Ex-UN-Diplomat: "Die Ukrainer sind das betrogene Volk Europas"

Michael von der Schulenburg arbeitete über 34 Jahre für die Uno und die OSZE. Bild: Ferran Cornellà, CC BY-SA 4.0

Michael von der Schulenburg tritt für Gespräche mit Putin ein. Kiew und Moskau seien nach Eskalation Friedenspflicht nachgekommen. Andere Akteure sieht er kritischer.

Der ehemalige deutsche UN-Diplomat Michael von der Schulenburg hat in einem Interview mit der Schweizer Wochenzeitung Weltwoche seine Sicht auf den Ukraine-Konflikt dargelegt. Er sieht die Ukraine als das "betrogene Volk Europas". Es sei auf dem Schlachtfeld für geopolitische Interessen geworden ist.

Nach mehr als zwei Jahren Abwehrkampf gegen die russische Invasion hat das Land laut Schulenburg einen hohen Blutzoll gezahlt. Heute sei die Ukraine politisch tief gespalten, leide unter Korruption und Bevölkerungsschwund.

Russlands Ziele in der Ukraine

Auf die Frage, was der russische Präsident Wladimir Putin in der Ukraine will, antwortete Schulenburg, Putin wolle in erster Linie keine Präsenz der Nato und keine ausländischen Militärbasen in der Ukraine. Seiner Meinung nach strebe er einen garantierten Zugang Russlands zum Schwarzen Meer an und die Sicherheit der prorussischen Bevölkerung in der Ukraine. Dazu Schulenburg:

Wir können davon ausgehen, dass das auch die Ziele einer überaus grossen Mehrheit der russischen Eliten und der Bevölkerung sind. Auch hat sich an diesen Zielen nichts geändert. Bereits 1997 warnte ein Präsident Jelzin den US-Präsidenten Clinton davor, die Ukraine in die Nato bringen zu wollen, er sprach von einer dicken roten Linie für Russland.

Michael von der Schulenburg in der Weltwoche

Verletzung der UN-Charta

Schulenburg stimmte der Bezeichnung des russischen Einmarschs in die Ukraine als "illegalen Angriffskrieg" zu, da er eine Verletzung der UN-Charta darstelle. Der Einmarsch Russlands in die Ukraine war nach der UN-Charta "illegal", da er eine Verletzung des Verbots der Anwendung militärischer Gewalt zur Durchsetzung politischer Ziele darstellt.

Diese Einschätzung teilt der Völkerrechtsexperte Schulenburg. Allerdings, so Schulenburg, spiegelt dieser Begriff nur eine Halbwahrheit wider, da er den komplexen Kontext des Konflikts nicht vollständig erfasst.

Ein zentraler Aspekt der UN-Charta sei die Verpflichtung aller Mitgliedsstaaten, ihre Konflikte durch Verhandlungen zu lösen, um Kriege zu verhindern. Schulenburg weist darauf hin, dass der Westen diese Verpflichtung nicht erfüllt hat.

Westen habe Aufforderungen Russlands ignoriert

Trotz wiederholter Aufforderungen Russlands, über seine Sicherheitsbedenken im Zusammenhang mit einer möglichen NATO-Erweiterung in die Ukraine zu verhandeln, hat der Westen diese Anfragen über viele Jahre hinweg ignoriert. Dabei gab es auch unter einflussreichen amerikanischen Politikern Warnungen vor einer solchen NATO-Erweiterung.

Ein weiterer wichtiger Aspekt der UN-Charta, auf den Schulenburg hinweist, ist die Verpflichtung aller Mitgliedsstaaten, im Falle eines Kriegsausbruchs sofort alles zu unternehmen, um durch Verhandlungen eine friedliche Beendigung zu erreichen.

Russland und Ukraine seien Friedenspflicht nachgekommen

In diesem Zusammenhang betont Schulenburg, dass sowohl die Ukraine als auch Russland dieser Verpflichtung nachgekommen sind. Nur wenige Tage nach der russischen Invasion hätten beide Seiten begonnen, eine Verhandlungslösung zu suchen, die sie bereits nach einem Monat gefunden haben.

Diese Ausführungen verdeutlichen, dass die Bezeichnung des russischen Einmarschs in die Ukraine als "illegaler Angriffskrieg" zwar zutreffend ist, aber dennoch nur einen Teil der Wahrheit abbildet. Sie lasse wichtige Aspekte des Konflikts und der Rolle der verschiedenen Akteure unberücksichtigt.

Verhandlungen zwischen Ukraine und Russland

Der ehemalige UN-Diplomat lobte das Istanbul Kommuniqué vom 29./30. März 2022, das von beiden Seiten angenommen wurde. Er nannte es eine "Glanzleistung ukrainischer Diplomatie". Allerdings kritisierte er den Westen dafür, den Vertrag nicht unterstützt zu haben.

Die Forderung des Westens, dass Russland sich zuerst aus der gesamten Ukraine zurückziehen müsse, bevor Verhandlungen unterstützt würden, sei gleichbedeutend mit der Forderung nach Russlands militärischer Niederlage.

Die Rolle der EU

Schulenburg kritisierte die EU für ihre fehlende eigenständige Position und ihre proamerikanische und kriegsbefürwortende Politik. Er forderte die EU auf, eine konsequente Friedenspolitik zu verfolgen und ein gesamteuropäisches Friedens- und Sicherheitssystem aufzubauen, dem auch die Ukraine und Russland angehören.

Die Rolle der USA

Der ehemalige UN-Diplomat kritisierte die USA dafür, dass sie alle Warnungen, dass Russland auf einen Beitritt der Ukraine auch militärisch reagieren würde, ignoriert hätten. Er warf den Washington vor, die Russen unterschätzt zu haben und nicht verstanden zu haben, wie tief die Russen die NATO direkt an ihren Grenzen als existenzielle Gefahr ansähen:

Und Europa hat dazu geschwiegen. Wahrscheinlich hatten die USA damals die Russen unterschätzt und gedacht: das trauen sie sich nicht. Der Westen hat einfach nicht verstanden, wie tief die Russen – und nicht nur Putin – die Nato direkt an ihren Grenzen als eine existentielle Gefahr für Russland ansahen und heute noch ansehen. Wenn die USA mit Nato-Unterstützung weiter eskalieren und wie angekündigt nun Waffen schicken, mit denen Russland an ihren strategisch wichtigen Stellen getroffen werden kann, würde Russland, wie angedeutet, nicht vor extremen Reaktionen zurückschrecken. Die Gefahr, dass sich dieser Konflikt zu einem nuklearen Krieg ausweitet, ist somit heute höher als je zuvor. Die Nato sollte Russlands Entschlossenheit nicht wieder unterschätzen.

Verhandlungen mit Putin

Schulenburg betonte, dass man mit Putin verhandeln müsse und könne. Er kritisierte die Verteufelung von Putin und betonte, dass Verhandlungen immer zwischen Feinden stattfänden. Zugleich betonte er die Wichtigkeit des Respekts in Verhandlungen und kritisierte die Verwendung von Schimpfworten wie "Putinversteher" und "Russlandversteher".

Veränderungen im Westen

Schulenburg argumentierte, dass sich im Westen etwas verändert habe, was dazu geführt habe, dass die Fronten sich so verhärtet hätten, dass es nun zum Krieg gekommen sei. Er kritisierte den alleinigen Machtanspruch des Westens und die Ausweitung der NATO an die russische Grenze.

Der alleinige Machtanspruch des Westens und der damit verbundenen Ausweitung der Nato an die russische Grenze war in der Pariser Charta nicht vorgesehen, und trotzdem haben wir es gemacht. (…) Die USA, die Nato oder verschiedene Kombinationen westlicher Streitkräfte haben doch immer wieder das Gewaltverbot der UN-Charta verletzt. (…) Einer Studie des wissenschaftlichen Dienstes des US-Kongresses zufolge haben die USA zwischen 1992 und 2022 251-mal in anderen Ländern militärisch interveniert.

Kriegerische Töne deutscher Politiker

Schulenburg äußerte Unverständnis über die kriegerischen Töne deutscher Politiker und kritisierte insbesondere die Haltung hoher deutscher Diplomaten.

Er betonte die Notwendigkeit von Diplomaten mit einem kühlen Kopf, die den Gegner verstehen können und nach machbaren Kompromissen suchen, um das Töten in Kriegen zu beenden.

Zum geplanten Friedensgipfel in der Schweiz, der ohne Russland stattfinden soll, äußerte Schulenburg Skepsis. Er bezeichnete ihn als Versuch, eine westliche Agenda durchzusetzen. Es gehe offenbar darum, das von Selenskyj vorgeschlagene Zehn-Punkte Programm – nicht zu verwechseln mit dem Istanbuler Kommuniqué – durchzusetzen. Dies sei ein unrealistischer Ansatz, der auch kaum eine internationale Zustimmung außerhalb der Nato-Staaten finden werde.

Michael von der Schulenburg ist ein deutscher Diplomat und Autor, der in verschiedenen Funktionen für die Vereinten Nationen und die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa gearbeitet hat. Von der Schulenburg hat unter anderem in Afghanistan, Haiti, Pakistan und Sierra Leone gearbeitet und sich auf politische Angelegenheiten, Friedensmissionen und Entwicklung konzentriert. Er ist Kandidat für das Bündnis der Politikerin Sahra Wagenknecht bei der Europawahl.