Der Mythos von der zunehmenden Komplexität
War früher wirklich alles einfacher und langsamer? Philosophie für Nerds 2
Die Behauptung, dass unsere Welt immer komplexer, immer vielfältiger und undurchschaubarer würde, und dass diese Veränderung auch noch mit immer größerer Geschwindigkeit vonstatten gehen würde, gehört zu den ganz großen Selbstverständlichkeiten unserer Zeit. Der Papst und die Grünen, Künstler und Konzernvorstände, Regierungschefs und anarchistische Gruppen scheinen sich darin einig zu sein. Früher war alles einfacher, früher veränderte sich die Welt nicht so schnell, früher war alles sicherer und stabiler als heute. Diese merkwürdige Einigkeit provoziert gerade zu zur philosophischen Besinnung, die ja genau genommen nicht mehr unternimmt, als das scheinbar Selbstverständliche zum Fragwürdigsten zu machen.
Ein Blick zurück
Vergleichen wir zunächst einmal die letzten rund 25 Jahre mit einem vergleichbaren Zeitraum in der Vergangenheit, lassen wir den Blick 100 oder 200 Jahre zurückgehen. Was hatten wir da an politischen Veränderungen in Deutschland? Vor 22 Jahren "die Wende" in der DDR, dann die europäische Einigung (die kaum Veränderungen mit sich brachte) und die Euro-Einführung. Das war's, jedenfalls politisch.
Der Zufall des Rück-Blicks zeigt für die Zeit um 1900 auch eine recht ruhige Epoche. Der deutsch-französische Krieg war gerade vorbei, 1890 wurde Bismarck als Reichskanzler entlassen, danach gab es alle 4 bis 10 Jahre einen neuen Kanzler, der sich dem Kaiser besser unterordnete als Bismarck. Ein paar Krisen mit den neuen Mächten USA und Japan, ein bisschen Geplänkel um Marokko, der erste Weltkrieg stand zwar vor der Türe, hatte aber noch nicht begonnen.
Vor 200 Jahren sah es dafür aber ganz anders aus: die Französische Revolution und ihre Folgen wirbelten ganz Europa durcheinander, eine Zeit des Wandels, gegen die die Gegenwart sich beschaulich ausnimmt. Napoleon zog mit seinen Armeen durch Europa, die Länder wurden unter den verschiedenen Herrschern ständig hin und her geschoben. Wenn eine Zeit in Europa dynamisch war, dann die von 1789 bis 1813. Selbstverständlich hat Europa zuvor und seitdem noch weitere stürmische Veränderungen erlebt, bevor es vor rund 60 Jahren in einen Dornröschen-Schlaf fiel, aus dem es 1989 nur kurz einmal aufgeschreckt ist.
Gingen wir noch weiter in der Geschichte zurück, würden wir bemerken, dass es politisch in Europa in früheren Zeiten weit aufregender und wechselhafter zuging als heute.
Technische Revolutionen
Aber die technischen Revolutionen! wird man einwenden. Das Internet, die Mobilfunknetze, GPS! Aber von ebenso dramatischen technischen Veränderungen können alle Generationen der letzten 200 Jahre berichten, was dem einen sein Internet ist dem andern seine Eisenbahn, sein Automobil, sein Rundfunk, sein Telefon.
Vor rund 100 Jahren hatte die technische Entwicklung eine Dramatik, die wir uns heute kaum noch vorstellen können: 1888 baute Hertz seinen ersten Oszillator zum Nachweis elektromagnetischer Wellen, woraus sich rasant die Funktechnik entwickelte. Schon 1895 führte Marconi die erste Drahtlosübertragung von Funksignalen durch. Ebenfalls 1895 entdeckte Röntgen die später nach ihm benannten Strahlen. 1903 führten die Brüder Wright den ersten Motorflug durch, erste Autofabriken entstanden, das erste Massenauto (Modell T) wurde 1909 gebaut. Von den revolutionären wissenschaftlichen Entwicklungen der Zeit um 1900 können wir heute wahrlich nur träumen.
Vor rund 200 Jahren sah das nicht wesentlich anders aus: Die erste Hochdruck-Dampfmaschine wurde 1798 gebaut, ihr folgte der erste Dampfwagen 1801 und die erste Dampflok auf der Schiene 1804 - eine Revolution, die zum Aufblühen von Industrie und Bergbau führte. All diese technischen Entwicklungen haben für die Gesellschaft dramatische Veränderungen mit sich gebracht. Und die Veränderungen, die die Einführung der Kartoffel aus Amerika für Europa bedeutete, dürfte nicht weniger dramatisch gewesen sein. Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen: Buchdruck, Großsegel, Pferdekutsche usw.
Wenigstens in den letzten paar hundert Jahren hat der Siegeszug einer alles verändernden Technologie auch nicht länger gedauert als die Verbreitung des Internet oder des Handy. Zuvor kam der stetige Wandel von außen: zwei, drei Jahre schlechte Ernte, eine Pestepidemie oder der Einfall fremder Völker in die geliebte Heimat änderte alles für die betroffenen Gemeinschaften.
Aber die Wissensexplosion, die Tatsache, dass unser Wissen sich alle paar Jahre verdoppelt und damit alles immer schwieriger zu durchschauen ist, weswegen wir immer mehr von Experten abhängig sind?
Vergessen wir nicht ebenso viel, wie wir dazu lernen? Wer kann heute schon noch einen Strumpf stopfen, ein Tier erlegen, wer kann noch das Lied von der Glocke aufsagen? Brauchen wir nicht mehr, haben wir vergessen. Und wer ist überhaupt "wir" - wessen Wissen verdoppelt sich? Meines? Das eines Durchschnitts-Deutschen? Das "der Gesellschaft"?
Von Weitem sieht alles einfach und gleichförmig aus
Vom großen Mythos des sich ständig beschleunigenden Fortschritts, der alles immer komplexer macht, bleibt beim genauen Hinsehen nichts übrig. Die Einbildung, wir würden in ganz besonders dynamischen Zeiten leben, hat große Ähnlichkeit mit der Ansicht, dass "die Chinesen" oder "die Japaner" oder "die Afrikaner" irgendwie alle gleich aussehen, kaum zu unterscheiden sind.
Aus der Entfernung und bei mangelnder Vertrautheit sieht alles irgendwie gleich aus, feine Unterschiede verschwinden, können nicht bemerkt werden - vor allem, wenn das Fremde nach den Maßstäben des Vertrauten beurteilt wird. Schaut man genauer hin, dann war das Leben unserer Vorfahren genauso komplex, genauso schnelllebig, genauso riskant wie unseres. Vielleicht leben wir sogar in besonders ruhigen, stabilen Zeiten. Aber wer will sich schon eingestehen, dass während der eigenen Lebenszeit nichts Dramatisches passiert ist, dass das Leben früherer Generationen viel aufregender und veränderlicher war?
Jeder Komplexitätssteigerung steht auch eine Vereinfachung gegenüber
Natürlich erhöht jede gesellschaftliche Veränderung und jede Erfindung auf einem bestimmten Gebiet die Komplexität, macht die Welt irgendwie verwirrender. Dem steht aber immer auch eine Vereinfachung gegenüber. Das Automobil ist dafür ein schönes Beispiel: Die stinkenden, lärmenden Wagen machten den Menschen natürlich Angst, und sie waren auch gefährlich. Die Autos veränderten den Alltag aller Menschen der westlichen Welt dramatisch, egal, ob sie selbst zu Autofahrern wurden oder dem Lärm, dem Gestank und den Gefahren der automobilen Zeit nur ausgesetzt waren.
Man konnte mit einem Auto weiter reisen als mit einer Kutsche, aber die Technik war gegen die schlechten Straßenverhältnisse auch anfälliger. Der Ausweg war der Bau glatter, fester Straßen, die auch für die Kutschen-Benutzer das Reisen einfacher machten, und die Abtrennung gesonderter Zonen für Fußgänger und Fahrzeuge. So wurde es unterm Strich auch wieder einfacher, sich auf den Straßen zu bewegen.
Jede technische Revolution seit dem Buchdruck hatte unmittelbar Auswirkungen auf den Alltag aller Menschen, nicht nur der Eliten. Auch in der Durchdringung des Alltags stellen die Erfindungen der letzten Jahre keine Ausnahme dar. Die Anbindung eines Ortes an das Straßen- oder Schienennetz, die Existenz auch nur eines Telefons oder eines Radioempfängers im Ort änderte alles für die Menschen, schaffte Verwirrung, führte dazu, dass junge Leute in die Stadt zogen und ältere zurück blieben, dass abgelegene Gegenden in den Bergen plötzlich Touristenzentren wurden. Solche sprunghaften Veränderungen mussten auch unsere Vorfahren meistern, das ist kein Privileg unserer Zeit. Für sie kamen aber auch noch Gefahren aus Veränderungen hinzu, die wir uns heute kaum noch vorstellen können: Ein Stadtbrand, eine Krankheits-Epidemie, der Tod des Königs oder des örtlichen Grafen, herumziehende Räuber, Nachbars-Fehden.
Der Urwald, in dem sich unsere frühen Vorfahren zurecht finden mussten, wäre für die meisten von uns eine hochkomplexe, kaum zu bewältigende Herausforderung, die Vielfalt der Sinneseindrücke und Ereignisse, deren Gefährlichkeit wir nicht beurteilen könnten, würde uns überfordern. Wir haben uns die Welt im Laufe der Zeit radikal vereinfacht, und haben uns gleichzeitig neue Komplexität geschaffen, deshalb sprechen wir heute auch gern vom Informationsdschungel. Man kann sagen, jedes Zeitalter hat seinen Dschungel, aber auch seine ruhigen, überschaubaren Ecken.
Wem nützt es?
Aber warum wird der Mythos von der zunehmenden Komplexität gerade heute so gepflegt? Wem nützt es, wenn wir uns einreden, dass unsere Welt sich so dramatisch wandelt wie zu keiner Zeit zuvor?
Die Antwort auf diese Frage findet man, wenn man weiter fragt: Was wird mit diesem Mythos gerechtfertigt? Die Erfindung ständig neuer Gesetze, die Verkomplizierung und Aufblähung der bestehenden Gesetzeswerke bis hin zum Grundgesetz, das einmal ein schönes schlichtes Werk voller klarer Grundsätze war und das heute zum bürokratischen Monstrum mit Hintertüren und Ausnahmeregelungen mutiert. Und in den konservativen Blättern wie Merkur und FAZ wird ganz offen darüber diskutiert, ob die Bindung des Staates an das Recht eigentlich noch zeitgemäß ist, wo sich doch vorgeblich die Welt so schnell ändert, dass der Gesetzgeber mit seinen langsamen demokratischen Prozessen gar nicht mehr hinterherkommt.
Gleichzeitig schürt so ein Mythos natürlich die Angst. Wer glaubt, dass nichts mehr sicher ist, dass wir in einer ganz besonders unsicheren Zeit leben, der fühlt sich eben verunsichert. Wenn da wirklich mal was Neues auftaucht, wenn Piraten, die keine Angst vor Facebook und Smartphones haben, sich anschicken, die Parlamente zu entern, dann ist man froh, dass sich konservative Politiker dagegen stemmen, dass sie in dem angeblich so dramatischen Wandel auf der Bremse stehen und vor der bösen neuen Welt warnen und neue Gesetze und Kontrollen erfinden, die Anker im Sturm sind. Die Warnung vor dem Sturm, der angeblich an den Fenstern rüttelt, verhindert, dass die Fester aufgeschlagen werden und endlich ein bisschen frische Luft hereinweht.
Der Sturm ist ein Mythos. Genauer gesagt, er hat schon immer geweht, er ist der Wind, den schon Walter Benjamin beschrieb, der vom Paradies her weht und den "Engel der Geschichte" vor sich her treibt. Nichts deutet darauf hin, dass er zur Zeit stärker bläst als vor Jahrzehnten oder Jahrhunderten, auch wenn eine politische Bürokratie, die ihre Existenzberechtigung mit dem Sturm rechtfertigt, vor dem sie uns schützen oder durch den sie uns sicher bringen will, uns etwas anderes einreden will.