Der Mensch ist dem Menschen ein Schaf
Über die "kritische" Masse der Demonstraten, QAnon-Ken und die fehlende Anerkennung für die schweigende Mehrheit - Eine Polemik
Dieses Wochenende haben einige Demonstrationen stattgefunden, die mehr oder weniger gegen die Corona-Maßnahmen gerichtet waren. Auf vielen (noch nicht nachverdichteten) Freiflächen in deutschen Städten findet sich nun ein Sammelsurium an verschiedenen Beweggründen, Rechtfertigungen, Meinungen, Haltungen, Theorien, Spekulationen, Zwecken und Zielen in der causa corona.
Vereint ist man darin, sich Gehör verschaffen zu wollen, oder wenigstens sich unter Leute zu mischen und das an der freien Luft, das sei ein Grundrecht, das zu schützen auch ein Grundrecht sei. Die Berichterstattung konzentriert sich auf die Verstöße gegen Obergrenzen der Teilnehmerzahl, warnt gewissenhaft vor der Unterwanderung durch Rechtsextreme. Auf aktuelle Sorgen der Bürger - welcher anscheinend lieber Gebote statt Verbote will - wird kaum eingegangen.
Ob diese Demos für ein rascheres Eintreten der "zweiten Welle" sorgen werden, sei an anderer Stelle zu klären, jedenfalls war die "erste Welle" nicht derart desaströs wie in anderen Ländern, sodass die Sorgen der Demonstranten sich um Freiheitsrechte drehen können, statt um dringlichere Probleme, und das im Wohlfühlerlebnis-Center namens Demo. Präzise beobachtete schon Elias Canetti die Attraktivität der Masse: Der Verlust jeder Individualität wird als befreiender Akt betrachtet, da der Einzelne nicht mehr alleine der chaotischen Welt gegenüber steht.
In der Tat geht es chaotisch zu in der Welt, doch demonstriert wird weder für bessere Löhne für alle, für nachhaltiges Wirtschaften, für kürzere Arbeitszeiten, für mehr bezahlbaren Wohnraum, gegen Cum-Ex-Machenschaften und massive Steuerhinterziehung, gegen Outsourcing, gegen die Zerstörung des Einzelhandels durch Amazon, gegen die Ausspähung von Daten und der Privatsphäre oder gegen Nachverdichtung. Solidaritätsbekundungen mit all jenen, die in Italien, Spanien, Frankreich, Großbritanien oder Russland ihre Angehörigen verloren haben und sich nicht einmal würdevoll verabschieden durften - als ob das kein Licht auf Menschenrechte wirft -, fehl am Platz.
Förderlich im Allgemeinen ist's jedenfalls nicht, wenn die Politik auf die wie auch immer gearteten Sorgen der Menschen mit Neuwagen reagiert. Was sollen alleinerziehende Berufstätige, die geduldig auf die Kita-Öffnung warten mit einem neuen BMW? Förderlich im Speziellen ist's ebenfalls nicht die Polizei in schwerer Montur ausrücken zu lassen: Bewaffnet mit hochauflösenden Kameras, um die mit hochauflösende Kameras bewaffneten Menschenmengen friedlich aufzulösen. Man wünscht sich im Übrigen die grünen Polizeianzüge wieder, die bei aller Anstrengung nie provozierend wirken konnten.
Ihnen gegenüber steht - bei aller medialen Verschmähung - eine mehrheitlich bunte Mischung aus friedlich Demonstrierenden. Klar, ein paar schwarze Schafe, die braun sind, tummeln sich darunter. Sie mischen sich unter jene, die die Priorität von Grundrechten fordern, von denen "Braune" grundsätzlich wenig halten. Auch sie wollen Gebrauch von ihren Grundrechten machen, man "lasse sich nicht alles gefallen", man sei der Meinung, dass es jetzt genug sei, es geht um's Prinzip, kurz: "Es reicht!". Warum eigentlich?
Rede ohne Antwort
Adorno sagte mal: "Nur die Gedanken sind wahr, die sich selber nicht verstehen." Das nehmen einige zurzeit etwas zu wörtlich. Sie plappern unverständlich nach, was nicht verständlich ist und deshalb wohl wahr sein muss. Dunkle Mächte wollen zwangsimpfen, schreien jene, die sich derzeit mit wilden QAnon-Theorien einimpfen, darunter KenFM.
Zu seinen ultrakurzwelligen Gedanken, die sich selber nicht verstehen, aber auf jeden Fall wahr sein sollen, gehört, dass der Entwickler von Windows schon wieder die Anti-Viren-Industrie fördere, nein, er stecke sogar dahinter. Wie perfide! Typisch für VTler: Der Kausalitätsfetisch schlägt um in eine Korrelations-Paranoia. Alles ist miteinander so verwoben, verquickt und verstrickt, wie "du es dir in deinen wildesten Träumen nicht vorstellen kannst", wie man so sagt. Vieles von der QAnon-induzierten Empörung klingt ohnehin wie Clickbait-Journalismus auf Steroiden, oft in der Form: "OMG! Es ist so brutal! Du wirst nicht glauben, was jetzt schon wieder..." keiner glauben wird.
Zu Kens Gedanken klärt dankenswerterweise ein User im Telepolis-Forum auf:
"Gates finanziert die WHO zu über 80%" - gelogen 2019 waren es nicht einmal 10%
"Gates hat mehr Macht als sämtliche politischen Führer während des WW II zusammen, inkl. Adolf und Josef" - lol
"Gates hat den Spiegel gekauft - Mit einem Betrag über Jahre von nicht einmal 1% eines Jahresumsatzes" - lol
"Gesetzliche Impfpflicht wegen Corona" - gelogen stand nie im Gesetzentwurf
"Menschen wurden verhaftet weil sie das Grundgesetz bei sich trugen" - gelogen
"Ein Gesetzentwurf des Gesundheitsministeriums wäre geheim" - gelogen steht auf deren Homepage
"Spiegel, TAZ und Co würden GEZ beziehen" - gelogen
"Alle anderen Medien lügen!" - Er nutzt aber genau diese Medien die ja nur lügen als seine Quellen und zitiert dann absichtlich falsch.
Die mittlerweile mehrfach mutierte QAnondenke wirkt wie eine Flucht in eine Fiktion, für diejenigen, die eher in den Sozialen-Medien mit dem Daumen denken; sich vom tumbsten aller Finger lenken lassen, anstatt ihn mit Fingerspitzengefühl für eigene Gedanken zu steuern.
Die neue "kritische" Masse, die sich als besonders zu einer Form des kritischen Denkens begabt feiert, wiederholt, was andere in die Welt gesetzt haben, als ob man dadurch schon zum Systemkritiker wird, dass man VT-Videos konsumiert und sich in "sicheren" Chaträumen darüber "austauscht". In den Chat-Foren auf Telegram und Konsorten wird allerdings mehr gehatet als gechattet.
Dabei trifft das englische Hate-speech, wohl eher zu als die deutsche "Hassrede". Inhaltlich suggeriert QAnon einen Widerpart in der Welt, den es nicht gibt, wie die Hassrede einen Widerpart suggeriert, den es nicht gibt. Sie ist eine Rede ohne Antwort.
So wird der "QAnonsense" von Superspreadern wie Hildmann oder Herman in Telegram-Channels propagiert, die keine Teilnahme an Diskussionen zulassen, sondern wie antiquirierte Einbahnmedien nur in eine Richtung ausstrahlen. One-to-many heißt das altbekannte und "faschistische" Medium, wie das Fernsehen: Gerade jene, die die Indoktrination durch die Einbahnmedien fürchten, und von den "faschistischen Machenschaften" einer nur "angeblichen Demokratie" warnen wollen, degradieren sich wieder zu Volksempfängerlauschern.
Volk ohne König
Im Forum zu einem Artikel von Alexander Unzicker schrieb kürzlich ein "Kritiker" der aktuellen Weltordnung: "Welche Staatsform wünschen Sie sich zurück? 33-45????"
Nun, wie wäre es mit einer parlamentarischen Monarchie?
Zu hören und zu lesen gibt es so viel wie noch nie, doch was fehlt, sind ein paar anerkennende und wohltuende Worte in dieser "chaotischen Welt" der Moderne. Schon lange fehlt der Gesellschaft das Forum, das für die Anerkennung jener, die sich an die Regeln der Gemeinschaft halten, zuständig war. Und da nun die Kirche anscheindend auch QAnon zum Kanon aufnehmen will, bleibt nur noch eine Monarchie. Vielleicht sind die Demonstrationen leise Rufe nach einem König?
In anderen Ländern verstehen es Königshäuser jedenfalls ihr Volk mit einer gefühlvollen Ansprache zum richtigen Zeitpunkt zu beruhigen. Sie wirkt Wunder für jene geschundenen Seelen, die doch nichts anderes wollen, als dass mal eine Stimme zu ihnen spricht, die frei ist von profitorientierten Interessen, die frei ist von politischer Agenda, frei vom Feilbieten um die Gunst der Wähler. Über alle Zweifel erhaben, das können Könige und Königinnen sein, freilich keine mittelalterlich-französischen, sondern modern-skandinavische.
"Viele Menschen machen sich Sorgen um ihre Gesundheit, um ihre Verwandten, um ihren Lebensunterhalt", sagte der schwedische König Carl XVI Gustaf. "Wir befinden uns in einer Situation, die von den Menschen verlangt, Verantwortung zu übernehmen." Das klingt doch angenehmer als aus dem Mund eines Jens Spahn.
Ein gutes Tier
Bisher hieß es, Deutschland sei von der Pandemie verschont geblieben, als ob es sich um eine Naturgewalt handeln würde, gegen deren Verheerung nichts unternommen werden kann. Die Leistung, die in Deutschland erbracht wurde, ist einerseits eine institutionelle, andererseits eine Vernunft-gegründete der Mehrheit der Bürger. All diesen gebührt Anerkennung. Anerkennen, schon immer eine heilsame Tat in einer Gesellschaft, in der Menschen bereit sind, für einen Hauch von ihr nahezu alles zu tun, hat es schwer als eine Leistung herausgestellt zu werden.
Vernünftig zu sein, wird selten anerkannt, stattdessen ist sie derzeit der Kritik ausgesetzt, dass man einem gehorsamen Untertanen, einem Schafe gleiche, wenn man die Maßnahmen gutheiße. Die in Nachsicht und Geduld Geübten werden als stumme Ohnmächtige polemisiert, wenn sie es gegenüber jenen sind, die wütend ihre Stimme weg parolieren. Doch die schweigende Mehrheit schweigt nicht zuletzt deshalb, weil sie sich zum Glück nicht mit jedem "Covidioten" bzw. QAnon-Faschisten auseinandersetzen muss. Die kritische Masse kann eine schweigende, duldsame, nachsichtige sein. Das macht die Demokratie stark.
So lebt sich's zurzeit in Deutschland, wie Adorno mal vorschlug: "versuchen, so zu leben, daß man glauben darf, ein gutes Tier gewesen zu sein". Weder Schaf noch Wolf, sondern eins, das also versucht, so zu leben, dass man glauben darf, andere mit dem eigenen Blödsinn nicht angesteckt zu haben.