"Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer"

Seite 3: VT als Wahn und Unglücksfall

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Als Beleg für die unterstellte Wahnhaftigkeit von Verschwörungstheorien werden oft deren abstruseste Varianten herangezogen, beispielsweise über Aliens und Reptilienmenschen. Hinweise auf Fälle, wo der Verschwörungsverdacht ins Schwarze traf, würden für die Unvoreingenommenheit der Autoren sprechen, doch diese fehlen meist komplett. Harald Martenstein im Tagesspiegel ist da eine seltene Ausnahme.

Auf der Website der Amadeo-Antonio-Stiftung gibt es eine ganze Seite zur Frage "Kritik oder Verschwörungserzählung?". Dort wird als Gegensatz zur (falschen) Verschwörungserzählung die legitime Kritik an Diskriminierung, geringem Einkommen und politischen Fehlentscheidungen genannt. Ist das nur fahrlässige oder schon bewusste Vernebelung? Bei Verschwörungstheorien geht es schließlich um den Verdacht einer demokratiefeindlichen geheimen Absprache mit dem Ziel der Beeinflussung und Steuerung großer Menschengruppen, von Staaten oder gar der ganzen Welt - nicht um (im Vergleich dazu) läppische Mängel einer ansonsten bestens funktionierenden Demokratie. Bloß keine Systemkritik! lautet wohl die Devise.

Liest man auf der genannten Seite weiter, findet man sieben zutreffende Kriterien für wahnhafte Verschwörungstheorien. Drei seien zitiert:

Wird ein Weltbild mit klaren Rollen von "gut" und "böse" gezeichnet?
Wird die Ursache des Problems personalisiert?
Wird anerkannt, dass die eigene Informationsquelle fehlerhaft sein könnte?

Wenden Sie diese Kriterien mal auf die offiziellen Erzählungen von Regierungen und Massenmedien zu einigen jüngeren Ereignissen an, beispielsweise auf: Novichok-Anschlag, MH17-Abschuss, Syrienkrieg. Heraus kommt: Alles wahnhafte Verschwörungstheorien oder zumindest von solchen begleitet.

Eine Welt voller Verschwörungstheorien

Das Dilemma der unerschrockenen Kämpfer gegen gefährliche Verschwörungstheorien und -theoretiker ist: Sie sind selbst Teil einer medialen Welt, die von offiziellen Verschwörungstheorien nur so wimmelt. Die bewusst lancierte Verschwörungstheorie gehört zur Herrschaftspolitik.

Während der Pestepidemien des Mittelalters wurden Juden als angebliche Brunnenvergifter verbrannt, Hitler sprach von der jüdisch-bolschewistischen Weltverschwörung, Stalin von Volksverrätern in den eigenen Reihen. Im McCarthy-Amerika waren dann die Kommunisten schuld, die bei Bedarf heute noch als Wahlkampf-Drohkulisse herausgeholt werden. Vorgetäuschte Überfälle auf den Sender Gleiwitz und im Golf von Tonking dienten als Kriegsanlässe, ebenso Lügen über Massenvernichtungswaffen im Irak. Nach dem Zusammenbruch des sozialistischen Lagers wurde Putin zum personifizierten Bösen erklärt, dann Hussein, dann Assad, zeitweise Kim Jong Un, bei Chinas Parteichef Xi Jinping ist Trump auf dem besten Wege.

Dasselbe Bild in Literatur, Film und Computerspielen: Böse Verschwörer gehören zum Grundmuster der Plots aller Bonds und anderer Supermänner-Filme. Manchmal sind es mächtige Wirtschaftskonzerne, wie im ersten Alien-Film und im Thriller Limit von Frank Schätzing - ein wenig Gesellschaftskritik darf auch im Unterhaltungsgenre sein.

Nein, Verschwörungstheorien sind keine Unfälle oder psychische Verwirrtheiten und gehören auch nicht zu den unvermeidlichen "Risiken und Nebenwirkungen moderner Gesellschaften" - sie werden uns Kultur- und Medienkonsumenten nur überall als Erklärungsmuster angeboten und manchmal regelrecht eingeimpft.

Dumm ist nur, wenn sich diese Propagandawaffe gegen ihre Erfinder richtet.

Echte Verschwörer lieben übrigens verwirrte Verschwörungstheoretiker, weil sie mit Verweis auf deren offensichtlichen Schwachsinn diejenigen, welche die Wahrheit erkennen, in die gleiche Ecke stellen können. Vielleicht werden die absurdesten Verschwörungstheorien ja von den Weltverschwörern selbst in die Welt gesetzt … aber das ist ja auch schon wieder eine Verschwörungstheorie …

Misstrauen als Nährboden

Der Nährboden, auf dem Verschwörungstheorien gedeihen, ist - das haben viele VT-Erklärer richtig erkannt - das Misstrauen gegen Politik und Staat. Demoskopen konstatieren einen seit Jahrzehnten wachsenden Vertrauensverlust des Wählervolks. Doch woher soll Vertrauen auch kommen, wenn die Unvernunft des Regierungshandelns so offensichtlich ist?

Vernunft, das ist die Fähigkeit zu vorausschauendem Handeln, um lohnenswerte Ziele zu erreichen und drohendes Unheil abzuwenden. Unbestritten vernünftige Ziele gäbe es genug, und dass der Menschheit und damit auch den Deutschen Unheil droht, wenn wir alles einfach so laufen lassen wie bisher, daran gibt es kaum Zweifel. Doch was passiert? Klimaschutzziele - ausgedünnt und trotzdem nicht erreicht. Alternative Energien - gedeckelt. Tempolimit und kostenloser ÖPNV - abgelehnt. Bei den CO2-Grenzwerten für Kraftfahrzeuge wird die BRD von der EU vorgeführt. Und das schon 2017 mögliche EU-weite Glyphosat-Verbot wurde von einem CSU-Landwirtschaftsminister aktiv verhindert. Dessen Lobbyisten verdienen an Windbestäubern und Methanfurzern. Insekten brauchen die nicht. Aber wir.

Und nun, kaum begannen sich im Lockdown Luft und Natur wieder etwas zu erholen, fällt einigen Automanagern und deren Ministerpräsidenten zur Konsum-Ankurbelung nichts Besseres ein als eine neue Abwrackprämie, noch nicht mal beschränkt auf E-Autos. Wir sollen also unsere dank TÜV-Zwang tadellos funktionierenden Autos wegschmeißen und neue kaufen. Absurder geht’s nicht.

Wer so offensichtlich gegen alle Vernunft und den gesunden Menschenverstand handelt und dabei noch große Teile der Bevölkerung vom jahrzehntelangen Wirtschaftsaufschwung ausschließt, darf sich über das tief sitzende Misstrauen nicht wundern. Wer glaubt noch an die Mär vom "Vater Staat" als gutwilligem Fürsorger und Beschützer seiner Bürger, der über Recht und Gesetz wacht und sich selbst daran hält? Im Gegenteil, man darf diesem Staat einiges zutrauen. Die US-Amerikaner sind uns auch darin weit voraus, zumindest in Literatur und Film. Angefangen von Oliver Stones "JFK" über "Der gute Hirte" (Robert de Niro) bis zur Netflix-Serie "House of Cards" zeigen sie unterm Deckmantel filmischer Fiktion, welcher Verbrechen sie ihre Politiker, Geheimdienste und Wirtschaftsbosse für fähig halten.

Monster der Unvernunft

"Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer" schrieb Goya 1799 in eine seiner berühmten Le Capricho-Radierungen, gemünzt gegen die Korruptheit von Kirche und Staat seiner Zeit. Heute schläft die Vernunft nicht bloß, sie wird mit aller Macht vertrieben, und die Ungeheuer werden regelrecht gezüchtet.

Gefährlich sind weniger die Verschwörungstheorien "von unten", die Verdächtigungen einzelner mächtiger Akteure wie Bill Gates, sondern die offiziellen, politisch instrumentalisierten Fake News, eingesetzt als Cover-up für geopolitische Interessen und mit dem Potential für militärische Konflikte. Die einen verhalten sich zu den anderen wie nervige Trolle zu mächtigen Teufeln. Doch beide nisten in dem (nicht nur) von Trivialmedien wie der Bild-Zeitung brandgerodeten ehemaligen Garten Eden, wo Erkenntnis mal ein begehrtes Ziel war, jetzt aber die einfachsten, an Angst, Egoismus und Vorurteile appellierenden Erklärungsmuster bestens gedeihen. Verdummung fördert Dummheit - welch eine Überraschung!

Wir erleben gerade, dass alle technischen Segnungen des Kapitalismus zu Danaergeschenken werden, zu trojanischen Pferden, in denen Unheil steckt. Smartphones und Smart Homes werden zu Instrumenten zur Überwachung und Unterdrückung. KI wird zur Bedrohung von Arbeitsplätzen, Gesundheitsvorsorge zur Freiheitsberaubung und Impfung zur übergriffigen Körperverletzung. Im Land der ersten industriellen Revolution sind die Maschinenstürmer schon auf der Jagd nach 5G-Antennen.

Was wir bräuchten, sind keine Konsumprämien zur Nachfrageankurbelung, sondern Vernunftprämien zur Ankurbelung des gesunden Menschenverstandes. Eigentlich die wichtigste Ressource, die wir haben, anscheinend für das gegenwärtige Gesellschaftssystem aber wohl die größte Gefahr.