Der Mensch, der in die Kälte kam
Vor beinahe 40 000 Jahren lebte eine Gruppe von Jägern im Hohen Norden Russlands, nahe der arktischen See
John Inge Svendsen und Svein Indrelid von der Universität Bergen in Norwegen sowie Pavel Pavlov vom Komi Science Center der Russian Academy of Sciences veröffentlichen in der aktuellen Ausgabe des Wissenschaftsmagazins Nature ihre Beweise menschlicher Präsenz in der europäischen Arktis-Region in der Übergangszeit von der mittleren zur oberen Altsteinzeit (Paläolithikum).
Sie fanden Steinwerkzeuge, Knochen und einen Mammutstoßzahn mit von Menschenhand eingeritzten Kerben.
Die Ausgrabungsstätte Mamontovaya Kurya liegt an den Ausläufern des russischen Ural-Gebirges, nahe am Polarkreis (66º34'N; 62º25'E) am Ufer des Flusses Usa. Seit langem wurden dort Tierknochen gefunden, aber noch niemals Artefakte, die von Menschen stammten.
Mithilfe der Radiokarbon-Datierungsmethode wurden die neuen Funde analysiert und auf ein Alter zwischen 35'000-40'000 Jahren datiert. Die Radiokarbonmethode beruht auf der Bestimmung des radioaktive Kohlenstoffisotop C-14, bzw. dessen Zerfalls pro Zeiteinheit (mehr zu C-14-Methode). Die Gruppe arbeitete mit der Beschleuniger-Massenspektrometrie (englisch AMS = Accelerator Mass Spectrometry), die direkt den Anteil an C-14-Atomen in einer Kohlenstoffprobe bestimmt. Die Datierung konnte durch die Fundschicht am Steilufer des Flusses Usa bestätigt werden.
Das Alter ist erstaunlich, denn bisher waren die Anthropologen davon ausgegangen, dass in dieser arktischen Region erst vor 13 000-14 000 Jahren Menschen auftauchten. Die neuen Funde sind der älteste Beleg für menschliche Präsenz im hohen Norden Europas.
Eiszeit
Vor knapp 40'000 Jahren herrschte die Eiszeit in Europa. Das Klima in Mamontovaya Kurya war in diesem Zeitraum relativ trocken und die Umgebung war eisfrei. Innerhalb der Eiszeit kann von einer relativ milden Epoche ausgegangen werden. Die Existenz von großen Tieren wie dem Mammut in der Region spricht dafür, dass das Gebiet eine Art Steppe, offenes Land mit Gräsern und Kräutern, aber ohne Baumbewuchs war. Am Flussufer gab es wahrscheinlich auch Weiden-Sträucher (Salix spp.). Auf jeden Fall war es eiskalt. Es kann davon ausgegangen werden, dass die Temperaturen durchschnittlich um 10ºC kälter waren als heute.
Funde
Ausgegraben wurden Tierknochen von Mammuten, Pferden, Rentieren und Wölfen. Ein 1,3 m langer Stoßzahn eines Mammuts zeigt eine Reihe von tiefen Markierungen, die von Menschen stammen. Eine mikroskopische Analyse ergab, dass sie von einer Steinklinge stammen. Unklar ist, ob diese Kerben eine künstlerische oder symbolische Bedeutung haben. Sie könnten auch vom Gebrauch des Stoßzahns als eine Art Amboss stammen. Gefunden wurden auch verschiedene Steinwerkzeuge, die als scharfe Klingen verwendet wurden. Die Funde zeigen nur wenig Gebrauchsspuren. Die gefundenen Tierknochen weisen darauf hin, dass die arktischen Menschen das Fleisch großer Tiere, v.a. des Mammuts verspeisten.
So weit nördlich sind diese Funde mit Abstand die ältesten. Ungefähr 300 km südlich von Mamontovaya Kurya gibt aber eine Ausgrabungsstelle nahe des Dorfes Byzovaya am Fluss Pechora, wo Hunderte Artefakte und Tierknochen gefunden wurden. Neueste Radiokarbon-Datierungen weisen darauf hin, dass auch diese Funde aus der oberen Altsteinzeit stammen und ungefähr 28'000 Jahre alt sind.
Homo sapiens sapiens
Neandertaler oder Homo sapiens sapiens
Unklar ist, welcher Gattung Mensch diese alten Europäer angehörten. Es könnten Neandertaler oder moderne Menschen gewesen sein. John Inge Svendsen und Kollegen sind überzeugt, dass eine relativ hohe Entwicklungsstufe Grundlage des Überlebens in der arktischen Kälte gewesen ist:
Wir sind überzeugt, dass das Überleben von Menschen in der arktischen Umgebung während des ganzen Jahres eine Langzeitplanung und ein ausgeprägtes soziales Netzwerk voraussetzt - Qualitäten, die im Allgemeinen mit dem modernen Menschen verbunden werden.
Das Bild des Neandertalers als primitiver Affenmensch, der keine Kultur oder Sprache kannte, ist zwar inzwischen nicht mehr aufrecht zu erhalten (Vgl.Neandertaler: Fand der erste Weltkrieg vor 40.000 Jahren statt?), aber eine umfassende soziale Organisation wird ihm dennoch eigentlich nicht zugetraut. Fortschrittliche steinzeitliche Technik bei Werkzeugen und eine überlegene Gesellschaftsstruktur gelten als die Gründe, warum der moderne Mensch überlebte und der Neandertaler ausstarb - oder in einem langen Krieg vernichtet wurde. Die ersten Homo sapiens sapiens tauchten allerdings nach bisherigem Wissenstand erst vor 28 000-30 000 Jahren in Russland auf. Die neuen Funde sind Tausende von Jahren älter. Das Forscherteam hat keinen Hinweis, welcher der beiden menschlichen Wesen einst in Mamontovaya Kurya lebten, aber in jedem Fall hinterfragt die neue Entdeckung alte Denkmuster:
Wenn die Person [die den Mammutstoßzahn kerbte] ein moderner Mensch war, der aus gemäßigten Regionen kam, wie die "Out-of-Africa"-Hypothese besagt, dann wurde die russische Arktis vom Homo sapiens sapiens bereits besetzt, kurz nachdem die ersten Neuankömmlinge Europa betraten. Auf der anderen Seite, wenn die Person ein Neandertaler war, dann sind diese Menschen weitaus nördlicher gekommen als bisher angenommen, was bedeutet, dass ihre kulturelle Entwicklungsstufe kein Hindernis bei der Kolonisierung des arktischen Lebensraumes war. Wer auch immer sie oder er war, die Funde von Mamontovaya Kurya beweisen, dass der europäische Teil der Arktis von Menschen bevölkert war, lange bevor der Neandertaler vor ungefähr 28'000 Jahren vom Kontinent verschwand.
Die Anpassungsfähigkeit des Menschen
In seinem begleitenden News-and-Views-Artikel in der gleichen Ausgabe von Nature geht der Archäologe John Gowlett von der englischen University of Liverpool auf die erstaunliche Anpassungsfähigkeit des Menschen ein und regt an, die Debatte über die Effekte klimatischer Bedingungen und Veränderungen auf die Wanderungsbewegungen früher Menschen wieder aufzunehmen. Er gibt dem Team um John Inge Svendsen Recht, dass ein Überleben in der arktischen Region ein hohes Maß an technologischer und sozialer Organisation voraussetzt. Ausführlich geht er auf den aktuellen Wissenstand über den Neandertaler ein und zeigt auf, dass dieser frühe Mensch sehr wohl ein humanes Wesen war, das Schwächere in der Gruppe umsorgte. Dennoch ist es nach wie vor fragwürdig, wie weit die kulturelle Entwicklung des Neandertalers reichte. Umstritten ist auch, ob er genetisch mit uns verwandt ist oder ob er ausstarb, ohne Spuren in unserer Erbmasse zu hinterlassen. Der Mensch bleibt überraschend, das ist das Fazit von Gowlett:
Die neuen Funde zeigen, dass Menschen einen Lebensraum im Norden hatten, wenn es auch nur für eine kurze Zeit war. Obwohl noch Fragen offen bleiben, illustrieren die Artefakte doch sowohl die Kapazität der frühen Menschen das Unerwartete getan zu haben wie den Sinn archäologischer Forschung in Gebieten, die vorab unwahrscheinlich scheinen.