker anzudrehen versuchte. Warum? Weil jeder weiß, dass Edelsteine echte Wertträger sind. Je schwerer sie zu schürfen sind, was mit ihrer Seltenheit einhergeht, umso teurer werden sie gehandelt.

Dass die Menschen überall auf der Welt Gold verwenden, liegt daran, dass es überall auf der Welt als Rohstoff vorhanden ist. Dass sie es überall als Schmuckmaterial benutzen, liegt daran, dass es dafür ein sehr geeigneter Rohstoff ist: Es ist einerseits relativ leicht formbar im Vergleich zu anderen Metallen, und deshalb anderseits auch zu kaum etwas anderem zu gebrauchen, z.B. für die Waffen- oder Werkzeugproduktion, wofür es überdies dann doch zu teuer wäre. Auch dass das Gold in vielen Völkern, wo eine Ware benötigt wurde, um in der Funktion eines Gelds den gesellschaftlichen Tauschprozesses aufrechtzuerhalten, zum allgemeinen Wertäquivalent, d.h. der "staatlichen Währung" avancierte, liegt lediglich daran, dass dieses Material mit sein Eigenschaften sehr gut die typischen Eigenschaften von Wert widerspiegelt: Teilbarkeit, Haltbarkeit, etc. Diese Eigenschaften werden zwar auch von anderen Waren geteilt (verschiedene Metalle, Salze, Muschelhaufen), die deshalb in der Geschichte ebenfalls als Geld fungierten. Diese sind aber nicht so wertkompakt wie Silber und Gold. Schon eine kleine Menge davon reicht aus, um damit eine große Menge Wert in der Hand zu halten.

Außer dem Menschen, und selbst das ist streng genommen nur der zentrale, zivilreligiöse Grundkonsens unserer Gesellschaft, besitzt nichts auf Erden einen Wert an sich. Jeder Wertbegriff kam ja überhaupt erst durch das Bewusstsein des Menschen in die Welt, denn von was sollte er sonst abhängig [sein]?

Forist "Leser2015"

Richtig daran ist, dass der Wert den Dingen nicht an sich anhaftet. Es ist keine Natureigenschaft. Die Kategorie Wert gewinnt überhaupt nur dort an Bedeutung, wo es eine Marktwirtschaft gibt, und Preise den Zugriff auf die Welt der Produkte regeln. Falsch ist, dass der Wert, wo er reale Bedeutung hat und z.B. als zu zahlendes Quäntchen Geld den Ausschluss der Geldlosen vom Zugriff auf die Produkte der Warenwelt herstellt, bloß reine Glaubenssache ist. Erkläre das jemand mal einem Obdachlosen, dass er nur deshalb auf der Straße lebt, weil die Gesellschaft sich kollektiv einen Film fährt, d.h. bloß einer Einbildung des Bewusstseins erlegen ist. In einer etablierten Marktwirtschaft ist der Wert nicht nur nicht eingebildet, sondern auch nicht zufällig, sondern unterliegt Bewegungsgesetzen, die man leicht herausarbeiten und benennen kann.