Der Ritter in Weiß vs. Darwin und Chomsky
Anmerkungen zum letzten Buch von Tom Wolfe: "Das Königreich der Sprache"
Um mit dem Weißen Anzug zu beginnen. Er war ursprünglich das Markenzeichen des amerikanischen Literatur-Phänomens Mark Twain. Twain, hart an der Grenze zur finanziellen Pleite, war Jahre lang um die ganze Welt getourt und hatte in ausverkauften Sälen das Publikum zum Lachen gebracht. Der Mann im weißen Anzug, der dort auf der Bühne stand - das war Mark Twain. Leicht zu identifizieren. Wenn man ihn fotografierte, zog er den weißen Anzug an. Einen frischen. Angeblich besaß er mehr als nur einen, nämlich 14 Stück, und jeden Tag zog er einen neuen an.
Schließlich gab es Unterarm-Schweißflecken, Frühstücksei, Zigarrenasche und Missgeschicke anderer Art, die dem Mythos der weißen Reinheit und reinen Weißheit abträglich waren. Aber anders als bei einem arabischen Scheich gab es nicht ganze Trupps unsichtbarer Waschweiber, die ihm seine weißen Jalabiyas ständig reinigten und bügelten.
Manche Celebs - Berühmtheiten unserer Zeit - folgten später in Twains Fußstapfen. Johnny Cash beispielsweise wurde zum "Man in Black", was genauso wirksam, aber wesentlich billiger war. Alfred Hitchcock versuchte, stets das gleiche Image zu vermitteln - aber sein Gewicht tendierte zu starken Schwankungen. Also hingen in seinem Kleiderschrank 59 verschiedene Größen des stets gleichen Anzugs. Als Tom Wolfe in den Sixties damit begann, sich immer nur in Weiß zu kleiden, hatte man Fototermine öfter als nur dreimal im Jahr. Die Imagepflege wurde aufwändiger - und der Autor musste hart daran arbeiten, dass er nicht wie ein Malermeister oder Labortechniker im weißen Kittel aussah. "Dapper" - immer elegant gekleidet - war denn auch das Wort, das den Nachrufschreibern zu Tom Wolfe als erstes einfiel, als er jetzt verstarb.
Der King im weißen Anzug war und blieb aber natürlich Twain. Als er 1910 das Zeitliche segnete, verfügte er, dass seine Autobiographie, an der er bis dahin ca drei Jahre lang geschrieben und diktiert hatte, erst in 100 Jahren veröffentlicht werden dürfte. Man bedenke einmal, welche Berühmtheiten es damals in Amerika gab, allein schon in der Literatur. Alles Leute, nach denen heute kein Hahn mehr kräht. Aber als Twains Autobiographie - ein dicker Wälzer in drei Bänden - pünktlich im Jahr 2010, zum 100. Todestag des Autors im Druck erschien, stand das Trumm prompt auch schon an erster Stelle auf der Bestseller-Liste der New York Times. Das muss ihm erstmal jemand nachmachen, irgendwer, ein beliebiger Sterblicher.
Aber klar, dass Twain hier Klartext spricht. Rücksichtslos reißt er das Tischtuch der Konvention herunter und macht tabula rasa. Er nennt die Zeitgenossen, die ihm auf den Geist gingen, beim Namen, und weiß, dass er keine Prozesse mehr wegen übler Nachrede zu befürchten hat. Was für ein schönes Buch, was für ein wunderbares Gute-Nacht-Geschenk an die Nachwelt.
Tom Wolfe ist nun kürzlich im Alter von 88 Jahren gestorben, bereits so alt war er schon geworden. Man glaubte ja fast, der New Journalism sei erst vor ein paar Jahren erfunden worden, aber nein. Die Jahrzehnte sind an uns vorbei geflogen - und die Praktikanten dieser Stilrichtung (nicht Wolfe allein, sondern auch Truman Capote, Hunter S. Thompson und andere mehr) haben größtenteils bereits den Löffel abgegeben. Joan Didion gibt es noch.
Tom Wolfe blieb bis zuletzt, wie es schien, jugendlich frisch und sich selber treu. Eine Kratzbürste der amerikanischen Unangepasstheit. Sein letztes Buch "The Kingdom of Speech", deutsch: "Das Königreich der Sprache", erschien, wie ein letzter böser Kommentar, rechtzeitig zu seiner Beerdigungsfeier.
Aber Wolfe war doch etwas anders gestrickt als Mark Twain - ob mit oder ohne weißen Anzug. Politisch unterstützte er beispielsweise den jüngeren Bush, George W., den US-Präsidenten, den wir als Vorläufer von Obama noch in deutlicher Erinnerung haben. Und "Dubbya" seinerseits verkündete, er habe alles von Wolfe gelesen und bewundere ihn sehr. (Zitat bei Wiki.) Ich behaupte nicht, dass Bush des Lesens unkundig war, obwohl er oft genug diesen Eindruck zu erwecken wusste.
Aber es interessierte mich doch, bei dieser so öffentlich bekundeten Harmonie zwischen zwei konservativen Geistern herauszufinden, was den Autor bewogen haben mochte, in diesem einen Band ausgerechnet Charles Darwin und Noam Chomsky zusammenzuwerfen. Gilt doch einem substantiellen Anteil der US-Bevölkerung der Darwinismus als suspekt, bzw regelrecht als "des Teufels". Es gibt sogar fundamentalchristliche Gruppen, die Darwins "Ursprung der Arten" als Augenpulver in winziger, praktisch unentzifferbarer Schrift nachdrucken, jeweils mit eingestreuten tatsächlich lesbaren Kommentaren und "Widerlegungen" in großer Schrift.
Chomsky wiederum, ein Zeitgenosse Wolfes, der soeben auf die 90 zugeht, gilt heute international als der bedeutendste amerikanische Intellektuelle schlechthin - und zwar, für amerikanische Verhältnisse ungewohnt, als Linksintellektueller. Was es in der abgeschotteten Medienwelt der USA bedeutet, politisch eine linke Position zu vertreten, hat Chomsky so beschrieben: Es sei völlig unmöglich, wenn er beispielsweise auf CNN interviewt würde, dass ihn irgendjemand verstehen könnte, es müsste seinem Publikum regelrecht so vorkommen, als wäre er ein Besucher vom Mars.
Es war klar, dass Wolfe - der für seine Bücher teilweise Vorschusshonorare in mehrfacher Millionenhöhe kassierte und dessen Auflagen nicht selten noch vor Verkaufsbeginn bei über einer Million Exemplaren lagen - die Erwartungen seines amerikanischen Publikums von Anfang an erfüllen musste. D.h., er musste diese beiden Autoren, Darwin und Chomsky, die in etwa so viel gemeinsam haben wie Käse und Kreide, trotzdem durch den gleichen Fleischwolf jagen - bzw. durch irgendeinen Dreck ziehen.
Und in der Tat: Wolfe beginnt damit, dass er uns drei Dinge über Darwin mitteilt. Erstens stellt er ihn vor als typischen Vertreter der britischen Upper Class, als einen Mann von ererbtem Reichtum, der selber Zeit seines Lebens keinen Handgriff tun musste, um sich und seiner Familie den Lebensunterhalt zu verdienen. Zweitens erscheint Wolfe Darwins längere Schiffsreise an Bord der "Beagle" - deren literarischer Niederschlag seinen Ruhm als Naturbeobachter und Biologe begründete - gerade mal ein Zitat wert. Dafür hören wir, drittens, ausführlich von Darwins Gesundheitsproblemen, dem mehrfachen täglichen spontanen Kotzen und unablässigen Furzen. Tom Wolfe, der Star-Autor in New York, Freund des US-Präsidenten, kann an dieser Stelle keine medizinische Koriphäe ans Telefon kriegen, stattdessen mutmaßt er selber, dass Darwins lebenslanges Leiden einfach nur ein Fall von Hypochondertum gewesen sein muss.
Der bibeltreue amerikanische Leser versteht aber natürlich sofort, dass der Erfinder der Evolutionstheorie von Anfang an eine Art Linda Blair aus "The Exorcist" gewesen sein muss, der dringend der Hilfe eines Max von Sydow bedurfte.
Schnitt, Szenenwechsel. Altertümliche Irisblendenöffnung auf einen britischen Unterklassenhund namens Alfred Russel Wallace - in der nur halb so romantischen Welt von "Insulinde" - dem "land van den orang-oetan en den paradijsvogel", wie seine holländischen Kolonialbesitzer es nennen. Wallace verdient sich hier mühsam eine prekäre Existenz als Artefaktensammler oder "Fliegenfänger", wie Wolfe es nennt - zwischen Timor, Neuguinea, Java, Sumatra, Borneo - was bei Wolfe wahlweise als "Malay [es fehlt: Archipelago]" oder "Malaysia" erscheint, auch wenn der Großteil des Gebiets heute üblicherweise als Indonesien bezeichnet wird.
Aber egal. Wallace wird sich tatsächlich als ein Darwin ebenbürtiger Naturforscher erweisen. Zwanzig Bücher hat er geschrieben, 700 wissenschaftliche Artikel, von denen Wolfe nur aus einem einzigen ein paar Zeilen zitiert. In Borneo flachgelegt, von Malariaträumen geplagt, hatte Wallace das unlesbarste Buch der englischen Literatur - "Tristram Shandy" von Laurence Sterne - bereits fünf mal gelesen, als er sich entschloss, nun doch endlich seine Ideen zur Evolutionstheorie - wohlgemerkt: seine Entdeckung, die es bis dato in der wissenschaftlichen Literatur noch nicht gegeben hatte - aufzuschreiben, und diese handschriftliche Rohfassung an einen bekannten Biologen in England zu schicken - zufällig an keinen anderen als diesen besagten Darwin.
Darwin erkannte sofort, dass ihm hier jemand unmittelbar zuvorkommen würde, dass ihm seine eigenen Ideen bachab gehen würden, die ihm im Kopf herum rumorten, seitdem er damals die Finken beobachtete, die sich unabhängig von einander auf den verschiedenen Teilen der Galapagos-Inselwelt auseinanderevolviert hatten. Darwin würde nicht als Entdecker der Evolution gelten, sondern nur als ein Mitläufer, als Gewinner einer Silbermedaille - vielleicht auch nur Bronze, oder er würde gar, weit abgeschlagen, auf Platz vier landen.
Spannend, wie Wolfe hier minutiös den jetzt einsetzenden Prozess nachzeichnet. Wie Darwin und seine "Klassenkameraden" - seine wissenschaftlichen Oberklassen-Konsorten - zusammenarbeiteten, um den Parvenue Wallace hinauszudrängen, ihn zu übertölpeln. Ihm den Rang des Erstentdeckers abzuschneiden. Rein journalistisch gesehen allerdings keine Meisterleistung, denn Darwins Schriftverkehr ist heute, vollständig aufgeschlüsselt, online einzusehen.
Der nächste Schritt war dann, dass Darwin in Windeseile an diesem Punkt seinen "Ursprung der Arten" niederschrieb, einen 500-Seiten-Wälzer. Wobei er natürlich vermied, seine hier bereits feststehende Überzeugung auszudrücken, dass wohl auch der Mensch evolutionär entstand, dass er sich vom Orang Utan her weiter entwickelt hätte. Zu dieser Ansicht war Darwin einerseits bei einem Besuch im Londoner Zoo gelangt - und andererseits, als er die Bewohner von Feuerland kennenlernte, die nackt in den eisigen Fluren von Patagonien herumstanden. An dieser Stelle lohnt es, kurz einmal den Wiki-Eintrag über den Ethnologen Martin Gusinde und den kleinen Film über die Bewohner von Tierra del Fuego - "Feuerland" - kennenzulernen.
Wir sehen hier die Menschen von Tierra del Fuego, die "Fuegians", die wegen der eisigen Temperaturen ständig ein Feuer unterhielten und mitführten, in seltenen Filmaufnahmen des deutschen Ethnologen aus den Anfängen des 20. Jahrhunderts. Als Gusinde Anfang der 20er Jahre, nach dem Ersten Weltkrieg, nach Feuerland zurückkehrte, fand er nur noch eine Gräberwelt vor. Die Indianervölker waren von Goldsuchern und Missionaren innerhalb weniger Jahre fast vollkommen ausgerottet worden.
Darwin konnte, was ziemlich augenfällig ist, die Beschränktheiten seiner Epoche - den Rassismus des weißen Europäers - nicht einfach abschütteln. Er sah in diesen Menschen des Feuerlands "haarige" Wesen - wörtlich: affenähnliche Untermenschen mit zu kurzen Beinen und zu langen Armen - dabei waren sie glatthäutig, einzig behaart an den gleichen Stellen wie normale Europäer, aber ohne Bartwuchs.
Ein Google-Eintrag "bearded Fuegians" zeigt immer nur einen einzigen Bartträger: Charles Darwin selber. Was der von ihrer Kultur und Sprache mitbekam, war wenig. Er hörte nur, dass sie irgendetwas grunzten. Er hielt sie für hässliche und erbärmliche Kreaturen, vergleichbar, am ehesten noch, den Orang Utans. Heutige Betrachter sehen in diesen Menschen die schönen und edlen Indianergesichter, die wir auch aus Fotos nordamerikanischer Indianer aus dem 19. Jahrhundert kennen. Und Martin Gusinde nahm auf seinen primitiven kleinen Phonographenwalzen sogar ihre Gesänge auf. Auf Youtube sind sie heute noch zu hören.
Exkurs zu einem Kontrahenten
Der andere Großmeiser der amerikanischen Belletristik war Philip Roth, der ebenfalls in diesen Tagen verstarb, Sein Name wird in Amerika nicht wie die deutsche Farbe "Rot" sondern mit gelispeltem "th" am Schluss ausgesprochen, als ob der Mann eigentlich "Ross" hieße. Roth hatte das Schreiben schon vor ein paar Jahren aufgegeben, aus Altersgründen. Zusätzlich verleugnete er sogar seine gesamte frühe Produktion, auf der sein Ruhm ganz wesentlich basierte. In deutschen Nachrufen wurde gerne auf Roths etwas pornomäßigen Roman "Portnoys Beschwerden" verwiesen, vermutlich, weil die Rezensenten mit dem Band am besten vertraut waren.
Dabei war Roths Anti-Nixon-Schmähschrift "Our Gang" - sicher die schärfste Satire, die irgendjemand in Amerika je gegen einen amtierenden Präsidenten in Stellung gebracht hat. Unvergesslich hier, wie Nixon endlich in der Hölle landet und sogar dem alten Ober-Satan selber dort unten die Herrschaft streitig - also die Hölle heiß - macht. Schön auch Roths spätere alternative Historie der USA, "The Plot Against America", wo Charles Lindbergh, der Ozean-Bezwinger und Hitler-Bewunderer, zum Präsidenten der USA wird und dort ein Nazi-Großreich errichtet, in dem die Juden nicht mehr viel zum Lachen haben. Man könnte sagen, mutatis mutandis war dies eine fiktive Vorwegnahme des Trump-Zeitalters. Im Kontext mit Wolfe gilt anzumerken, dass das Thema "Teufel" und "Hölle" für alle amerikanischen Autoren, wenn auch aus unterschiedlichen Perspektiven, virulent bleibt, ebenso wie der Antisemitismus.
Demnächst Teil 2:
Das Königreich des Geschwätzes
Tom Wolfes Abrechnung mit Chomsky und Darwin
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