Der Traum vom besseren Leben: Biffo, die fliegende Minirocknonne und ein Schiff aus der Karibik

Seite 4: "Talking to the Police"

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Bald nach Powells Rede peitschte Harold Wilsons Labour-Regierung in nur drei Tagen ein Gesetz durch das Parlament, das verhindern sollte, dass die indischstämmigen Kenianer mit britischen Pässen, die infolge der dortigen "Afrikanisierungspolitik" massenhaft enteignet wurden, Zuflucht im Vereinigten Königreich suchten. 1971 waren wieder die Konservativen am Zug. Ihr Gesetz schränkte weiter ein, wer "britisch" war und über die entsprechenden Rechte verfügte. Nach der Empire Windrush bezeichnet man die Schwarzen, die zwischen 1948 und 1971 aus der Karibik zuwanderten, als die Windrush-Generation; für andere ist das Jahr 1962 die Wegemarke, in dem Macmillan sein Gesetz verabschiedete.

Harold Shand ist ein Fan des Gemeinsamen Marktes sowie des freien Waren- und Geldverkehrs, und er will für reiche Amerikaner Reisen in sein Vergnügungszentrum organisieren, in Kooperation mit der Mafia (eine alte Geschäftsidee der Krays). Die Windrush-Generation und ihre Kinder würde er am liebsten nach Westindien zurückschicken. In Brixton halten er, Razors und Jeff neben einem Schwarzen an, der ein Auto repariert und einen Reggae-Song hört. "Oi", sagt Harold von oben herab. Mit Verachtung in der Stimme fragt er, wo Erroll wohnt (der Zuhälter, nicht Francis Drake alias Errol Flynn).

"Talking to the Police" (19 Bilder)

The Long Good Friday

Er kenne keinen Erroll, sagt der Mann und setzt seine Arbeit fort. Harold fordert nun den Respekt ein, den er selbst verweigert. Als Gangster macht man das mit Gewalt. Razors stößt den Wagenheber weg. Der Mann kann gerade noch verhindern, dass er unter dem Auto zerquetscht wird. "Das war mal eine nette Straße hier", sagt Harold. "Anständige Familien, kein Abschaum." Keine Schwarzen, ist gemeint, und schon gar keine, die nicht die Habachtstellung einnehmen, wenn der weiße Mann kommt. Nachdem er das losgeworden ist, fährt er grußlos weiter. Der Film zeigt, auf welcher Seite er steht, indem er einen ironischen Kontrapunkt zum Rassismus der Hauptfigur setzt.

Der Reggae-Song im Autoradio wird von Bob Hoskins performt. Der Gangster, gespielt von Hoskins, begegnet gewissermaßen seiner anderen Seite, dem Schauspieler Hoskins, der dem Fremden gegenüber neugierig und aufgeschlossen war und lieber mitmachte und Neues ausprobierte, statt das Ungewohnte abzuwerten, weil es nicht englisch war. Das ist einer der schönsten Momente im Film, weil da kurz eine Alternative zum alltäglichen Rassismus aufblitzt: die Begegnung mit der anderen Kultur als Chance und Bereicherung. (In voller Länge ist der Song, "Talking to the Police", auf dem sehr guten Soundtrack-Album zu hören.)

Die Gangster überraschen Erroll mit einer Blondine im Bett. Ein schwarzer Mann hat Sex mit einer weißen Frau: das ist der Albtraum der Rassisten. 1958 war die Angst vor einer "Rassenmischung" der Auslöser der Unruhen in Nottingham und Notting Hill gewesen. Zehn Jahre danach hatte Enoch Powell eine (weiße) Nation wie die britische für "buchstäblich verrückt" erklärt, wenn sie weiter Kinder aus der Karibik einreisen ließ, die zum Großteil "das Material für das zukünftige Anwachsen der von Immigranten abstammenden Bevölkerung" sei. Besonders schlimm war der Gedanke, dass sich dieses "Material" mit weißen Britinnen und Briten vermischen würde.

Auf den ersten Blick könnte es scheinen, als wären die Filmemacher selbst in die Rassismusfalle getappt, indem sie uns das Klischee vom Schwarzen als Zuhälter und Drogendealer auftischen. Es handelt sich aber um eine Versuchsanordnung zum Entlarven niedriger Instinkte. Das überdeterminierte Klischee trifft auf eine genauso überdeterminierte Mischung aus Rassismus, Kleinbürgertum und altmodischem, sich patriotisch und konservativ gebendem Gangstertum, das durch eine Modifizierung seiner Mittel auch in der Politik reüssieren könnte.

Harold fühlt sich von Errolls Geruch belästigt und will sich nicht bei ihm anstecken (Merke: "Nig Nogs" stinken und übertragen Krankheiten). Er ist angewidert, als er die Topfpflanzen sieht und eine Spritze findet (Frauen auf den Strich schicken: Ja; Drogen konsumieren und verkaufen: Nein). Und die Nacht durchmachen, dann den Tag im Bett verbringen und dabei auch noch "Rassenschande" begehen, wie man das früher nannte (Erroll wohnt im Haus mit der Nummer 33), das schlägt dem Fass den Boden aus. Dem Rassisten/Kleinbürger/Gangster mit dem Sinn für Tradition und Geschichte bleibt da nur die Gewalt.

Harmonie per Verdachtsgesetz

Auch die Requisiten zeugen von der grimmigen Ironie des Films. Razors zückt nicht etwa, wie bei seinem Namen zu erwarten, ein Rasiermesser. Wenn sich der weiße Mann zu den Wilden in den Dschungel begibt greift er zur Machete (im Kleinformat, für den Hausgebrauch) wie einst Errol Flynn, der sich in The Sea Hawk durch den Urwald der Karibik kämpft. Auf Shands Befehl fügt er Erroll - dem Zuhälter, nicht dem englischen Kulturhelden mit der Piratenkarriere - mehrere Schnittwunden zu. Das Foltern geht noch weiter, als längst klar ist, dass Erroll nicht sagen kann, wer Harolds Männer getötet hat.

Da wird ein Mann dafür bestraft, dass er nicht weiß ist wie die Engländer um ihn herum (Paul Barber, der strippende Stahlarbeiter aus The Full Monty, ist der Sohn einer weißen Mutter und eines Einwanderers aus Sierra Leone) - und weil sie ihn mit einer weißen Frau im Bett erwischen. Die Gangster geraten in ein Phantasiebild. Mackenzie hat nachinszeniert, was sich die Rassisten in Nottingham und Notting Hill vorstellten, als sie schwarze Männer mit weißen Frauen sahen, als Auftakt zu bürgerkriegsartigen Unruhen. Shand schaut mit sadistischer Befriedigung dabei zu, wie die Machete in Errolls Fleisch schneidet. In Brixton zeigt er zum ersten Mal das Gesicht eines Monsters.

Harmonie per Verdachtsgesetz (I) (17 Bilder)

The Long Good Friday

Nach dem Drehbuch zu The Long Good Friday schrieb Keeffe Sus, ein Theaterstück über institutionellen Rassismus. An die Stelle der Gangster treten Polizisten. Ein Gesetz zur Landstreicherei von 1824 erlaubte es der Polizei, Personen anzuhalten, zu durchsuchen und festzunehmen, wenn der Verdacht (engl. suspicion, kurz sus) auf eine Straftat bestand. Nach dem Ende der Napoleonischen Kriege hatte man die britische Armee und die Marine stark verkleinert. Viele der Ausgemusterten fanden keine Arbeit und wurden obdachlos. Verschärft wurde die Lage durch eine steigende Zahl von Iren, die als Wirtschaftsflüchtlinge nach England kamen.

Das Gesetz trug kaum etwas zum Rückgang der echten Kriminalität bei, eröffnete der Polizei aber neue Möglichkeiten, gegen unerwünschte Personen vorzugehen. Verdächtig sind immer die, die anders sind oder auch nur anders aussehen. In den 1970ern entdeckte die Polizei das "Sus law" neu und brachte es vermehrt gegen ethnische Minderheiten zur Anwendung. Am häufigsten als "verdächtig" aufgegriffen wurden junge schwarze Männer. In seinem Stück (2010 von Robert Heath verfilmt) führt Keeffe vor, wie so etwas in eine Tragödie münden kann.

Harmonie per Verdachtsgesetz (II) (22 Bilder)

Sus

Die Wahlnacht des Jahres 1979. Margaret Thatcher ist mit einem Programm angetreten, das den Neoliberalismus mit einer strammen Law-and-Order-Politik verknüpft und massive Gehaltserhöhungen für die Polizei verspricht. Zwei rassistische Polizisten ("all English, pure stock") verhören einen schwarzen Familienvater, den sie verdächtigen, seine schwangere Frau ermordet zu haben. Euphorisiert vom sich abzeichnenden Erdrutschsieg der Konservativen sind die Beamten entschlossen, einen schnellen Erfolg zu erzielen. Aus einer willkürlichen, vom Gesetz gedeckten Festnahme wird ein Verhör und daraus Folter, physisch wie psychisch.

"Lasst uns Harmonie bringen, wo Zwietracht herrscht", sagte Thatcher bei ihrem ersten Auftritt als Premierministerin vor Downing Street No 10. "Lasst uns Hoffnung bringen, wo Verzweiflung herrscht." Diese Rede inspirierte Keeffe dazu, aus einem wahren Fall, über den er Jahre vorher als Reporter berichtet hatte, ein Stück zu machen. Das Streichen des "Sus law" war nicht Teil von Thatchers Harmonieversprechen. Dafür musste es erst wieder Unruhen geben: 1980 in Bristol, 1981 in Liverpool und Brixton. Danach war sie gezwungen, das Gesetz abzuschaffen.

2008 kündigte der damalige Oppositionsführer David Cameron an, im Falle seiner Wahl zum Regierungschef der Polizei die alten Befugnisse zurückzugeben. Dazu kam es nicht, weil er mit den Liberaldemokraten koalieren musste. Seit Camerons Wiederwahl und dem folgenden Referendum wird alles vom Brexit überschattet. Zusammen mit anderen Sicherheitsgesetzen wartet das "Sus law", im neuen Gewand und gefälliger formuliert als die Uralt-Paragraphen von 1824, auf die Wiedervorlage in der Zeit nach dem (mutmaßlichen) EU-Austritt. Boris Johnson hat schon erklärt, dass er halten wird, was von Cameron nur versprochen wurde.

Feindselige Umgebung

Wie erwähnt fand die Olympiade erst 2012 in den Docklands statt, nicht schon 1988 wie von Harold Shand gedacht und von Barrie Keeffe in den Dialog geschrieben. Für viele Briten mit Migrationshintergrund war es ein bewegender Moment, als im historischen Teil der Eröffnungsfeier (28:30) nach den Leuten in den Sergeant-Pepper’s-Kostümen ein Modell der Empire Windrush auftauchte und ein paar Dutzend schwarze Londoner mit Reisekoffern durchs Stadion gingen.

Den Einwanderern aus der Karibik und ihren Nachkommen signalisierte die von Danny Boyle gestaltete Feier, dass sie in einem Land lebten, das endlich bereit war, die Windrush-Generation und ihre Kinder als integralen Bestandteil seiner Kultur- und Sozialgeschichte zu akzeptieren, statt die nationale Geschichte einmal mehr aus der Perspektive der Oberschicht zu erzählen. Einem anderen, nicht so toleranten Großbritannien verlieh Aidan Burley eine Stimme. Burley, früher Berater des Innenministeriums, war ein Abgeordneter der Konservativen Partei, dessen bis dahin steil nach oben führende Politkarriere durch einen Junggesellenabschied mit Nazikostümen und Hitlergruß in Turbulenzen geraten war.

Beim Einzug der Athleten twitterte der Abgeordnete, dass die "linke multikulturelle Scheiße", die er hatte sehen müssen, Gott sei Dank vorbei sei: "Gebt uns die Red Arrows, Shakespeare und die Stones zurück!" "Red Arrows" ist der heutige Name der nach dem Ersten Weltkrieg gegründeten Kunstflugstaffel der Royal Air Force. Sie genießt einen legendären Ruf, seit sie im Mai 1925, als Attraktion der British Empire Exhibition, an sechs Tagen in der Woche ihre Kunststücke zeigte (im Rahmen einer Veranstaltungsreihe mit dem Titel "London Defended"). Für die British Empire Exhibition wurde das Wembley-Stadion gebaut. Besucher erfuhren, was für eine tolle Sache der Kolonialismus für die Kolonisierten war.

Die Eröffnungsfeier der Olympiade, schrieb die Kunstkritikerin Charlotte Higgins tags darauf im Guardian, sei Danny Boyles "Lobgesang auf das Land, an das er am liebsten glauben möchte". Es gibt aber auch ein Großbritannien, das immerzu verteidigt werden muss - gegen die spanische Armada, gegen Hitlers Luftwaffe, gegen die Kultur der einst von der Regierung angeworbenen Einwanderer aus der Karibik, gegen die EU -, wenn Konservative wie Aidan Burley von der nationalen Identität sprechen, oder wie diese sein sollte. Eine unrühmliche Rolle bei dieser Art der Landesverteidigung spielte Theresa May, die sich am liebsten beim sonntäglichen Kirchgang filmen lässt.

Im Olympiajahr 2012, als Innenministerin im Kabinett von David Cameron, kündigte sie eine Reihe von Gesetzesinitiativen und Verordnungen an, deren Zweck sie in einem Interview mit dem Telegraph wie folgt beschrieb: "Das Ziel ist es, hier in Großbritannien eine wirklich feindselige Umgebung [hostile environment] für illegale Migration zu schaffen." Den Satz wiederholte sie danach fast so oft wie später ihre Zusage, den Brexit zu liefern. Es ging darum, die damalige Netto-Zuwanderung (nicht: illegale Zuwanderung) von jährlich rund einer Viertelmillion Menschen auf "einige Zehntausend" zu reduzieren wie im Wahlprogramm der Konservativen versprochen.

Wenn die Menschenrechtsorganisation Liberty richtig gezählt hat verantwortete Theresa May, die ihr Land so gern von der EU-Bürokratie befreien wollte, in sechs Jahren als Innenministerin sieben Gesetze zu Einwanderung und Nationalität und 45.000 Änderungen in Gesetzen und Verordnungen, die Ausländer dazu bewegen sollten, das Vereinigte Königreich zu verlassen. Drangsaliert wurden auch sich völlig legal dort aufhaltende EU-Bürger sowie Briten, die sich unverständlicherweise in solche verliebt hatten und ihre Partner - ganz im Sinne des christlich-konservativen Weltbilds - heiraten wollten.

Mays "Hostile Environment"-Politik machte Arbeitgeber, Vermieter, Ärzte und Bankangestellte zu Hilfstruppen der Einwanderungsbehörde. Unter Androhung empfindlicher Strafen wurden sie dazu verpflichtet, den Aufenthaltsstatus eines Menschen zu überprüfen (und Illegale zu melden), ehe sie ihn beschäftigten, eine Wohnung an ihn vermieteten, ihn ärztlich behandelten oder ein Konto für ihn einrichteten. Lokale Verwaltungen wurden angewiesen, Notunterkünfte für Flüchtlinge zu schließen. "Was wir nicht wollen", so May im Interview, "ist eine Situation, in der Leute glauben, dass sie hierher kommen und bleiben können, weil ihnen der Zugang zu allem, was sie brauchen, ermöglicht wird."

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