Der Schmetterlings-Effekt

Die Koordinaten des Augenblicks vor seiner Entdeckung

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Die Veranstaltungsreihe "Der Schmetterlingseffekt", die vom 20. Januar - 25. Februar 1996 im Ausstellungszentrum Mucsarnok, Budapest, Ungarn, stattfand, zeigte in beeindruckender Weise, daß qualitativ hochstehende Medienkunst und -theorie in Budapest ein ebenso informiertes wie interessiertes Publikum vorfindet. Kathy Rae Huffman berichtet.

The Butterfly Effect

Die Veranstaltung "Der Schmetterlings-Effekt: Die Koordinaten des Augenblicks vor seiner Entdeckung", kuratiert von Suzanne Meszoly und Miklos Peternak, stellte sich als philosophischen Ausgangspunkt die Frage nach den ursprünglichen Bedingungen zur Schaffung sinnlicher Verknüpfungen in der Kunst, eine elementare Frage aber auch in der Chaos-Theorie. Die Ausstellungen und begleitenden Programme bildeten zugleich die jährliche Ausstellung des Soros Centers für Zeitgenössische Kunst 95/96, Budapest. Ihre erklärte Absicht war, die archäologischen Wurzeln der Medienkultur in Augenschein zu nehmen und zu zeigen, inwiefern diese als Präzedenzfälle und elementare Aspekte heutigem Mediendenken zugrunde liegen. Von der Annahme ausgehend, "daß wir keine Möglichkeit haben, die Auswirkungen der derzeitigen Medienwelle auf die Kunst vorauszusagen", wurde versucht, durch vorsichtige Analyse eine rationalere Verständnisform für die potientiellen Entwicklungsmöglichkeiten der Medien zu finden. So lag der Schwerpunkt der kuratorischen Zielsetzungen bei Aspekten der Mediengeschichte in Zentral- und Osteuropa und insbesondere in Ungarn. Damit wurde ein bislang einzigartiger Beitrag produziert, der erstmalig internationale Kunst- und Medienkreise über bislang unbekannte Erfindungen und Leistungen informierte. Die Ausstellungen verliehen den Errungenschaften der wachsenden Medienkunst-Gemeinde in der Tat Gültigkeit und verstanden es, diese neue Welle von Interesse mit bestehenden Wissenschafts- und Forschungskreisen in Ungarn zu verknüpfen.

Kathy Rae Huffman

Gegenwärtige Koordinaten - 20. Januar bis 25. Februar 1996

Eine Ausstellung neuer und klassischer Medienkunstwerke von ungarischen und internationalen Künstlern, die Bezüge zu Zentral- und Osteuropa aufweisen.

Die Ausstellung mit 27 geladenen ungarischen, europäischen und in Ungarn geborenen Künstlern, die viele Jahre im Ausland gelebt und gearbeitet haben, füllte 7 Gallerien in der Mucsarnok, Budapests zentralem Ausstellungsraum für zeitgenössische Kunst. George Legrady, Gusztav Hamos, Agnes Hegedus, und Tamas Waliczky, ehemals exilierte ungarische Künstler, haben mit ihrer Arbeit im Ausland signifikante Beiträge zur Ästhetik der Medienkunst geleistet. Sie wurden in den Bereichen Video/TV, interaktive Kunst und Computer-Graphik zu internationalen Berühmtheiten und waren so ein wichtiger Bestandteil dieser Ausstellung, indem ihre Arbeiten belegten, wie der Zugang zu High-Tech die Medienkunst beeinflussen kann.

Legrady zeigte eine Uraufführung einer neuen Arbeit, SLIPPERY TRACES, 1995, eine interaktive Installation, die eine Erinnerungsreise durch über 200 Postkartenmotive ermöglicht, die der Künstler in den letzten Jahren erhalten und gesammelt hat. Legrady zitierte Susan Stewart On Longings und Jonathan Culler SEMIOTICS OF TOURISM in der Einleitung zu seiner Arbeit.

Die neue Arbeit von Gustav Hamos, die er in Ungarn produziert und zum ersten Mal ausgestellt hat, nennt sich MOEBIUS CIRCLE, MALE AND FEMALE 95. In dieser interaktiven Arbeit konnte man einen Kreis betreten, der von vier großen, gebogenen Projektionsflächen umgeben war und so ein immersives (VR-artiges) Environment bildete. Zwei Live-Kameras mischten das Bild des Betrachters mit digitalen Bildern eines Mannes und einer Frau, die den Eindruck sinnlicher Umarmungen, von Leinwand zu Leinwand horizontal aneinander vorübergleitend, erzeugten. So fand man sich hier innerhalb der intimen Gesten eines Liebespaares wieder, das von diesem Eindringen unberührt blieb. Verhält es sich so, weil ihre Existenzform nur digital ist und weil wir uns bewegen, unsere Beziehung zum Ereignis verändern, im Extremfall sogar flüchten können? Diese Arbeit erzeugte provozierende Fragen über Sinnlichkeit sowohl in der realen als auch der virtuellen Welt.

Installation von Wojciech Bruszewski

Neben diesen Auslandsstars der ungarischen Kunst wurden europäische Künstler eingeladen, die persönliche Beziehungen mit ungarischen Künstlern in den letzten zwei Dekaden verbanden - dazu zählen Woody und Steina Vasulka, Peter Weibel, Jozef Robakowski, Wojciech Bruszewski und Richard Kriesche. Bruszewski präsentierte eine Arbeit aus dem Jahr 1992, die Sonnette, eine Computerinstallation, die auf langen Papierschlangen Poesie in vier Sprachen ausspuckte, in einem Stil, der als zufälliger Bewußtseinsstrom beschrieben werden kann, wie er manchmal bei IRC-Chats entsteht. Die Installationen der Künstler wurden untermischt präsentiert, getrennt allein in helle und dunkle Zonen je nach den Erfordernissen der einzelnen Arbeiten. Diese Präsentation hatte hohes Niveau, indem sie Kunst ohne abgrenzende Ränder zeigte. Zusätzlich war eine Anzahl von Internet-Terminals installiert, sodaß auch der Zugang zu diesem derzeit so heiß gehandelten Medium gewärleistet war, das sich so ideal zur Überschreitung von Grenzen und zum Herstellen von Kommunikations-Verbindungen zwischen West und Ost eignet. Es war dies das erste Gratis-WWW-Testsurfen für ein breites Publikum in Ungarn.

Kathy Rae Huffman

Medienrelikte - 20. Januar bis 25. Februar

Eine historische Ausstellung über Innovationen und Experimente im Technologie-Bereich aus Zentral- und Osteuropa.

Dieser Teil der Ausstellung war über drei große Ladengallerien im Bereich der Eingangshallen der Mucsarnock verteilt. In Vitrinen und Ausstellungsboxen wurden buchstäblich hunderte von Objekten gezeigt, welche die technologische Entwicklung Ungarns im abgelaufenen und vorigen Jahrhundert dokumentierten. Aus verschiedensten historischen Sammlungen, Museen und Archiven zusammengezogen, entstand eine höchst seltsame Mischung von Kommunikations-Einrichtungen, von frühen Camera Obscura Modellen, über verschiedene Panoramabilder, hin zu einer Selektion von Kaleidoskopen, Stereoskopen, Pantographen, Telegraphen und Telephonapparaten, ja sogar bis hin zu frühen Tele-Geräten wie Fernseher, Fernsprechgeräte, Radios und Rechner. Ein Informationssystem auf zwei Workstations, das die erste Vorstufe zu einer entstehenden CD ROM darstellte, bot komfortable Informationsmöglichkeiten über die Hintergründe zu jedem einzelnen Objekt, auf der Basis eines einfachen nummerischen Indizierungssystems.

Kathy Rae Huffman

Der Augenblick vor der Entdeckung - 22./23. Januar 1996

Ein internationales Symposium den vergessenen und unvorhergesehenen Entwicklungen von Medienkunst und -technologie gewidmet.

Für zwei Tage wurden zwischen 10.00 Uhr morgens und 18.00 Uhr abends in zwei überfüllten Auditorien des kürzlich renovierten Mucsarnok-Zentrums wissenschaftliche, künstlerische und konzeptuelle Thesen im 45-Minutenrhythmus vorgetragen. Zum Themenschwerpunkt der Medien-Archäologie äußerten sich u.a. Victor Burgin, Timothy Druckrey, Ladislav Galeta, Jochen Gerz, Marina Grzinic, Werner Kunzel, Peter Weibel, Steina Vasulka, Kathy Rae Huffman and Sigfried Zielinsky. So faszinierend die Texte im einzelnen auch waren, so ergaben sich mit der Zeit doch viele Überlappungen und Verdoppelungen im Kern sehr akademischer Aussagen. Immerhin wurden dadurch alte Traditionen sichtbar, in deren Rahmen sich auch heutige Künstler, oft ohne es zu wissen, bewegen. Die Texte werden in einem Ausstellungskatalog abgedruckt, der voraussichtlich im Mai erscheinen wird.

Begleitend dazu gab es Live-Performances, Experimente, Happenings und weitere Vortragsprogramme im Goethe-Institut und an der Akademie der schönen Künste, Budapest.

Einen Höhepunkt stellte sicherlich die historische Performance von Steina Vasulka mit dem Titel VIOLIN POWER dar. Ebenfalls gezeigt wurde das neu überarbeitete Werk Motion Controll MODELL 5 von Granular Synthesis.

Der Enthusiasmus des ungarischen Publikums war augenscheinlich. Das Publikum bestehend nicht nur aus Studenten und Künstlern sondern auch aus einer breiten interessierten Öffentlichkeit konfrontierte die Vortragenden mit vielen Fragen und zog sie in den Pausen ins Gespräch. Dieses sehr reif erscheinende Interesse des ungarischen Publikums, sein Verständnis für die Bedeutung neuer Technologien und Medien, waren eine beeindruckende Erfahrung. Diese Entwicklung des Publikumsinteresses wurde in den letzten Jahren durch das Soros Centre for Contemporary Arts und seine Partnerorganisationen durch kleinere Vorlaufveranstaltungen zum Leben erweckt und ständig genährt.

Katalog und CD-ROM werden im Mai 1996 erscheinen

Kathy Rae Huffman