Der Retro-Kick des Interaktiven
Das European Media Art Festival 2000 kämpfte unter dem Motto "//now/future:" mit den Schatten der Medienkunst-Vergangenheit.
Dass die Zukunft jetzt ist oder gar schon längst begonnen hat, ist mittlerweile eine ebenso leere rhetorische Krücke wie die ewige Semantik vom Neuen. Fest steht: Unter dem Titel "//now/future:" legte das European Media Art Festival 2000 den Turbo-Rückwärts-Gang ein, und unter dem Kongresstitel "New Digital Formats" wurde etwa alles mögliche präsentiert, nur keine neuen digitalen Formate.
Das Blut der Tastaturen
Ein viel zu heißer Abend in der Altstadt von Osnabrück; Tatort ist der Vorplatz zum Haus der Jugend: Junge Performer werfen Computertastaturen von der Empore und versuchen sich gleichzeitig in wenig clowneskem Slapstick. Die Besuchermenge pilgert in der Folge zu insgesamt vier Schauplätzen im und rund ums Haus der Jugend. Jessica Levy, Sean Tuan John und Bernd Terstegge urinieren in ihrer Performance "Med Machine", stechen auf Computer ein, die mit Ketchup bluten, aromatisieren Innenhöfe mit Deo-Sprays. Der Computer als bereits historisches Artefakt, Mensch-Maschine-Erotik und Psycho-Wahnsinn mit und durch Computer: Ja, das hat wohl was von Sechziger-Jahre-Aktionismus, von Performance Art und Fluxus, von (strukturiertem) Chaos, Wildheit und Devianz. Und dennoch lässt die Aktion erstaunlich kalt. Zu oft hat man so etwas schon gesehen. Die Performance "Med Machine" beschreibt sich selbst zwar als "ein erotisches Labor, in dem Images aus dem Medizin-, Wissenschafts-, Technologie- und Sado-Maso-Bereich sowie alte Computer spektakulär dekonstruiert werden". Doch da war nur höchst wenig spektakulär, und nichts berührt heute weniger als die vielzitierten Dekonstruktionen.
Der Noise der Turntables
Der eigentliche "Event"-Höhepunkt des diesjährigen European Media Art Festivals war jedoch die "Veejay Groove"-Party als Teil eines größeren Party-Netzwerks, das sich von Amsterdam über Wilhelmshaven bis Berlin erstreckt. Auch hier war etwas übertrieben die Rede von einem "Trend, der sich in den Clubs der Metropolen immer deutlicher herauskristallisiert: Die Ausweitung der Clubkultur zu multimedialen Erlebnisräumen" (aufgehängt auf den VJs Art Jones und Philipp Virus, siehe Programmheft). Freilich haben Multimedia-Bands wie etwa "Station Rose" das schon vor zehn Jahren gemacht, und das Spannende ist wohl eher, dass und wie Audiovisualität im Post-Techno- und Post-Rave-Kontext heute wiederkehrt.
Was DJ Spooky (New York) und Alec Empire (Berlin) mit ihren Turntables und Samplern anstellten, hat weit mehr mit Old-school-Industrial-Noise zu tun als mit sich gegenwärtig ausdifferenzierenden Clubsounds. Nicht umsonst hat DJ Spooky ja auch unlängst den Dialog mit dem japanischen Großmeister des Industrial-Noise, mit Merzbow, gesucht. Es ist freilich immer noch eine Provokation und einfach cool, knapp eine Stunde lang großteils arhythmischen, brutal collagierten Sound-Clash zu produzieren und die tanzwillige Masse der mehrheitlich Feel-Good-Orientierten mit spastischen Verrenkungen (mehr geht nicht zu diesem ‚Beat'), gequälten Ohren und Herzrhythmusstörungen in der Sound-Druckkammer leiden zu lassen, aber neu ist das nicht. Und die Verbindung mit Visuals, mit Cut-Ups, Found Footages und Computeranimationen - wer würde die als neu oder gar als Trend bezeichnen? Aber: Das Party-Feeling hat gepasst, und es gab für die Zartbesaiteten ja auch versöhnliche und wirklich groovende Acts.
Der K(l)ick des Interaktiven?
Performance Art und Industrial Culture: Das waren nur zwei Retro-Stränge, die auf dem European Media Art Festival zu identifizieren waren. - Die Installationen boten hingegen großteils das, was der gelangweilte Ars-electronica-Besucher seit Jahren kennt: Brave interaktive Klickspiele, bei denen das staunende "Ui!" ob der funktionierenden Kausalität wohl nur noch Schulklassen vorbehalten ist.
Schön, wenn man im abgedunkelten Osnabrücker Stadtturm mit dem tollen Namen "Bürgergehorsam" mit einem Mausklick Himmelskörper am Plafond auf die Reise schicken kann ("Sternenhimmel" von Zhou Fei). Toll, wenn man durch Berühren eines pilzartigen Objekts ein Sound-Sample abrufen kann ("electric_shroom" von Antenne Springborn, offenbar frisch von "Sounds & Files" aus Wien nach Osnabrück verfrachtet). Und: Ganz ganz toll, wenn ein Buchstabenregen gemäß der Silhouette des Betrachterkörpers rieselt ("Text Rain" von Romy Achituv und Camille Utterbeck). Supertoll, dass dann auch genau die beiden letztgenannten Installationen den "OLB-Medienkunstpreis für die beste Video-, Computer- oder Multimedia-Installation des Jahres" erhalten haben.
Humor & Sex & Sinnlichkeit
Freilich hatte das EMAF auch Installationen zu bieten, die etwa sinnlich oder einfach nur gelungen humorvoll waren. Pierrick Sorin ist schon jetzt witziger als Mr. Bean, wenn er auf einer rotierenden Schallplatte als virtuelles Bild tanzt ("Titre Variable No2") oder beim Holzfräsen einen Ständer bekommt ("Coupe du Bois"), Reinhard Webers "Männlicher Akt, stehend" ironisiert nicht nur männlichen Sex-Appeal, sondern fusioniert auch mechanische und televisuelle Ästhetik höchst clever. Clemens von Wedemeyers Installation "Stromschneider" ist raumbezogener Minimalismus als echtes Mind Cinema. Besonders beeindruckend: "A Brief Flash" von Theo Lenders mit auf Ventilatoren projizierten (Toten-)Schädeln und Stimmen von Stephen Hawking und anderen, die dem Betrachter tatsächlich einen spürbaren Hauch vom metaphysischen Jenseits vermitteln. Humor, Sinnlichkeit, Erotik, Transzendenz und Räumlichkeit: Fluchtpunkte der Medienkunst, die auf dem EMAF zwar vertreten waren, aber eben nicht prämiert wurden.
"Jede/r sein/ihr eigenes Medium"
Genug zum Lachen gab es auch bei den großteils launig und interessant vorgetragenen Präsentationen des zweitägigen Kongresses, der sich unter der etwas rätselhaften Klammer "European Digital Visions" einen Tag den "New Digital Formats" und einen Tag dem "Körperschnitt & BodyScan" widmete. Bemerkenswert etwa das CD-ROM-Projekt "Past, Presence and Future of Media Art" von Yariv Alter Fin und Bastiaan Lips (alias Permanent Flux). Laurie Anderson, Siegfried Zielinski, Paul Garrin und Paul Evers sprechen hier über Medienkunst, und nebenbei wird auch gleich ein neuer Modus der textuellen Präsentation, der visuellen Darstellung der Protagonisten und des gesamten Oberflächen-Designs mitgeliefert. Weniger aufregend im Vergleich das Projekt "Teleweb" von "TV-Art.Net", ein Public-Access-Archiv. Jeder kann anrufen, jeder ein Video einsenden, "everybody is his own media", sagt David Guez. Das Gähnen kommt da wie von selbst.
Unter dem Titel "New Digital Formats" wurden hauptsächlich Web-TV-Projekte vorgestellt: Das Ponton Media Art Lab macht im Rahmen ihres "Kulturservers der Länder" ein Public-Access ‚TV-Radio', das Mars Lab im GMD macht mit "i2TV" etwas Ähnliches, und auch "TV-Art.Net" geht mit Teleweb in eine ähnliche Stoßrichtung. Fragt sich nur, wer sich diese Hundertschaften an mitunter recht fragwürdigen Kurzvideos, Sounds usw. eigentlich ansehen/hören soll. Anders gefragt: Was bringt es dem zum eigenen Medium avancierten Netznutzer zuhause, wenn er seine Ergüsse über diese Seiten ins Netz stellt? - Freilich kreiste die Podiumsdiskussion nicht um die Frage der generellen Sinnhaftigkeit dieser Initiativen, sondern um die klassischen, x-fach diskutierten beiden Themen: Was ist mit dem Copyright, und was ist, wenn ein böser Fascho und/oder Kinderschänder seinen Schmarrn ins Netz streamt?
"Von der Natur zur Tastatur"
Der Schweizer Kulturphilosoph Gerhard Johann Lischka hat dieses Jahr den Versuch gewagt, die ‚alte Garde' der Mediendenker nicht mehr einzuladen und stattdessen ganz auf "Youngsters" zu setzen. Er bat die Wiener Medientheoretikerin und -künstlerin Ursula Hentschläger (Schwester von Elisa "Station" Rose und Kurt "Granular Synthesis" Hentschläger), die Linzer Medienkunst-Expertin und ehemalige Ars-electronica-Mitorganisatorin Katharina Gsöllpointner, den Innsbrucker Medienkünstler und -theoretiker Thomas Feuerstein und den Salzburger Medienwissenschaftler Stefan Weber (Autor dieses Berichts) zum Symposium "Körperschnitt & BodyScan", das hier aus Gründen des Autologie-Problems (der Rezensent als Bestandteil des Rezensierten) nicht weiter besprochen werden kann. Der diskutierte Fluchtpunkt - Unsterblichkeit: ja oder nein? - war ohne Zweifel spannend und weitere Auseinandersetzungen wert, Thomas Feuersteins Wort-Akrobatik ("von der Ontologie zur Onkologie", "von der Natur zur Tastatur") wieder einmal eine Klasse für sich.
... und von der Tastatur zur Makulatur?
Das European Media Art Festival 2000 hinterlässt in Summe einen höchst ambivalenten Gesamteindruck. Die anvisierte Zukunft entpuppte sich eher als Vergangenheit, die Auswahl mitunter als recht kontingent (230 ausgewählte Produktionen von rund 1500 Einreichungen, heißt es im Katalog). Das grundsätzliche Dilemma der Medienkunst (‚Wen kümmert's noch?') scheint mehrere Dimensionen zu haben: Einerseits führt die Zunahme an Netzkunst dazu, dass sich Festivals sukzessive selbst überflüssig machen. Die Ars electronica hat es mit "openX" bereits demonstriert, dass sich dann nur noch ein inner circle der Webdesigner, Programmierer usw. trifft. Netzkunst lässt sich de facto nicht raumzeitlich präsentieren, und dies wäre ja auch ein Widerspruch in sich. Zweitens ist es der Medienkunst und -theorie im vergangenen Jahrzehnt offensichtlich nicht gelungen, neue, junge Publikumsschichten zu begeistern. Von im Schnitt rund 50 Besuchern des Kongresses erkannte der Rezensent, den es seit genau zehn Jahren alljährlich auf die Ars electronica verschlägt, mindestens 15 als altbekannte Dauergäste ebendieser. Kongresse und Festivals mutieren zu Klassentreffen von (eingeladenen) Künstlern, Wissenschaftlern und Journalisten - doch wo bleibt die ‚Welt da draußen'?
Ja, diese Frage klingt sehr unkonstruktivistisch. Deshalb muss auch dieser Artikel mit einem erkenntnistheoretischen Problem enden: Wer feststellt, dass die Dinge (und auch die Kunst) immer langweiliger werden (Armin Medosch hat das für das EMAF 1998 konstatiert, ich wollte eigentlich eine Gegenrede schreiben, wurde aber eines Besseren belehrt), der ist mitten im Realismus/Konstruktivismus-Problem: Wird die Kunst wirklich immer langweiliger, weil die Künstler immer weniger zu sagen haben (nebst anderen Gründen), oder fühlt sich der Rezensent immer gelangweilter, weil er immer weniger zu sagen hat (nebst anderen Gründen)? Oder stimmt beides und führt in einer unheilvollen Möbiusschleife nach unten? Was müsste man tun: jährlich ganz andere Künstler, Referenten oder Rezensenten einladen, oder alles zusammen? Müssten die Festivalleiter in kürzeren Intervallen ihren Job wechseln? - Wie dem Redundanz-Effekt entgegentreten?
Der Rezensent war dieses Jahr zum ersten Mal auf dem European Media Art Festival. Der Versuch, unvoreingenommen und mit einem ‚frischen Blick' auf die Dinge zuzugehen, hat erst recht wieder zu Kritik und großer Skepsis geführt. - Ich habe keine Lösung für das Redundanz-Problem anzubieten, wer hat sie?
Dr. Stefan Weber, geboren 1970, ist Medienwissenschaftler und freier Journalist in Salzburg, derzeit Forschungsassistent an der Lehrkanzel für Kommunikationstheorie der Universität für angewandte Kunst in Wien (Prof. Manfred Faßler) und Lehrbeauftragter am Institut für Kunstwissenschaft der Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe.