Der Ontologe rät
Warum Bioinformatiker jetzt auf Aristoteles zurückgreifen
Vorneuzeitliche Metaphysik ist von besonderem Nutzen in der Informationswissenschaft. Denn sie ist näher am Alltagsverstand orientiert ist als heutige wissenschaftliche Klassifikationssysteme es sind. Und ihre formalen Grundbegriffe sind zuweilen besser als Struktur für Datenbanken geeignet als die Axiome moderner Logik. Deshalb greift das Leipziger IFOMIS für die Erarbeitung von Programmen, die in der biomedizinischen Forschung, der ärztlichen Behandlungspraxis und der Seuchenprävention via Datenanalyse zum Einsatz kommen sollen, auf Aristoteles und Thomas von Aquin zurück.
Platon ist der berühmteste Lehrer des Aristoteles. Aber Aristoteles ist ein undankbarer Schüler. Zu den Dingen nämlich, die man noch heute von Aristoteles lernen kann, gehört die Anfechtung eben dieser bekannten Tatsache. Zumindest behauptet Aristoteles, dass das Wörtchen "ist" in dem Satz "Platon ist der berühmteste Lehrer des Aristoteles" irreführend sei. "Platon" und "der berühmteste Lehrer des Aristoteles" seien nicht identisch. Ärger noch: Aristotelisch betrachtet, existiert der "berühmteste Lehrer von Aristoteles" gar nicht. Denn diese Beschreibung, das lehrt Aristoteles, verweist auf kein Objekt mit eigenem Wesen, also nicht auf Platon, sondern auf ein quasi zufälliges Gemenge von Berühmtheit und Lehrtätigkeit.
Knotenpunkte im Netz der Realität
Hinter dieser Behauptung, die sich für den heutigen Leser etwas merkwürdig ausnimmt, steckt System. Aristoteles lehnt es nämlich ab, sich nach inzwischen zum common sense gewordener nominalistischer Lesart Gegenstände als unabhängig von ihrer Bezeichnung vorzustellen. "Platon" und "der berühmteste Lehrer" sind für Aristoteles nicht nur verbale Ausdrücke, die auf unabhängig von diesen Begriffen (und unabhängig von Begriffen überhaupt) Existierendes verweisen. Aristotelisch gedacht, verhält es sich genau anders herum: die Begriffe, und nicht die Dinge "hinter den Begriffen" sind das, was wahrhaft die Realität konstituiert.
Bislang ist dergleichen abstrus anmutender Lernstoff bislang fast ausschließlich für Philosophiehistoriker von Belang gewesen. Nun greift ausgerechnet die Informatik darauf zurück - und zwar das 2002 an der Universität Leipzig gegründete Institut für formale Ontologie und Medizinische Informationswissenschaft (IFOMIS), das seit September 2004 an der Universität des Saarlandes beheimatet ist und von der Volkswagenstiftung gefördert wird.
Das Problem des "berühmtesten Lehrers von Aristoteles" ist unmittelbar relevant für die so genannte Gene Ontology. Gene Ontology ist ein Versuch, zum Zwecke der Erstellung von Computer-Datenbanken kontrollierte Vokabulare von Begriffen zu entwickeln, die von Biologen verwendet werden, um Zellbestandteile, biologische Prozesse und molekulare Funktionen zu beschreiben. Die betreffenden Begriffe sind durch die Einteilung in Klassen und Unterklassen hierarchisch organisiert und miteinander verbunden.
Bei der Darstellung dieser Begriffe und Begriffsrelationen in einer für Computer und Softwareprogrammierer verständlichen Logik sind, wie Barry Smith, der Gründer und Leiter des IFOMIS im kürzlich erschienenen Blackwell Guide to the Philosophy of Computing and Information (Blackwell 2004) schreibt, gerade die als überholt geltenden Aspekte der aristotelischen Metaphysik eine besondere Hilfe.
Wie man ein Klassifikationssystem baut
Was Aristoteles nämlich vor zweitausend Jahren über "echte" und "unechte" Wesenheiten behauptet hat, trifft auf eine bioinformatische Datenbank-Welt, deren dingliche Bestandteile in der Hauptsache aus Knotenpunkten in Klassifikationssystemen bestehen, größtenteils zu. "Berühmte Lehrer von Aristoteles" sind ebenso ungeeignet wie "Eltern", "Entwicklungsprozesse" oder "Katalysatoren", um als solche Knotenpunkte zu fungieren. Nur jene Allgemeinbegriffe kommen für diese Funktion in Frage, die zugleich Klassen sind - und zwar biologische Klassen.
Generell zahlt es sich aus, bei dem Aufnahmeverfahren für die Mitgliedschaft in der Elite-Entität "Klasse" rigoros vorzugehen. Der Gebrauch von Allgemeinbegriffen, die keine Klassen sind, führt leicht zu falschen Schlussfolgerungen: Im Jahre 427 vor Christus wurde zwar in Athen ein Junge Namens "Platon" geboren. Aber es ist verfehlt, daraus den Schluss ziehen zu wollen, dass damit auch bereits der "berühmteste Lehrer von Aristoteles" auf die Welt gekommen ist - denn als solcher war Platon im Jahre 427 noch nicht bekannt. Solche Komplikationen werden vermieden, wenn man jenen Dingen, über die Aristoteles zufolge kein "Wissen" möglich ist, von vornherein einen Posten im Knotenpunkt-Netz eines Begriffssystems verweigert.
Das Problem unscharfer Beschreibungen
Ein weiterer Vorteil der aristotelischen Metaphysik oder "Ontologie", wie man seit dem siebzehnten Jahrhundert sagt, ist, dass sie mit den konkreten Relationen von Objekten in bestimmten Gegenstandsbereichen stärker verbunden ist als das formalisierte Grundgerüst heute gebräuchlicher Logik. Dazu gehört auch die Ausrichtung auf den Mesokosmos: auf jenen Bereich von Gegenständen und Lebewesen mittlerer Größe also, der das Hauptspektrum unseres alltäglichen Erfahrungsbereiches ausmacht.
Dies ist für die Zwecke des IFOMIS insofern von Belang, weil ein Großteil medizinischer Dokumente und 98 Prozent aller elektronisch verfügbaren Informationen überhaupt in natürlicher Sprache verfasst sind. Deren Bestimmungsschlüssel wie "blumenkohlartig", "geschuppt", "krustig", "blassrosa" oder "herdförmig" sind nicht zufällig unscharf; ihre Inexaktheit gehört zu ihrem Wesen. Bei dem Versuch, die bezeichneten Gegenstände scharf zu definieren, haben sie die Tendenz, einfach zu verschwinden - wie zum Beispiel der Fuß eines Berges, von dem man nie sagen kann, wo er sich eigentlich befindet.
Ontologien für jeden Zweck
Um mit solcherart Begriffen umzugehen, arbeiten Smith und seine Kollegen bereits an einer Vielzahl von Fachontologien. Auf einigen Gebieten hat Aristoteles bereits Vorarbeit geleistet mit Überlegungen über Orte (Physik IV), Sessel (De Partibus Animalium I, 1) und Stülpnasiges (Metaphysik VI, 1). Weiter geht es heute mit der Ontologie von Landschaftsformen,, wie sie Smith in dem Aufsatz Do Mountains exist? erörtert hat, oder Löchern, die Roberto Casati und Achille C. Varzi schon 1994 in ihrem Buch Holes and Other Superficialites (MIT Press) entwickelten, mit Embryontologie und der Ontologie von Blutdruck, Recht oder Ökonomie.
Ein Teil dieser Arbeiten ist eingebettet in das internationale Projekt WonderWeb zur Entwicklung informationswissenschaftlicher Basisontologien. Darüber hinaus ist das IFOMIS eine Kooperation mit der belgisch-amerikanischen Firma Language & Computing eingegangen - einem Unternehmen, das mit Hilfe computergestützter Textverarbeitung Problemlösungen in den Bereichen der Gesundheitsversorgung und des pharmazeutischen Marktes anbietet und dieses Angebot auch auf andere Gebiete und Industrien ausdehnen möchte.
"Mit großer Freude", sagt Werner Ceusters, Direktor von Language & Computing, hätte er es zur Kenntnis genommen, das die Wissenschaftler vom IFOMIS sich nicht fürchteten, "notfalls vom Hauptstrom der Forschung abzuweichen." Zu diesem Zweck hat das IFOMIS bis vor kurzem sogar einen amerikanische Thomas von Aquin-Forscher beschäftigt: Michael Gorman von der Catholic University in Washington, DC war als Stipendiat der Alexander von Humboldt-Stiftung in Leipzig zu Gast. Mit Überlegungen zur Revision der Kategorien von Wesen und Substanz hat er das Seinige zum Fortschritt der Medizininformatik beitragen - als dankbarer Schüler des Aristoteles.