"Der Öffentlichkeit werden wichtige Erkenntnisquellen vorenthalten"
Seite 2: Die Dokumentation des Handelns der Regierungsbürokratie ist das Gedächtnis der Demokratie
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Selbst der Präsident des Bundesarchivs scheint mit der Situation nicht zufrieden zu sein. Sie führen in Ihrer Stellungnahme ein Schreiben von ihm an Frau Weber an. Darin heißt es: "Dass schließlich immer wieder amtliche Dokumente nicht an das Bundesarchiv abgegeben werden, sondern in die privaten Papiere von Politikern und Spitzenbeamten gelangen und mit diesen z.B. an die Archive der Parteien übergeben werden, beklagt auch das Bundesarchiv. Wiederholte Versuche, der 'Privatisierung' amtlicher Unterlagen entgegenzuwirken, sind jedoch alle gescheitert. Es ist, wie Sie selbst feststellen, das zentrale Anliegen des Bundesarchivs, die Unterlagen der Bundesregierung, der Bundesverwaltung und wichtiger Verbände und Persönlichkeiten zu sichern und der Benutzung allgemein zur Verfügung zu stellen. Die wissenschaftliche Auswertung ist Aufgabe der Forschung und der interessierten Öffentlichkeit."
Diese Zeilen stammen aus dem Jahr 2010. Nochmal die Frage: Wie kann es sein, dass die Rechtsprechung sich so schwer damit tut, sich mit dem Sachverhalt ausreichend auseinanderzusetzen?
Dieter Deiseroth: Die unzureichende Gesetzeslage hat der Gesetzgeber zu vertreten. Aber auch das Bundesarchiv hat bisher nicht genügend unternommen, seinen Anspruch auf Übergabe archivierungswürdiger Akten durchzusetzen.
Auch die zuständigen staatlichen Stellen, denen die Akten durch Amtsträger (z.B. durch Staatssekretär Globke oder den staatlichen Verhandlungsführer Hermann Josef Abs) entzogen wurden, haben bisher nichts oder jedenfalls wenig unternommen, die Herausgabe dieser archivierungswürdigen Unterlagen gegenüber den Privatpersonen und Stiftungen durchzusetzen, bei denen sich die "privatisierten" Akten und Dokumente tatsächlich befinden. Aber auch die Strafverfolgungsbehörden haben die strafrechtliche Seite dieser Vorgänge zumeist nur unzureichend untersucht und die erforderlichen Ermittlungen nicht durchgeführt.
Eine über Jahrzehnte eingefahrene Praxis zu korrigieren, hat sich die Rechtsprechung bisher nicht hinreichend zugetraut. Das zeigen gerade auch die ergangenen Urteile in den Verfahren, die dem aktuell vor dem Bundesverfassungsgericht anhängigen Verfassungsbeschwerdeverfahren vorausgegangen sind.
Sie schreiben in der Stellungnahme auch - und Sie haben das auch in diesem Interview erwähnt -, dass es bei dem Zugang zu Akten um "zentrale Fragen von großem öffentlichen Interesse" gehe. Können Sie das erläutern?
Dieter Deiseroth: Im Bereich der historischen Forschung kommt den öffentlichen Archiven und damit auch dem Bundesarchiv eine zentrale Bedeutung insbesondere für die Forschungs- und Wissenschaftsfreiheit sowie die Pressefreiheit zu. Denn der Archivzugang ermöglicht erst die wissenschaftliche und die journalistische Aufarbeitung des Archivguts, worauf die allgemeine Öffentlichkeit und damit die Bürgerinnen und Bürger in besonderem Maße angewiesen sind.
Die Öffentlichkeit wird aber dieser Möglichkeit beraubt, wenn brisante Akten ihr erst gar nicht zugänglich gemacht werden.
Dieter Deiseroth: Das ist ja der Knackpunt. Diese Aufarbeitung muss insbesondere auch brisante und kontroverse historische Geschehnisse umfassen. Staatsarchive und damit auch das Bundesarchiv sind, anders als in vor-demokratischen Verfassungsepochen, nicht mehr eine Art behördeninternen Registratur oder bloße Sachmittel der Verwaltung, die der Öffentlichkeit vorzuenthaltende Dienst- oder Staatsgeheimnisse hüten.
Staatliche Archive sind in einem demokratischen Verfassungsstaat vielmehr Informationsträger und Informationssammelstellen, die in einem auf öffentliche Kommunikation angewiesenen demokratischen Gemeinwesen eine wichtige Funktion haben. Eine Archivierungspraxis, die einer Forscherin oder Journalistin nach dem Archivrecht archivierungswürdige Dokumente vorenthält, beeinträchtigt die historisch-kritische Aufarbeitung auf einem wichtigen Feld. Ein ausscheidender Bundeskanzler, Minister oder Staatssekretär oder ein staatlicher Verhandlungsführer müsste brisante Dokumente nur mit "nach Hause" nehmen oder an ein privates Archiv abgeben, dann laufen archivrechtliche und sonstige Zugangsregeln ins Leere. Eine solche Flucht aus den Zugangsmöglichkeiten des Archivrechts hinein in eine Grauzone der Informationsunterdrückung bietet die Möglichkeit, die Forschungs- und die Pressefreiheit in einem wichtigen Bereich großflächig auszuhebeln.
Was erwarten Sie denn nun vom Bundesverfassungsgericht?
Dieter Deiseroth: Das Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht bietet die Chance, die thematisierten Lücken und Defizite der bestehenden archivrechtlichen Regelungen öffentlichkeitswirksam auf den Prüfstand zu stellen. Es muss geklärt werden, ob insoweit eine legislative Nachbesserungspflicht für den staatlichen Gesetzgeber besteht.
Das Bundesverfassungsgericht kann mit einer die Grundrechte der Forscher und Journalisten sichernden Entscheidung aber auch die staatlichen Behörden und die Fachgerichte zu einer verfassungskonformen Auslegung und Anwendung der relevanten Bestimmungen des Bundesarchivgesetzes anhalten, damit die Privatisierung archivierungswürdiger Akten, Unterlagen und Dateien nicht weiterhin für Rechtsbrecher folgenlos bleibt. Bei den Akten und Dateien in Ministerien und im Bundeskanzleramt handelt es sich nicht um die Notizen und Belege von einer privaten Familienfeier. Es geht um die Dokumentation des Handelns der Regierungsbürokratie. Diese gehört nicht der Regierung oder ihren Beamten, sondern der Gesellschaft. Diese Akten und Dateien sind das Gedächtnis der Demokratie.