Der Triumph des Kapitalismus und die Handlungsunfähigkeit der Politik
"Die Globalisierungsfalle" - eine aufrüttelnde und schonungslose Kritik der Informationsgesellschaft, die an der Zeit war.
Die einen schwärmen von der digitalen Revolution, der Globalisierung und den Chancen der Informationsgesellschaft, andere malen ein düsteres Bild. Klar scheint jedoch, daß sich vieles verändern wird. Was genau auf uns zukommt, weiß niemand, doch die Aussichten werden zunehmend schwärzer gemalt. Die beiden SPIEGEL-Autoren Hans-Peter Martin und Harald Schumann haben mit ihrem Buch jetzt ein aufrüttelndes Schwarzbuch der vernetzen Zukunft geschrieben, dessen Thesen jeder zur Kenntnis nehmen sollte, denn der "Angriff auf Demokratie und Wohlstand" betrifft alle.
Letztes Jahr hatte Gorbatschow nach San Francisco 500 führende Politiker, Wirtschaftsführer und Wissenschaftler aus der ganzen Welt eingeladen, um unter sich über die Zukunft zu sprechen. John Gage, Manager der boomenden Computerfirma Sun Microsystems, die Java entwickelt hat, soll gesagt haben: "Wir stellen unsere Leute per Computer ein, sie arbeiten am Computer, und sie werden auch per Computer gefeuert." Auf die Frage, wieviele Leute er wirklich brauche, antwortete er: "Sechs, vielleicht acht. Ohne sie wären wir aufgeschmissen. Dabei ist es völlig gleichgültig, wo sie auf der Erde wohnen." Gegenwärtig arbeiten 16000 Angestellte für Sun, aber sie seien bis auf kleine Minderheit "Rationalisierungsreserve". Für die Zukunft hatten die Teilnehmer der Tagung eine zynische Vision: 20 zu 80 und tittytainment. In ihrem Buch führen Martin und Schumann mit vielen Belegen und in der flüssigen SPIEGEL-Schreibe diese Vision vor und zeigen, wie sie allmählich Wirklichkeit wird.
Noch immer ziehen zwar warnende Propheten umher und verkünden den Eintritt der Zweidrittelgesellschaft. Aber die scheint für Martin und Schumann gemäß den Vorhersagen der Mächtigen nur noch eine Erinnerung an bald ferne Tage zu sein. Sie prognostizieren, wenn die Entwicklung so wie bisher weitergeht, eine Gesellschaft, in der nur noch 20% der arbeitsfähigen Bevölkerung die notwendigen Güter und Dienstleistungen für den Weltmarkt herstellen. Der überwältigende Rest, wozu auch viele Angehörige der heute noch gut verdienenden Mittelschicht zählen, ist dank der riesigen Rationalisierungspotentiale der neuen Techniken zur Arbeitslosigkeit verdammt, hat nicht mehr Teil an der Informationsgesellschaft, wird bestenfalls durch "tittytainment", also durch Versorgung mit Unterhaltungsspektakeln, ruhig gestellt oder ist der Verarmung preisgegeben. Bereits jetzt sind die wohlhabendsten 400 Menschen so reich wie eine Hälfte der Menschheit. Die oberen 20%, die Angehörigen der virtuellen Klasse, verbunkern sich in ihren Arbeits-, Wohn-, Konsum- und Freizeitenklaven, während der Rest der Gleichgültigkeit preisgegeben ist.
Im Steuerwettbewerb sinkt die Quote für die Unternehmen nicht nur in einzelnen Ländern, sondern weltweit. Das Imperium Siemens führte noch 1991 fast die Hälfte des Gewinns an die 180 Staaten ab, in denen es Filialen unterhält. Binnen vier Jahre schrumpfte diese Quote auf nur noch 20 Prozent.
Martin/Schumann
Das ist nicht nur eine Folge der globalen Ökonomie mit ihren transnationalen Unternehmen und ortlosen Finanzströmen, die sich mehr im Cyberspace ansiedelt, sondern auch der Politik, die meint, sie könne nur durch den Abbau des Sozialstaates, durch die Deregulierung aller Märkte und insgesamt durch Rückzug des Staates - und damit auch der Begrenzung der Demokratie - den jeweiligen Standort wahren, für den sie zuständig ist. "Im festen Glauben an die Standortrhetorik der Marktradikalen", so die Autoren, "überzieht die Bundesregierung ihr Land mit einem Sparprogramm, das mehr Schaden stiftet als Nutzen."
Politik ist an Territorien gebunden, während Kapital ebenso wie Arbeit und der Fluß der Daten ortlos geworden sind. Die traditionelle Macht der Staaten, den sozialen Frieden durch Erhebung von Steuern und Umverteilung des Reichtums zu sichern, greift tatsächlich mehr und mehr ins Leere. Obgleich viele Unternehmen höhere Umsätze und Gewinne einfahren, werden fortlaufend Arbeitsplätze eingespart und immer weniger Steuern bezahlt. Gewerkschaften verlieren ihre Kraft, Arbeiter und Angestellte konkurrieren auf dem Weltmarkt, möglicherweise finden neben den selbständigen Tele-Heimarbeitern viele noch eine Arbeit als eine Art Taglöhner.
Wer sich den Bedingungen der Ökonomie nicht fügt, wird einfach übergangen. Nicht nur die Menschen, auch Staaten und Regionen sind zu Geißeln der transnationalen ökonomischen Macht geworden, werden gegenseitig ausgespielt und haben sich, wie es scheint, derzeit der Erpressung ergeben, die vom neoliberalistischen Kapitalismus und seinen Agenten ausgeht. An ihn scheint gegenwärtig die Informationsgesellschaft gebunden zu sein. Er ist ihre gründerzeitliche Ideologie, der sich kaum jemand zu widersetzen wagt. Sie ist das Weltbild, mit dem die "Revolte der Eliten" betrieben wird. Mehr und mehr Wähler holt diese Stimmung ein. In einer Umfrage der ZEIT glaubten bereits 50% der Befragten, daß die Politiker keine Steuerungsmacht mehr hätten. Die Apathie wächst, noch ist es in den alten und relativ wohlhabenden Industriegesellschaften ruhig. Jeder duckt sich und hofft, daß er es noch schaffen wird. Aber der Frieden ist brüchig.
Neben der zunehmenden Verarmung, durch die die Dritte Welt in die reichen Industriegesellschaften eingeführt wird und die zu einer Brasilianisierung der Verhältnisse führen könnte, nehmen die ökologische Probleme weiter zu, kommt es trotz oder wegen der Globalisierung zu einer Zersplitterung der Welt. Die reichen Inseln wollen sich vor der Überflutung schützen oder sich absetzen von ärmeren Regionen, aber auch die von der Informationsgesellschaft Ausgeschlossenen werden angezogen von rechten, ausländerfeindlichen und fundamentalistischen Parteien und rotten sich zu ethnisch oder religiös homogenen Gemeinschaften zusammen und stürzen sich in kriegerische Auseinandersetzungen, deren Brutalität in Jugoslawien, Afghanistan, Somalia oder Liberia deutlich wurde. Ökonomisch wird die Welt eins, gesellschaftlich zerfällt sie.
Kürzlich sagte John Perry Barlow, daß die Freiheit im Cyberspace unbedingt sein solle - das schließt die der Wirtschaft. Als Vertreter der Cyberkultur vermischen sich bei ihm prototypisch Bürgerrechte mit einer kapitalistischen Freiheit und einem anti-staatlichen Affekt. Der Staat habe als wichtigste Aufgabe, in der wirklichen Welt den Körper - und vermutlich das Eigentum - durch die Polizei zu schützen. Nur reichen auch hierfür seine Mittel nicht mehr aus, weswegen die Eliten sich ihre eigene Privatpolizei schaffen. In den USA geben die Eliten für privat finanzierte Wachdienste doppelt soviel Geld aus wie der Staat für die Polizei.
Die Krise der politischen Macht wird von den Angehörigen der Cyberkultur noch begrüßt, vielleicht weil sie meinen, der Elite anzugehören und nicht wirklich bedroht zu sein, doch kann ihr Verfall zu blutigen Auseinandersetzung führen und vor allem die Demokratie noch weiter lähmen, als dies bereits jetzt der Fall ist. "Die Rückgewinnung der politischen Handlungsfähigkeit, die Wiederherstellung des Primats der Politik über die Wirtschaft ist die zentrale Zukunftsaufgabe", schreiben die Autoren und kritisieren die EU, die immer mehr zu einem "Markt ohne Staat" zu werden droht und die demokratische Einigung aus Angst nicht vollzieht. Man glaubt wie einst, daß der freie Markt schon alles von selber regelt. In Wirklichkeit gewinnen dabei nur die Stärksten und Mächtigsten.
Martin und Schumann versuchen dem amerikanischen Modell des Kapitalismus mit seinem Primat der Wirtschaft und seiner Zerstörung des Sozialstaates ein europäisches Modell entgegenzusetzen. Einzelne Länder können der "Globalisierungsfalle" nicht mehr entgehen, aber wenn die EU mit ihrem großen Binnenmarkt und einer gemeinsamen Währung auch die demokratische Gesetzgebung stärkt, könnte sie wieder die Grundlagen für eine "soziale Solidarität" schaffen. Besteuerung müßte auf der europäischen Ebene geschehen, um die interne Konkurrenz der Länder und Regionen zu entschärfen. Unbedingt nötig seien europäisch agierende Gewerkschaften, die die Macht der Unternehmenslobby in Brüssel kompensieren. Den volkswirtschaftlichen Schaden durch Finanzspekulationen könnte man durch entsprechende Umsatzsteuern auf den Devisenhandel mildern. Deregulierung sollte solange aufgeschoben werden, bis sicher ist, daß dadurch im Gesamten keine Arbeitsplätze verlorengehen. Eine europaweite ökologische Steuerreform würde den Ressourcenverbrauch einschränken, den Wert der Arbeit erhöhen und die Sozialabgaben auf das Einkommen mindern. Zudem solle man eine europäische Luxussteuer auf all das einführen, "was den Reichen Spaß macht", und Sanktionen gegenüber jenen Ländern verhängen, die soziale und ökologische Mindeststandards für die eigene Bevölkerung nicht gewährleisten.
Schon an dieser kurzen Auflistung fällt auf, daß wenig davon geschehen wird. Die immer noch territorial gebundene, nicht global handlungsfähige Politik hat an Macht verloren - sofern sie diese jemals in Demokratien, abgesehen von kurzen Zeiten des Wohlstands, besessen hat. Und selbst wenn Europa sich stark macht und eine derartige Kehrtwendung vollzieht, ist keineswegs sicher, daß es der Globalisierungsfalle entgeht, zumal es wirtschaftlich sowieso angeschlagen ist. Ob es Europa, die Alte Welt, wirklich besser kann, sei dahingestellt. Viel wichtiger ist, daß die beiden Autoren es geschafft haben, in ihrem Buch eine schonungslose und einleuchtende Analyse und Kritik der sich durchsetzenden Informationsgesellschaft vorzustellen. Erst einmal muß man sich von der erdrückenden Macht der neoliberalistischen Ideologie lösen, um Ideen über eine andere Orientierung und Steuerung diskutieren zu können, die dann überzeugend und anziehend genug sind, um sie in eine demokratische Politik des Gemeinwohls und des ökologischen Umbaus der Wirtschaft umzusetzen, um vielleicht ein praktikables europäisches Modell zu entwickeln und vorzuleben, das sich auf der Welt auszubreiten vermag - bevor sie durch blutige soziale Kämpfe erschüttert, ökologisch ruiniert und von Fundamentalismen verbaut wird.
Hans-Peter Martin/Harald Schumann: Die Globalisierungsfalle. Der Angriff auf Demokratie und Wohlstand. Rowohlt Verlag 1996. DM 38,00.-